Die
Woche hat einen Dienstag.
Das
Jahr ein halbes Hundert.
Der
Krieg hat viele Dienstage.
An
diesem Dienstag
übten
sie in der Schule die großen Buchstaben. Die Lehrerin hatte eine Brille
mit dicken Gläsern. Die hatten keinen Rand. Sie waren so dick, daß die
Augen ganz leise aussahen.
Zweiundvierzig
Mädchen saßen vor der schwarzen Tafel und schrieben mit großen
Buchstaben:
DER
ALTE FRITZ (1) HATTE EINEN TRINKBECHER AUS BLECH. DIE DICKE BERTA (2)
SCHOSS BIS PARIS. IM KRIEGE SIND ALLE VÄTER SOLDAT.
Ulla
kam mit der Zungenspitze bis an die Nase. Da stieß die Lehrerin sie an.
Du hast Krieg mit ch geschrieben, Ulla. Krieg wird mit g geschrieben. G
wie Grube. Wie oft habe ich das schon gesagt. Die Lehrerin nahm ein Buch
und machte einen Haken hinter Ullas Namen. Zu morgen schreibst du den Satz
zehnmal ab, schön sauber, verstehst du? Ja, sagte Ulla und dachte: Die
mit ihrer Brille.
Auf
dem Schulhof fraßen die Nebelkrähen das weggeworfene Brot.
An
diesem Dienstag
wurde
Leutnant Ehlers zum Bataillonskommandeur befohlen.
Sie
müssen den roten Schal abnehmen, Herr Ehlers.
Herr
Major?
Doch,
Ehlers. In der Zweiten ist sowas nicht beliebt.
Ich
komme in die zweite Kompanie?
Ja,
und die lieben sowas nicht. Da kommen Sie nicht mit durch. Die Zweite ist
an das Korrekte gewöhnt. Mit dem roten Schal läßt die Kompanie Sie
glatt stehen. Hauptmann Hesse trug sowas nicht.
Ist
Hesse verwundet?
Nee,
er hat sich krank gemeldet. Fühlte sich nicht gut, sagte er. Seit er
Hauptmann ist, ist er ein bißchen flau geworden, der Hesse. Versteh ich
nicht. War sonst immer so korrekt. Na ja, Ehlers, sehen Sie zu, daß Sie
mit der Kompanie fertig werden. Hesse hat die Leute gut erzogen. Und den
Schal nehmen Sie ab, klar?
Türlich,
Herr Major.
Und
passen Sie auf, daß die Leute mit den Zigaretten vorsichtig sind. Da muß
ja jedem anständigen Scharfschützen der Zeigefinger jucken, wenn er
diese Glühwürmchen herumschwirren sieht. Vorige Wochen hatten wir fünf
Kopfschüsse. Also passen Sie ein bißchen auf, ja?
Jawohl,
Herr Major.
Auf
dem Weg zur zweiten Kompanie nahm Leutnant Ehlers den roten Schal ab. Er
steckte eine Zigarette an. Kompanieführer Ehlers, sagte er laut.
Da
schoß es.
An
diesem Dienstag
sagte
Herr Hansen zu Fräulein Severin:
Wir
müssen dem Hesse auch mal wieder was schicken, Severinchen. Was zu
rauchen, was zu knabbern. Ein bißchen Literatur. Ein Paar Handschuhe oder
sowas. Die Jungens haben einen verdammt schlechten Winter draußen. Ich
kenne das. Vielen Dank.
Hölderlin
vielleicht, Herr Hansen?
Unsinn,
Severinchen, Unsinn. Nein, ruhig ein bißchen freundlicher. Wilhelm Busch
oder so. Hesse war doch mehr für das Leichte. Lacht doch gern, das wissen
Sie doch. Mein Gott, Severinchen, was kann dieser Hesse lachen!
Ja,
das kann er, sagte Fräulein Severin.
An
diesem Dienstag
trugen
Sie Hauptmann Hesse auf einer Bahre in die Entlausungsanstalt. An der Tür
war ein Schild:
OB
GENERAL, OB GRENADIER:
DIE
HAARE BLEIBEN HIER.
Er
wurde geschoren. Der Sanitäter hatte lange dünne Finger. Wie
Spinnenbeine. An den Knöcheln waren sie etwas gerötet. Sie rieben ihn
mit etwas ab, das roch nach Apotheke. Dann fühlten die Spinnenbeine nach
seinem Puls und schrieben in ein dickes Buch: Temperatur 41,6. Puls 116.
Ohne Besinnung. Fleckfieberverdacht. Der Sanitäter machte das dicke Buch
zu. Seuchenlazarett Smolensk (3) stand da drauf. Und darunter:
Vierzehnhundert Betten.
Die
Träger nahmen die Bahre hoch. Auf der Treppe pendelte sein Kopf aus den
Decken heraus und immer hin und her bei jeder Stufe. Und kurzgeschoren.
Und dabei hatte er immer über die Russen gelacht. Der eine Träger hatte
Schnupfen.
An
diesem Dienstag
klingelte
Frau Hesse bei ihrer Nachbarin. Als die Tür aufging, wedelte sie mit dem
Brief. Er ist Hauptmann geworden. Hauptmann und Kompaniechef, schreibt er.
Und sie haben über 40 Grad Kälte. Neun Tage hat der Brief gedauert. An
Frau Hauptmann Hesse hat er oben drauf geschrieben.
Sie
hielt den Brief hoch. Aber die Nachbarin sah nicht hin. 40 Grad Kälte,
sagte sie, die armen Jungs. 40 Grad Kälte.
An
diesem Dienstag
fragte
der Oberfeldarzt den Chefarzt des Seuchenlazaretts Smolensk: Wieviel sind
es jeden Tag?
Ein
halbes Dutzend.
Scheußlich,
sagte der Oberfeldarzt.
Ja,
scheußlich, sagte der Chefarzt.
Dabei
sahen sie sich nicht an.
An
diesem Dienstag
spielten
sie die Zauberflöte (4). Frau Hesse hatte sich die Lippen rot gemacht.
An
diesem Dienstag
schrieb
Schwester Elisabeth an ihre Eltern: Ohne Gott hält man das gar nicht
durch. Aber als der Unterarzt kam, stand sie auf. Er ging so krumm, als
trüge er ganz Rußland durch den Saal.
Soll
ich ihm noch was geben? fragte die Schwester.
Nein,
sagte der Unterarzt. Er sagte das so leise, als ob er sich schämte.
Dann
trugen sie Hauptmann Hesse hinaus. Draußen polterte es. Die bumsen immer
so. Warum können sie die Toten nicht langsam hinlegen. Jedesmal lassen
sie sie so auf die Erde bumsen. Das sagte einer. Und sein Nachbar sang
leise:
Zicke
zacke juppheidi
Schneidig
ist die Infanterie.
Der
Unterarzt ging von Bett zu Bett. Jeden Tag. Tag und Nacht. Tagelang.
Nächte durch. Krumm ging er. Er trug ganz Rußland durch den Saal.
Draußen stolperten zwei Krankenträger mit einer leeren Bahre davon.
Nummer 4, sagte der eine. Er hatte Schnupfen.
An
diesem Dienstag
saß
Ulla abends und malte in ihr Schreibheft mit großen Buchstaben:
IM
KRIEG SIND ALLE VÄTER SOLDAT.
IM
KRIEG SIND ALLE VÄTER SOLDAT.
Zehnmal
schrieb sie das. Mit großen Buchstaben. Und Krieg mit G. Wie Grube.
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(1)
Der "Alte Fritz": Beinamen des Preußenkönigs Friedrich
II. (1740-1786)
(2)
Dicke Berta: Name eines Geschützes
(3)
Smolensk: russische Stadt westlich von Moskau
(4)
Zauberflöte: 1791 uraufgeführte Oper von W.A. Mozart
(Wolfgang
Borchert, An diesem Dienstag, in Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, hrsg.
von B. Meyer-Marwitz, Rowohlt Verlag, Hamburg 1949/1984, S. 191-194)
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