AUS:   DER SPIEGEL 20/1999
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Die Ära nach Adenauer
 
"Bürger, laßt das Gaffen sein!"

Die Apo und die Große Koalition / Von Hans Halter

 

Zwanzig Jahre nach Ende des Weltkriegs, 1965, ändert sich die Stimmung im Wirtschaftswunderland. Die akademische Jugend wird unruhig, ruft nach Reformen, träumt von der Revolution. Von 1966 an hält in Bonn eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD den Deckel auf dem brodelnden Topf. Im Frühjahr 1968 entlädt sich die Wut der "außerparlamentarischen Opposition" (Apo) in blutigen "Osterunruhen". So wurde 1968 zum mythischen Jahr der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wer damals rebellierte ­ und sei es nur ein bißchen ­, fühlt sich seither als "68er", darunter Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein grüner Außenminister Joschka Fischer, 1968 Straßenkämpfer und Steinewerfer.

Anfang der sechziger Jahre gab es in der deutschen Bundesrepublik rund 3000 Professoren. Zu feierlichen Anlässen kleideten sie sich in ihre Amtstracht, den Talar. Der war schwarz, violett oder dunkelgrün, bodenlang und bestickt, hatte Paspeln und Biesen, oft einen Hermelinkragen, wie ihn einst die Majestäten getragen haben. Konsequenterweise sprach der Student den Dekan seiner Fakultät mit "Spectabilis" (lateinisch "prächtig"), den Rektor mit "Magnifizenz", der "Großartige", an.

Manche Professoren hatten sich große Verdienste um die Juristerei, das Alte Testament oder den Nationalsozialismus erworben. Fast alle im Land gebliebenen waren während des tausendjährigen Reichs mit ruhig-festem Schritt mit dem Führer marschiert, zumindest im Geiste. Die "Alma mater", die "nährende Mutter", wie sie ihren Arbeitgeber Universität gern nannten, schenkte ihnen den Beamtenstatus auf Lebenszeit, das höchste Sozialprestige und die Erlaubnis zu profitablen Nebentätigkeiten.

Der Japanologe Hans Eckardt vertrat, als einziger, das Fach an der Freien Universität Berlin ­ doch er lehrte selten und prüfte fast nie, weil er aus dem Zyklus von Rausch und Kater nicht herausfand. Als ihre Hilferufe erfolglos wurden, besetzten die Japanologie-Studenten, um endlich die Öffentlichkeit zu alarmieren, das Institut.

Das Geschrei war groß. Hausbesetzungen galten seinerzeit nicht als Regelverstoß, sondern als erstes Gefecht im Bürgerkrieg. Zwar waren den Studenten nach 1945 bescheidene Mitbestimmungsrechte gewährt worden, doch immer noch hielt sich "unter den Talaren Muff von tausend Jahren". Den flotten Spruch präsentierten zwei Hamburger Jurastudenten im November 1967, als sich die Vertreter ihrer Alma mater wieder mal in Ornaten, Halskrausen und Hermelin zeigten. Der ordentliche Professor für Islamkunde Bertold Spuler, ein früherer SA-Mann, rief den Protestierern seinen Lösungsvorschlag zu: "Sie gehören alle ins Konzentrationslager!"

Flotte Sprüche hatten damals Konjunktur. Sie komprimierten Wunsch und Wirklichkeit, stimulierten die Revolte. Als harter Kern der "Generation der Unrast" (Willy Brandt) profilierten sich die Mitglieder des "Sozialistischen Deutschen Studentenbundes" (SDS). Hauptstadt der Revolte war West-Berlin. Die Studenten der Freien Universität galten als besonders engagiert. Mit immer neuen Kampagnen suchten sie verkrustete Strukturen aufzubrechen.

"Radikal" wollte man schon gern sein, zur Wurzel (lateinisch "radix") allen Übels vorstoßen. "Minderheit" hingegen galt nur als Zwischenstadium auf dem Weg zur Mehrheit. Einig war sich die radikale Minderheit in den privaten Lebenszielen: Man wollte in den Öffentlichen Dienst, Berufspolitiker werden oder Lehrer, Hochschullehrer, wenn möglich. Die beiden studentischen Talar-Muff-Reimschüttler haben das geschafft, und viele andere auch: 3000 Professoren gab es 1960 in der Bundesrepublik und West-Berlin ­ rund 38 000 zählt derzeit das vereinigte Deutschland.

Freiwillig mochten "die Herrschenden", also das "Establishment", weder Platz machen noch sich zu radikalen Ideen, gar Taten aufraffen. Man war, nach der Katastrophe des verlorenen Weltkriegs, sehr zufrieden mit dem Erreichten. Und fest entschlossen, das, was noch fehlte ­ weitere Aufrüstung und die "Notstandsgesetze" ­, durchzusetzen gegen die "radikale Minderheit", diese "Schreihälse" und "Kommunisten".

Das waren Jugendliche, Studenten, die an ihren Nazi-Vätern und an sich selbst litten, die irrationale Autoritäten, zahllose Tabus und den Opportunismus der Politik ertragen mußten.

Deren "außerparlamentarische Opposition" hatte weder Vorstand noch Struktur, kein Haus und kein Konto. Ihr Herz war der SDS, und ihre große Zeit verdankte sie dem Establishment. Nach 14 Jahren einer Regierung des zuletzt 87jährigen Kanzlers Konrad Adenauer rutschte die westdeutsche Republik in ihre erste Krise.

Ludwig Erhard, der "Vater des Wirtschaftswunders", wurde 1963 neuer Bundeskanzler. Doch der dicke Zigarrenraucher hatte kein geschicktes Händchen. Gegen die leichte Wirtschaftsrezession (1966: 154 000 Arbeitslose) und das Vier-Milliarden-Loch im Bundeshaushalt empfahl er immer nur "Maßhalten". So scheiterte Erhard auf seinem eigenen Feld. Das freute vor allem die SPD. Angesichts dieser damals als Notlage angesehenen Verhältnisse ging die SPD am 1. Dezember 1966 als Juniorpartner mit der CDU/CSU die "Große Koalition" ein; die verfügte im Bundestag über mehr als 90 Prozent der Stimmen.

Aus der Sicht der Apo war die neugebildete Regierung ein Gruselkabinett, das alle Vorurteile gegen das Establishment bestätigte. Der Kanzler, Kurt Georg Kiesinger aus Baden-Württemberg, war NSDAP-Mitglied und im Reichspropagandaministerium von Goebbels tätig gewesen; die Amerikaner sperrten ihn dafür nach 1945 für 18 Monate ein. Auch der CSU-Landwirtschaftsminister Hermann Höcherl war schon 1931 Hitlers Parteigenosse (Pg).

Die SPD akzeptierte den Pg Gerhard Schröder (CDU) als Verteidigungsminister, brachte ihren eigenen Pg Karl Schiller als Wirtschaftsminister durch und akzeptierte Franz Josef Strauß, den rabiaten bayerischen CSU-Chef, als Finanzminister. Willy Brandt, der Emigrant, wurde Außenminister. Seine Söhne gehörten zur Apo.

Daß die Herrschenden die deutsche Hochschulmisere nicht für das erstrangige Problem hielten, daß sie die Reformen verschleppten und verwässerten, sah der Student noch ein. Auf ein Studienjahr mehr oder weniger kam es ihm nicht an, solange Leben in der Bude war. Daß die "Große Koalition" aber taub gegenüber den Rufen nach "Demokratisierung" war, daß sie die "Repression" der Aufsässigen perfektionierte (Hochrüstung von Polizei, Notstandsgesetze), daß sie viele Tabus der Adenauer-Zeit konservierte und Nazis nicht zur Rechenschaft zog, das war schwerer hinzunehmen. Der entscheidende Konfliktpunkt lag weit jenseits der Grenzen: Vietnam.

Dort wurde ein unerklärter Krieg geführt, ein "imperialistischer Krieg" gegen den "Sozialismus", ein besonders schmutziger Krieg mit Verbrechen ohne Zahl. Die USA, Deutschlands Hegemonialmacht, verteidigten angeblich die "freie Welt" durch Flächenbombardements und Napalm, auch durch Mord an zahllosen Menschen. Bonn stand dem Verbündeten bei; die Studenten aber skandierten auf den Straßen: "USA, SA, SS!" und "Ho-Ho-Ho-Tschi-minh".

KP-Chef Ho Tschi-minh führte die Vietnamesen gegen die Weltmacht. Unwahrscheinlich, daß je ein Apo-Mensch den alten, zerknitterten Guerrillero zu Gesicht bekommen hat.

Die Sehnsucht nach einem integren Erwachsenen, arm, tapfer und siegreich, war jedoch groß. So kamen erst der Asiate, später Ché Guevara aus Kuba, am Ende Karl Marx aus Trier zur Ehre der Altäre. Ihre Bilder wurden wie Monstranzen bei Demos mitgeführt.

Der SDS und sein Vordenker Rudi Dutschke, Soziologiestudent an der FU Berlin, sahen im Vietnamkrieg einen letzten Beweis für die menschenverachtende Natur des Kapitalismus. Der müsse überwunden werden, sonst hätten Elend und Ausbeutung auf Erden nie ein Ende. Ganz ohne Nachdruck und notfalls Gewalt werde das nicht gehen. "Es lebe die Weltrevolution!" rief Dutschke im Februar 1968 gut 20 000 Kombattanten des Berliner "Vietnamkongresses" zu. Es lebe "die freie Gesellschaft freier Individuen"!

Jede Revolution, zumal die Weltrevolution, braucht Menschen. Die soziologischen Kenner nannten sie seinerzeit das "revolutionäre Subjekt". Bei jeder Demonstration gingen deshalb Aktivisten die Scharen untätiger Zuschauer mit Sprechchören an: "Bürger, laßt das Gaffen sein, / kommt herunter, reiht Euch ein! / Laßt den Kuchen, laßt die Sahne, / kommt und folgt der roten Fahne!"

Schon der ironische Text der Einladung weckte Zweifel am Ernst der Aufforderung. So wurde auch nicht zur Regel, daß jemand vom Balkon auf die Straße wechselte. Bei Apo-Umzügen zum 1. Mai warfen die Gaffer in den Arbeitervierteln Berlins statt dessen hin und wieder einen Blumentopf.

"Die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft", analysierte Dutschke die Lage, "können die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht adäquat erkennen." Der temperamentvolle Studentenführer war der Tribun der Apo und ihr Opfer, ein Bürgerschreck und zugleich gottesfürchtig, er hoffte unverdrossen auf den aufklärerischen Aha-Effekt antiautoritärer Aktionen.

Dutschkes Alt-Guru Herbert Marcuse, ein exilierter Denker der "Kritischen Theorie", war schon weiter: "Es gibt in der Tat weite Schichten der Bevölkerung", erklärte der 70jährige Gelehrte 1967 den Berliner Studenten und trank dabei ganz gelassen eine Flasche Mosel leer, "mit denen eine Diskussion hoffnungslos ist."

Als "revolutionäres Subjekt" blieben also nur die Studenten übrig, ferner Randgruppen und die Bevölkerung der Dritten Welt. Die Apo-Studiosi und Jungakademiker glaubten, als Stellvertreter für das Proletariat handeln zu müssen. Diese Pflicht leiteten sie aus der Lektüre der "Klassiker" her, womit vor allem Marx und Lenin gemeint waren. Lesen galt als revolutionäre Tat. Mancher Streiter schleppte bei Demonstrationen eine Aktentasche voller Bücher mit. Im Fall einer Verhaftung wollte er in der Zelle sofort weiterlesen.

Der Apo liefen aber nicht nur die jungen Menschen zu, die am Unrecht litten und deshalb die Welt verbessern wollten; es kamen auch alle, denen das Leben ein Fest war, etwa die Freunde der Cannabispflanze ("Haschpuppies").

Der große russische Anarchist Michael Bakunin hatte gelehrt, daß die "Freude an der Zerstörung eine schöpferische Freude" sei. Hundert Jahre später kaprizierte sich die Jugend auf die sexuellen Freuden.

Die Rahmenbedingungen besserten sich in den sechziger Jahren rasch: Die Anti-babypille nahm die Angst vor unerwünschter Schwangerschaft; mit dem heftigen Sturm auf die Tabus fiel auch das Jungfräulichkeitsideal; Untermieter durften Damenbesuch empfangen; nach und nach stellte die Justiz die Verfolgung von Kupplern, Homosexuellen und Barbusigen ein.

Für das Publikum war das wichtigste Apo-Ziel, die Repression des Sexuellen zu beseitigen. Die Situation im Adenauer-Staat war allzu bigott gewesen: Alles, ausgenommen der eheliche Geschlechtsverkehr, war verboten oder vom Sittengesetz mißbilligt, einerseits. Andererseits wurde natürlich das andere auch praktiziert, gegen Geld und gute Worte, blieb aber riskant, bot Anlaß zu Strafverfolgung Unliebsamer und machte ein schlechtes Gewissen. Das wiederum, so analysierten die Studenten, sollte die Jungen, Armen und Entrechteten gefügig halten, ein repressiver Mechanismus zugunsten des Establishments und der Kirchen.

Die sexuellen Versagungen innerhalb der bürgerlichen Familie nahm die "Kommune 1" (kurz: "K 1") mit Hingabe aufs Korn. K 1 war ein Zusammenschluß Berliner SDS-Studenten, fünf Männer, zwei Frauen. Sie lebten in einer großen Altbauwohnung und wollten alles teilen: Sorgen, Politengagement, Geld und Liebe. Das erwies sich als schwierig, vor allem bei der Liebe.

Auf der Suche nach Linderungsmitteln für den Streß, die Enttäuschungen und die unlösbaren Aufgaben reichten die Ablenkungen, die das Apo-Leben bereithielt, bald nicht mehr aus.

LSD (aus der Schweiz) und Haschisch (aus Marokko) halfen weiter. Die ernsthaften Revolutionäre wie Dutschke tranken und rauchten nicht, warfen auch keine Trips ein. Die anderen, die Mehrheit, hielten es mit den kleinen Helfern ­ nach der Devise: "Am Morgen ein Joint, und der Tag ist dein Freund".

Die "Kinder von Marx und Coca-Cola" sollten, darin waren sich die Großen Koalitionäre Kiesinger, Brandt und Strauß durchaus einig, zur Räson gebracht werden. Nur die Mittel waren strittig. Durfte es ein bißchen mehr (Staats-)Gewalt sein oder doch lieber ein Reförmchen?

Das Leben nahm den Politikern die Entscheidung aus der Hand. Während die Apo ausdauernd über das ethische Problem der Gewalt gegen Sachen und/oder Personen diskutierte, zogen zwei Männer ihre Pistolen: Am 2. Juni 1967 erschoß der staatstreue Berliner Kriminalbeamte Karl-Heinz Kurras den 26jährigen Benno Ohnesorg. Der Germanistikstudent hatte gegen den Schah protestiert; Gewalt ging nicht von ihm aus.

Ein Dreivierteljahr später, Gründonnerstag 1968, trafen drei Kugeln Dutschke. Der Schütze war ein junger nationalistischer Hilfsarbeiter, der Deutschland retten wollte. Dutschke starb nach elf Jahren an den Spätfolgen des Attentats.

Die Schüsse veränderten die Republik. Es kam zu blutigen "Osterunruhen", die in München zwei weitere Menschen das Leben kosteten. Hunderte wurden teils schwer verletzt. Die Apo war erledigt.

In Bonn verabschiedete der Deutsche Bundestag die Notstandsgesetze. Im Schoß der Geschichte keimte schon ein neuer Spruch: "Kommt Zeit, kommt RAF".

 

 

Hans Halter, 61, ist SPIEGEL-Redakteur.