George Marshall am 5.6.47 zum ERP

 

Die (europäischen) Regierungen (sind) gezwungen, ihre Devisen und Kredite zur Beschaffung dieser Notwendigkeiten zu verwenden. Dieser Prozess erschöpft die Fonds, welche für den Wiederaufbau dringend benötigt werden. So entwickelt sich rasch eine sehr ersten Situation, welche der Welt schädlich ist. Das moderne System der Arbeitsteilung, auf dem Austausch von Produkten basierend, droht zusammenzubrechen. Die Wahrheit ist es, dass die Bedürfnisse Europas für die nächsten drei oder vier Jahre an ausländischen Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Produkten, in der Hauptsache aus Amerika, um vieles größer sind, als die gegenwärtige Fährigkeit Europas, dafür zu bezahlen. Europa muss deshalb eine wesentliche zusätzliche Hilfe erhalten oder einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verelendung schwersten Charakters entgegengehen. Das Hilfsmittel besteht darin, den gefährlichen Kreislauf zu unterbrechen und das Vertrauen der europäischen Völker in die wirtschaftliche Zukunft ihrer Länder und Europas als Ganzem wiederherzustellen. Der Fabrikant und der Landwirt muss wieder fähig und willens sein, die Produkte gegen eine Währung auszutauschen, deren Wert nicht ständig in Frage gestellt ist. Auch abgesehen von dem demoralisierenden Effekt auf die Welt als Ganzes und den Möglichkeiten von Unruhen, die aus der Verzweiflung der betreffenden Völker entstehen können, würden die Konsequenzen der geschilderten Entwicklung für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten eindeutig sein. Es ist daher logisch, dass die Vereinigten Staaten alles mögliche tun sollten, um die Wiederkehr normaler, gesunder wirtschaftlicher Verhältnisse in der Welt herbeizuführen, ohne welche eine politische Stabilität und ein gesicherter Friede nicht bestehen können. Unsere Politik ist nicht gegen irgendein Land oder eine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung  und Chaos gerichtet. Ihr Zweck soll es sein, die Weltwirtschaft wiederherzustellen, um das Entstehen politischer und sozialer Verhältnisse zu ermöglichen, unter welchen freie Institutionen existieren können. Eine solche Hilfe darf nach meiner Überzeugung nicht in kleinen Portionen erfolgen, so wie sich die Krise entwickelt. Eine Hilfe, die die Regierung gewähren soll, müsste eine wirkliche Kur und nicht ein Vorbeugungsmittel darstellen. Jede Regierung, die willens ist, bei der Aufgabe des Wiederaufbaues mitzuwirken, wird, dessen bin ich sicher, seitens der Regierung der Vereinigten Staaten volle Unterstützung erfahren. Eine Regierung, welche den Wiederaufbau anderer Länder zu verhindern sucht, kann keine Hilfe von uns erwarten. Regierungen, politische Parteien oder Gruppen, welche bestrebt sind, das menschliche Elend zu verewigen, um daraus politisch oder in anderer Weise zu profitieren, werden auf den Widerstand der Vereinigten Staaten stoßen. Es ist klar, dass, bevor die Regierung der Vereinigten Staaten in ihren Bemühungen, die Situation zu erleichtern und beim europäischen Wiederaufbau zu helfen, weiter fortschreiten kann, eine Vereinbarung zwischen den Völkern Europas geschlossen werden muss bezüglich der Erfordernisse der Lage und des Anteils, den diese Länder selbst übernehmen wollen, um eine eventuelle Aktion der amerikanischen Regierung wirksam zu gestalten. Es wäre für die amerikanische Regierung weder passend noch wirksam, einseitig ein Programm zu entwerfen, das bestimmt, wie Europa wirtschaftlich wieder auf die Füße gestellt werden kann. (...)

 

(in: Geschichte in Quellen - Die Welt seit 1945 -, bearbeitet von Helmut Krause und Karlheinz Reif, Bayerischer Schulbuch-Verlag, München 1980, S. 370)

 

Aufgaben:

1.     Von welchem gefährlichem Kreislauf spricht Marshall?

2.     Wie ist der folgende Satz zu verstehen: „Eine Regierung, welche den Wiederaufbau anderer Länder zu verhindern sucht, kann keine Hilfe von uns erwarten. Regierungen, politische Parteien oder Gruppen, welche bestrebt sind, das menschliche Elend zu verewigen, um daraus politisch oder in anderer Weise zu profitieren, werden auf den Widerstand der Vereinigten Staaten stoßen.“