|
Es gibt heute in der Bundesrepublik
Deutschland keine lebendige Bismarck-Tradition. Für Studenten ist der
Mann des 19. Jahrhunderts weit weg wie Karl V. Kennzeichnend für die
Unbekanntheit von Bismarcks Kleindeutschland mit preußischer Prägung wie
für die Unkenntnis des 19. Jahrhunderts insgesamt sind auch Ängste, die
in Deutschland bei der Wiedervereinigung 1989/91 geäußert wurden: So
phantasierte man damals viel von Gefahren, die ein wiederkehrendes
"Großdeutschland" mit sich bringen würde.
Jetzt haben wir ein Bismarck-Jahr; es gilt, den 100. Todestag zu
würdigen. Früher wäre das Grund für öffentliche Feiern großen Stils
mit harten Kontroversen gewesen. Die Hauptrede hätte der konservative
Historiker Arnold Oskar Meyer gehalten und uns erzählt, wie der
deutsche Heros Bismarck im Sinne Hegels das Gesetz der Geschichte -
preußisch-deutsch eingefärbt - selber erfüllt habe, wie er das, was der
Volksgeist wollte, zur Wirklichkeit gemacht habe, und wie eine große
Persönlichkeit allen Feinden zum Trotz an Abgründen vorbeijongliert und
Ewigkeitswerte geschaffen habe. Das Fest müsse folglich unter dem Motto
stehen: "Was er (Bismarck) für sein Volk getan hat, ist mehr, als
irgend ein Volk Europas einem einzelnen Manne zu danken gehabt hat."
Der liberale Erich Eyck hätte sich demgegenüber auf einer
kleineren Veranstaltung in die Tradition all jener gestellt, die schon
zeitgenössisch von Bismarck ausgegrenzt und zu Feinden gestempelt worden
waren. Er hätte mit Bismarck als undemokratischem Gewaltmenschen
abgerechnet und Bismarcks berühmt-berüchtigte Worte als preußischer
Ministerpräsident zur Zeit des Heeres- und Verfassungskonflikts zitiert:
"Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf
seine Macht ... Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die
großen Fragen der Zeit entschieden. Das ist der große Fehler von 1848
und 49 gewesen, sondern durch Eisen und Blut."
Doch auch diese Kontroversen sind verstummt. Otto Planzes
Bismarck-Buch erschien zielgenau zum Jubiläum auf dem deutschen
Büchermarkt und fand eine vorübergehende Aufmerksamkeit in den Medien,
lesen dürfte es kaum jemand. Der letzte Disput über Bismarck, den ich
fasziniert und befremdet beobachtet habe, fand auf dem ersten und letzten
deutsch-deutschen Historiker-Colloquium der SPD 1987 in Bonn statt.
Auslöser war der Bismarck-Biograph Ernst Engelberg. Dieser
DDR-Historiker war lange Zeit der SED-Chefinterpret Bismarcks und hatte
die Aufgabe, Bismarck als Junker, Sozialistenfresser und militaristischen
Reichsgründer zu kennzeichnen. Nach ausgiebigem Quellenstudium vollzog er
eine Kehrtwende und verfasste in den Schlussjahren der DDR seine
Biographie mit ausgewogener Würdigung und trug diese vor. Daraufhin wurde
er von den rechts überholten SPD-Historikern der Bundesrepublik als
Reaktionär zurückgewiesen.
Auch heute gibt es noch einen matten Gegensatz zwischen den Parteien, was
sich darin niederschlägt, dass die Nationalstiftung für Bismarck in
Friedrichsruh von der CDU, nicht aber der SPD getragen wird. Die müden
und wenig kontroversen Gedenkreden an Bismarcks Todestag ließen die
Öffentlichkeit aber nicht aufhorchen, was auch daran liegt dass es nur
eine höchst defizitäre Geschichtstradition in Deutschland gibt. Selbst
demokratische Werte sind historisch kaum verankert. So ist ein
Nationalfeiertag wie der der Ungarn undenkbar, der festlich begangen an
die Märzrevolution 1848 erinnert. Auch der neue und einzige politische
Festtag der Bundesrepublik, der Tag der deutschen Einheit (3. Oktober),
ist alles andere als populär.
"Bismarck heute" - die Frage scheint sich damit erledigt zu
haben. Keine Angst: Ich will dennoch versuchen einen neuen und wie ich
hoffe spannenden Zugang zu finden, der aber leider nicht unkompliziert
ist. Wenn wir uns heute einer historischen Gestalt zuwenden, die
Deutschland für lange Zeit geformt und die noch viel länger als Legende
auf die Politik eingewirkt hat, dann sollten zwei Gesichtspunkte
maßgeblich werden. Auf der einen Seite sollten wir dem 19. Jahrhundert
Respekt erweisen und es aus sich heraus verstehen. Auf der anderen Seite
ist unabhängig davon der weitere Gang der deutschen Geschichte
einzublenden, weil auch dieser aktuelle Kriterien zur Beurteilung
Bismarcks bietet. Beide Aspekte sind inhaltlich zu konkretisieren:
- Ich gehe davon aus, daß das Europa des 19.
Jahrhunderts sehr eigene, heute vielfach verkannte Konturen hatte. Ich
möchte Ihnen hierzu Thesen vorstellen, die wie Sie merken werden,
sehr persönlich und gegen den Strom formuliert sind; entstanden sind
sie bei meinen Arbeiten über 1848/49 und den Ersten Weltkrieg. In dem
Jahrhundert bis hin zum Ersten Weltkrieg stellte dieses Europa eine
viel größere Einheit dar, als man heute wahrnimmt. Im
innerstaatlichen Bereich wuchsen Bürgerlichkeit und Wohlstand in
vielfach beeindruckender Weise, was entsprechende Fortschritte in der
Verfassungsentwicklung nach sich zog. Deutschland wurde eine
konstitutionelle Monarchie und entsprach damit dem europäischen
Standard mit seinem west-östlichen Fortschrittsgefälle. Einsetzend
mit der napoleonischen Zeit und erst endend mit 1930/33 besaß es eine
recht fest verankerte Verfassungstradition. Auch die Krisen- und
Krisensymptome der Zeit kannten in Europa keine Grenzen: der
Kulturkampf-Konflikt zwischen Liberalen und Katholiken in den
sechziger und siebziger Jahren, die anschließende Ausgrenzung der
Arbeiterparteien und vor allem die Militarisierung der Politik am
Vorabend des Ersten Weltkrieges.
- In internationaler Perspektive wurde seit der
Französischen Revolution der Nationalstaatsgedanke dominierend. Das
Streben in Deutschland nach einem Einheitsstaat lag daher im Trend.
Unter Vorreiterrolle des modernsten Staates, England, begann zudem mit
dem Stichjahr 1840 das Zeitalter des Imperialismus. Vor allem die
großen Völker wollten Flotten besitzen, sie wollten Welthandel
treiben und Kolonien erwerben; ein Weltmachtstreben der europäischen
Staaten war vorprogrammiert. Auch hier hatte die deutsche
Nationalbewegung an diesem Denken teil.
- Dennoch gab es bei den Versuchen der deutschen
Nationalbewegung, Deutschland zu - wie es hieß - Freiheit und Macht
zu verhelfen , besondere, strukturell bedingte Schwierigkeiten, die
europaweite Turbulenzen wahrscheinlich machten. Das Europa des frühen
19. Jahrhunderts bot eine nur allzu schwache Basis für die damals von
Nationalliberalen immer wieder erträumte friedliche Familie von
liberalen Nationalstaaten. Zunächst einmal boten schon die ethnischen
Gemengelagen in Mittel- und Osteuropa viel Zündstoff, und der
deutsche Volkskörper war so groß, daß die Errichtung eines
Deutschlands - von wem und wie auch immer - bei den Nachbarn Sorgen
vor deutschen Hegemoniebestrebungen auslösen mußte. Ferner war die
politische Struktur Europas durch traditionelle Großmächte
gekennzeichnet, die vornational strukturiert waren und die ein von
wechselseitigem Respekt geprägtes Gleichgewicht bildeten. Dieses
System mit seinen historischen Verwurzelungen ließ sich nicht einfach
vom Tisch wischen.
- Der Wiener Kongreß von 1815 hatte die
Großmächte zudem voneinander getrennt, indem es Deutschland, das
vormals dominierende Römische Reich, als Deutschen Bund zur
machtlosen Pufferzone gemacht hatte. Gewalt lag förmlich in der Luft,
wenn in einem imperialistischen Zeitalter diese Pufferzone entfiel und
die deutsche Nationalbewegung den Versuch unternehmen sollte, die
Verhältnisse in der Mitte Europas auf den Kopf zu stellen und
Deutschland wieder zu einer wie immer gearteten Vormacht werden zu
lassen.
- Diese Schwierigkeiten prägten auch die
Anschauungen der deutschen Nationalbewegung, bei der wir schon seit
1840 ein Nebeneinander von schrillen nationalistischen Tönen und
Selbstmitleid oder Wehklagen sehen: Deutschland sei eine verspätete
und zu kurz gekommene Nation. Trends für eine - schließlich weit
mehr als 100 Jahre anhaltende - revisionistische, nie den Status-quo
anerkennende deutsche Außenpolitik zeichneten sich ab. Dennoch
suchten und fanden deutsche Politiker des 19. Jahrhunderts und nicht
zuletzt Bismarck außenpolitisch Lösungen, die viel innere Akzeptanz
fanden und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe
unseres Jahrhunderts, auch für die anderen Mächte Europas akzeptabel
waren.
- Bei der Erläuterung der deutschen Geschichte des
20. Jahrhunderts als Folie zur Beurteilung Bismarcks kann ich mich
viel kürzer fassen, da hier die Zusammenhänge bekannter sind.
1930/33 brach wie genannt die deutsche Verfassungskultur zusammen, was
primär eine Folge der keineswegs nur materiellen, sondern auch
mentalen Zerstörungen im Ersten Weltkrieg war. Zu beobachten sind
dabei jedoch auch Phänomene, die eine lange, bis in die Bismarck-Zeit
zurückreichende Tradition hatten.
- Zum einen gab es eine auffallende Schwäche des
liberaldemokratischen wie des sozialdemokratischen Lagers in
Deutschland, die sich darin widerspiegelte, daß die entsprechenden
Parteien vor der Übernahme politischer Verantwortung
zurückschreckten. Zum anderen versagten auch die traditionellen
Eliten Deutschlands; diese protestantischkonservativen Kräfte fanden
den Weg in die Moderne nicht.
- In außenpolitischer Hinsicht wurde Alt-Europa im
Ersten Weltkrieg mit gravierenden Auswirkungen auch für Ihr Land
zerstört. Deutschland hatte dies in erheblichem Maße zu
verantworten, doch ohne den Imperialismus der übrigen Mächte, die
auch alle schuldhaft verstrickt waren, bleibt diese Urkatastrophe
undenkbar. Deutschlands fortgesetzter Revisionismus in der Weimarer
Zeit und Hitlers Versuch einer Fortsetzung des Ersten Weltkrieges
unter rassistischen Vorzeichen komplettierten die Katastrophe. Zur
Ruhe kamen Nationalstaatspolitik und Weltmachtstreben erst 1989/91,
nach einer ethnischen Zentrierung Europas, nach Herstellung und
Anwendung von Massenvernichtungswaffen und nach dem Zusammenbruch des
Sowjetimperiums. Wir wollen hoffen, daß diese Ruhe nicht trügerisch
ist und Krisen wie etwa die im vormals jugoslawischen Raum, der auch
in der Bismarck-Zeit einen Brennpunkt darstellte, nur ein Nachflackern
darstellen.
Vor dem Hintergrund dieser Eckdaten
will ich die einzelnen Phasen des Lebens- und Wirkens Bismarcks darstellen
und erörtern:
A Jugendzeit bei Politikferne
1815/1846
Bismarck verlebte seine Jugendzeit
als Gutsbesitzersohn in der Mark Brandenburg, besuchte das renommierte
Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin und absolvierte -
angereichert durch diverse Bildungsreisen - sein Jurastudium in Göttingen
und Berlin. Danach wechselte er alsbald von der Verwaltungslaufbahn zur
Landwirtschaft, wobei er die Güter Kniephof und Schönhausen
bewirtschaftete. Sein draufgängerischer Lebenswandel brachte ihm den Ruf
eines tollen oder wilden Bismarck ein. Zugleich war er in den
Provinziallandtagen Pommerns und Sachsens tätig. Zum Pietisten bekehrt,
heiratete er Johanna von Puttkamer. Von der Landwirtschaft war er ebenso
unausgelastet wie vorher von der Verwaltung. Charakteristisch ist sein
Ausspruch: "Ich will aber Musik machen, wie ich sie als gut erkenne,
oder gar nicht."
Bismarcks politische Sozialisation fiel also in die Zeit, als Weltpolitik
noch kein Thema war. Zeitlebens sollte er mit diesem Stichwort nichts
anfangen können, seine politische Welt blieben die Großmächte Europas.
In Preußen war große Politik nicht angesagt, der bürokratische Monarch
Friedrich Wilhelm III. versteckte sich hinter dem breiten Kreuz
Metternichs, was hieß, daß Preußen sich nach der Schreckensphase
Napoleons regenerierte, dabei zugleich auf jegliche Außenpolitik
verzichtete und die National- und Verfassungsbewegung mundtot machte. Für
einen potentiellen Politiker wie Bismarck gab es keine Betätigungsfelder.
Sein Lebensraum war das traditionelle patriarchalische und agrarische
Ostelbien, was insofern Auswirkungen hatte, daß er auch später die
Perspektiven einer pluralistischen Industriegesellschaft kaum verstehen
konnte.
Von bleibendem Interesse ist die bewegte Jugend Bismarcks dennoch, und ich
will - obwohl hier die großen Fragen der Politik nicht angesprochen
werden - drei Bereiche antippen, verweise im übrigen aber auf die
spannende Lebensbeschreibung durch Engelberg. Das erste Stichwort
ist der Schulbesuch im Grauen Kloster. Zu Unrecht findet nämlich das
Schulwesen Preußens im 19. Jahrhundert, zu dem die genannte Eliteschule,
aber auch die Preußen prägenden Kadettenanstalten zählten, viel zu
wenig Beachtung. Dieses von Strenge und Familienferne gekennzeichnete
System erscheint uns heute einerseits unvorstellbar fern, andererseits
stellte es aber auch die Basis zur Entfaltung des Wohlstandes in
Mitteleuropa dar und gerade von diesem Schulsystem führte ein Weg zur
nivellierten Wohlstandsgesellschaft des 20. Jahrhunderts.
Auch das Stichwort Pietismus läßt aufhorchen. Gerade aus diesem
evangelischen Umfeld mit seinem gewissenhaften Fleiß und seiner Strenge
ging ein elitäres politisches Bewußtsein hervor. Dieses prägte nicht
nur Bismarck, sondern generell die politisch-gesellschaftlichen
Führungskräfte des Kaiserreichs, die sich als allein staatstragend
verstanden. Ich deutete schon an, daß eine entsprechende nationalliberale
und konservative Führungsschicht nach 1918 orientierungslos wurde, als -
in ihrer verqueren Sicht - die gottlosen Sozialdemokraten und Katholiken
als ehemalige Staatsfeinde und die "verjudeten" Linksliberalen
das politische Sagen hatten. Ihre politischen Irrläufe mündeten in der
Weimarer Republik und im Dritten Reich in ein Desaster ein.
Das dritte Stichwort ist ostelbischer Gutsbesitzer. Die Junker, allen
voran die reichen Rittergutsbesitzer, gelten noch heute weithin als
leibhaftige Teufel, denen der Untergang des Deutschen Reichs anzulasten
ist. Das negative Urteil beruht nur auf Teilwahrheiten, und eine neue
historische Würdigung ist überfällig. Die Bismarcks und Alvenslebens,
die Schulenburgs und Puttkammers waren eine höchst heterogene Gruppe und
erwarben bei dem politischen und gesellschaftlichen Ausbau Preußens und
auch des modernen Deutschlands zu große Verdienste, als daß man sie
pauschal verdammen könnte. Wenn wir heute nach der Wiedervereinigung alte
Rittergüter wie etwa das des Staatskanzlers Hardenberg (Neuhardenberg)
besuchen, erahnen wir etwas von den Leistungen dieser Gruppe, an die man
in den bisweilen von Verödung bedrohten neuen Bundesländern nur allzu
mühsam anknüpfen kann.
B Politische Reifezeit
1847-1862
Diese Phase ist nochmals unterteilt
in die Jahre der Revolution und Gegenrevolution 1847-51, in denen
Bismarck in diversen Parlamenten wirkte, und 1851-62, in denen Bismarck
als Botschafter in Schlüsselpositionen vor allem in Frankfurt
und St. Petersburg wirkte. In diesen Jahren entwickelte er seine
politischen Maximen, erst als konservativer Prinzipienpolitiker, dann als
Realpolitiker, der allein der Staatsräson verpflichtet war. Besagte
Staatsräson war auf Preußen bezogen, insbesondere auf den preußischen
König, den preußischen Adel als führende Kraft und die preußische
Sozialordnung. Kennzeichnend war hierbei, daß er abschätzig von der
"süddeutschen Zuchtlosigkeit" sprach. Bismarck entwickelte sich
zum vehementen Befürworter einer politischen Offensive gegen einen
Führungsanspruch Österreichs in Mitteleuropa. Er sprach von der
Habsburger Monarchie als einem alten wurmstichigen Orlogschiff. Von einer
solchen Macht sollte Preußen nicht unterdrückt oder ruiniert werden.
Bismarck empfahl sich in der preußischen Führung als Mann der Tat, der
Preußens Gleichberechtigung oder sogar Vormachtstellung in einem neu
geordneten Deutschland erstreiten würde. Hierbei trat er von Anfang an
als Konstitutioneller auf. Er befürwortete einen Dialog der
Staatsführung mit der politischen Öffentlichkeit und gleichermaßen ein
ständisches oder berufsgenossenschaftliches Landesparlament; dieses
sollte als Ratgeber und Kontrolleur des Monarchen dienen. Die politischen
Maximen Bismarcks lassen sich nur als Reaktion auf das Revolutionsjahr
1848/49 verstehen, das ihn völlig überraschte; zunächst wollte er gar
den Revolutionären mit blanker Gewalt entgegentreten. Das blieb zwar nur
eine Episode, doch zurück blieb eine alptraumhafte Furcht vor
Revolutionen, die ihn reizbar und überhart werden ließ. Seine
politischen Kontrahenten behandelte er allzu leicht als gefährliche
Staatsfeinde, was vielfach einer politischen Brunnenvergiftung gleichkam
und einer Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft Vorschub leistete.
Als Antirevolutionär traf sich - in übertragenem wie wörtlichen Sinne -
der kommende Staatsmann Bismarck mit dem führenden Staatsmann der ersten
Jahrhunderthälfte Metternich. Bei einer Aussprache in Schloß
Johannisberg 1851 gab es einen großen Fundus an Gemeinsamkeiten, vor
allem die Vorstellung von einer letztlich statischen Politik: In einem
friedlich-gleichberechtigten Verbund der Großmächte Europas sahen beide
die Basis sowohl allen politischen Handelns wie auch des
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prosperierens Europas und beide
schworen auf Staatsführungen, die monarchisch geprägt waren.
Anders als Metternich, der neuen Tendenzen nur mit Obstruktion und Gewalt
zu begegnen gewußt hatte, sah Bismarck aber für seine Zeit auch die
unabdingbare Notwendigkeit zu Veränderungen: Das System des Deutschen
Bundes war erledigt, die Frage der Zeit war nur, unter wessen Regie und
mit welchen Konturen eine Großmacht Deutschland entstehen sollte. Und die
bürgerliche Verfassungsbewegung war zu stark, als daß sie auf Dauer zu
unterdrücken gewesen wäre. Folglich suchte Bismarck nach gravierenden,
aber dennoch kontrollierten und begrenzten Neuerungen in der europäischen
Ordnung wie in der Staatsführung eines Deutschlands, das in diese Ordnung
einzupassen war. Bismarck wollte lieber Revolution machen als diese
erleiden, und nach seiner außen- und innenpolitisch zeitgemäßen
Kurskorrektur des Metternich´schen Systems wollte Bismarck wieder zu
statischen Verhältnissen zurückkehren.
C Preußischer Ministerpräsident und Gründer des
Deutschen Reiches
1862-1871
Entsprechend dieser Vorgaben wurde
Bismarck in dem Jahrzehnt nach seiner Ernennung zum preußischen
Ministerpräsidenten in atemberaubender Weise zum Reichsgründer, der dem
deutschen National- und Verfassungsstaat dessen Konturen gab. Dieses
Jahrzehnt gilt als Glanzphase des Politikers Bismarck. Preußen war 1862
durch den skurrilen König Friedrich Wilhelm IV. geprägt, der als
Gegenrevolutionär von 1848 mit den Demokraten blutig abgerechnet und
diesen einen im 19. Jahrhundert nicht mehr zu kompensierenden Schlag
versetzt hatte. Er hatte dem Land zwar eine - von konservativer Seite
meist als Provisorium angesehene - Verfassung gegeben, doch die
Gewaltentei-lung war faktisch aufgehoben, und auch die Liberalen galten
ihm als Staatsfeinde. Friedrich Wilhelm IV. hatte für die Renaissance
eines christlich verbrämten preußischen Staatsmythos gesorgt, bei dem
Monarch, Heer und Beamte das gute verkörperten. Dennoch hatte er Preußen
auch in eine glänzende Ausgangsstellung für die Errichtung eines
Kleindeutschlands gebracht, nur sein Heer war schwach und für eine
Machtprobe mit Österreich nicht gerüstet.
An dieser Stelle setzte sein Nachfolger, König Wilhelm, der spätere
Kaiser Wilhelm I., an, und suchte mit einer Heeresreform das Militär für
deutschlandpolitische Einsätze zu rüsten und dabei gleichzeitig die
letzten Reste der auf Scharnhorst zurückgehenden demokratischen
Strukturen im Heer zu beseitigen. Letzteres stürzte den Staat, da das
Parlament sich widersetzte, auch in eine Verfassungskrise, in der Bismarck
zur Durchsetzung von Wilhelms Heerespro-jekt zum Konfliktminister ernannt
wurde.
Bismarck führte in beiden Bereichen, der Heeres- und Verfassungsfrage
grundlegende, den Charakter nicht nur Preußens, sondern auch des
künftigen Deutschlands prägende Entscheidungen herbei. Bismarck war
Zivilist, ihm lag die innere Umgestaltung zu einem Königsheer und
monarchischen Instrument nicht am Herzen, dennoch zog er sie als - wie er
selbst sagte - kurbrandenburgischer Vasall Wilhelms durch. Das Heer galt
fortan als "Schule der Nation", was zu einer Zurückdrängung
des zivilen Sektors in der Gesellschaft führte; ich erinnere an den
Hauptmann von Köpenick. Eine bevorzugte Stellung übernahm das Heer zudem
auch in der Politik, wo es nicht nur neben der Polizei die innere Ordnung
formte, sondern sich auch als Wächter in den großen Fragen der Nation
aufspielte und sich - bis 1944 bleibendes Charakteristikum deutscher
Politik - immer wieder einmischte. Bismarck selbst hat am Ende seiner
Laufbahn die politische Konkurrenz von Militärs wie Walder-see
schmerzlich zu spüren bekommen.
Im Verfassungskonflikt wurde erbittert um Königs- oder
Parlamentsherrschaft gerungen, doch gestaltete Bismarck den Ausgang
überraschend. Der Weg endete nicht bei einer von Konservativen erhofften
Rückkehr zum Ancien Regime oder bei einer Fortsetzung der manipulierten
Unterdrückung des Parlaments, sondern bei einer Zementierung der
konstitutionellen Monarchie als Staatsform Deutschlands im 19.
Jahrhundert. Die labilen und maroden Verfassungsverhältnisse in
Deutschland fanden ihr Ende.
Auf der einen Seite setzte Bismarck seine genannten Leitideen durch. Den
alten Eliten in Verwaltung und Heer wurden ihre führenden Positionen
belassen und auch die preußische Sozialstruktur nicht angetastet. Vor
allem aber wurde für Wilhelm und die nachfolgenden Hohenzollern eine
dominierende Stellung im Staatsgefüge festgeschrieben; auch nach der
Reichsgründung wurde Bismarck als Reichskanzler nicht müde zu betonen,
daß die Hohenzollern ihre geschichtliche Mission noch nicht vollendet
hätten; was Bismarck nicht ahnen konnte, war, daß dies unter Wilhelm II.
verheerende Folgen haben sollte.
Auf der anderen Seite erkannte Bismarck die Stärke des sich nach ihrer
Niederlage 1849 nachdrücklich zurückmeldenden liberalen Bürgertums, und
bot diesem - was aufgrund des Kräfteverhältnisses durchaus nicht als
Geschenk zu verstehen war - eine Kooperation auf der Basis einer
Juniorpartnerschaft an. Das Angebot Bismarcks an die deutsche
Nationalbewegung, im künftigen Deutschland ein Nationalparlament nach dem
demokratischen Wahlrecht der Paulskirche zu installieren, wurde mit der
Gründung des Norddeutschen Bundes 1866/67 in die Tat umgesetzt, und das
Indemnitätsgesetz von 1866, das den Schlußpunkt des Heeres- und
Verfassungskonflikts markierte, kennzeichneten diesen von Bismarck zu
verantwortenden Wendepunkt der deutschen Verfassungsgeschichte.
Deutschland erhielt den definitiven und respektablen Status einer
konstitutionellen Monarchie. In Preußen galt fortan die von Friedrich
Wilhelm IV. oktroyierte Verfassung - fast - ohne Abstriche, und das
Deutsche Reich erhielt eine noch modernere Verfassung.
Vor dem Hintergrund dieser oft wenig beachteten Resultate der preußischen
Staatskrise erhalten Bismarcks Leistungen bei der Gründung Deutschlands
in den drei Einigungskriegen - 1864 gegen Dänemark, 1866 im deutschen
Krieg gegen Österreich, 1870/71 gegen Frankreich - ihre Konturen.
Unumstritten vollbrachte dieser diplomatische Glanzleistungen, wobei die
des Jahres1864 bereits den Höhepunkt bildete. Die deutsche
Einigungsbewegung hatte ihr Hauptaugenmerk auf den Erwerb
Schleswig-Holsteins ge-richtet, und obwohl es sich hierbei um eine
machtpolitisch neuralgische Zone Europas handelte, gelang es Bismarck, die
Elbherzogtümer im Einvernehmen mit den europäischen Mächten zu
Deutschland zu bringen. Kaum weniger beachtlich erscheint die Eingrenzung
der Auseinandersetzung mit Österreich 1866 und die Isolierung Frankreichs
1870/71.
Solche diplomatischen Husarenstücke erscheinen heute in einer vernetzten
Welt, in der vielfach von einem Ende von Diplomatie und Politik gesprochen
wird, zu Unrecht als antiquiert und weniger interessant. Übersehen wird
hierbei nämlich, daß auch im 19. Jahrhundert in aller Regel die
bestehende Ordnung fest verankert war und daß in langen Phasen
politisch-diplomatische Großtaten nicht stattfanden. Nur nach solchen
Phasen der Ruhe, in denen Neues herangereift war, gab es Platz für
Diplomaten vom Schlage eines Metternich oder eines Bismarck. An dieser
Konstellation hat sich auch in der Moderne, wie die Neuordnungsjahre
1989/91 gezeigt haben, nichts geändert. Von Interesse er-scheint daher
nur die Frage, wie die jeweiligen Umbruchs- und Krisenzeiten gemeistert
wurden. Als Gegenstück zur gelungenen Reichsgündung mit der
entsprechenden Neuordnung Europas erscheint heute die Julikrise des Jahres
1914, in der es den Politikern und Diplomaten Europas nicht gelang, einen
allseits akzeptablen politischen Neuanfang in Angriff zu nehmen.
Zum problematischen militärischen Aspekt der Reichsgründung:
Unübersehbar ist die verfahrene Lage Mitteleuropas zur Bismarckzeit.
Kriege waren zur damaligen Zeit nicht grundsätzlich geächtet und eine
Alternative zum militärischen Durchschlagen des gordischen Knotens ist
schwer vorstellbar. Das Gebilde des Deutschen Bundes war obsolet, alles
drängte auf Veränderung, und eine Konsenslösung war gleichwohl nicht in
Sicht. Dennoch bleibt die Ambivalenz der militärischen Lösung
unübersehbar. Auf der einen Seite sehen wir zwar, daß Bismarck den
Kriegsansatz auf das Nötigste eingrenzte. So tastete er im Prinzip die
europäische Großmächteordnung nicht an und beließ er alten Mächten
ihr Recht auf Existenz und Entfaltung. Auf der Tagesord-nung stand
"nur" eine Korrektur des Mächtegefüges zugunsten
Preußen-Deutschlands, die bis zu Grenzen vorstieß, die für die anderen
Mächte gerade noch akzeptabel waren. Auch schaffte er die diplomatischen
Voraussetzungen für eine Lokalisierung des Krieges.
Noch in der Schlußphase des Krieges gegen Frannkreich gelang Bismarck
zudem das Kunststück, die innere Reichsgründung auf der Basis eines
breiten Konsenses herbeizuführen. Das 1870/71 geschaffene Deutsche Reich
beruhte zunächst einmal auf einem Bündnis der Fürsten, was die
monarchische Basis und den Traditionen berücksichtigenden föderativen
Charakter Deutschlands betonte. Bismarck lieferte sodann die Vorgaben für
die Verfassung. Doch dann traten auch die Nationalliberalen als echte
Juniorpartner bei der Verfassungsschöpfung auf.
"Ihr" Reichstag mit Gesetzgebungs- und Budgetkompetenz, dem
gegenüber die Reichsregierung begrenzt verantwortlich war, war Ausdruck
von Gewaltenteilung und Mitbestimmung in einem rechtsstaatlichen
Deutschland. Parteien und Parlamentarismus waren fest verankert, und -
zumal vor dem Hintergrund einer fortschreitenden gesellschaftlichen
Modernisierung - behielten die fortschrittlichen Kräfte im Reichstag ihre
Chance für eine generelle Parlamentarisierung Deutschlands, obwohl diese
auf absehbare Zeit entge-gen den Intentionen, die die bürgerliche
Nationalbewegung noch 1848 geleitet hatten, abgeblockt waren.
Der Kaiser war demgegenüber bei deutlicher Dominanz des monarchischen
Prinzips Chef des Militärs und der Exekutive, er ernannte den
Reichskanzler mit dessen alleiniger Verantwortung für die Außenpolitik.
Die führenden Staatsorgane waren aber in durchaus attraktiv erscheinender
Weise zu einer Politik der Konsensfindung gezwungen, ohne diese mußte es
zu einem politischen Stillstand in Deutschland kommen.
Auf der anderen Seite spielte Bismarck bei dieser strukturellen Umformung
Europas und Deutschlands aber auch in friderizianischem Sinne um
Deutschland Vabanque und dies unter erheblichem Säbelrasseln und mit viel
Glück. So konnten die Kriege gerade noch in dem glimpflicheren Stil alter
Kabinettskriege durchgeführt werden. Doch der Krieg gegen Frankreich
zeigte gegen Ende dann doch schon Elemente eines modernen Volkskrieges mit
einer zerstörenden Gewalt, die Kriegen alle Rechtfertigung nimmt.
Faßt man die Leistungen Bismarcks in der Reichsgründungszeit zusammen
und konzentriert sich dabei auf die Legitimität und Zweckmäßigkeit
seines Tuns entsprechend den Kriterien des 19. Jahrhunderts, so ergibt
sich ein überaus beeindruckendes Resultat. Frei nach Hannah Arendt
bestehen geglückte Revolutionen darin, daß sie eine in außen- und
innenpolitischer Hinsicht nicht mehr zeitgemäße Ordnung ablösen und
durch eine rechtlich normierte beziehungsweise geordnete, gewaltenteilige
beziehungsweise plurale und vor allem freiheitliche Ordnung ersetzen, die
im Laufe der Zeit ausbaufähig und modernisierbar ist. Ohne Abstriche
gilt, daß Bismarcks Staatsgründung dieser Norm entsprach. Unter
Berücksichtigung von Grundelementen der alten Ordnung, die wie die
konstitutionellen und föderativen Ansätze in Deutschland oder die
Großmächteordnung in Europa ausbaufähig waren, wurde Deutschland zum
konstitutionellen Einheitsstaat und zu einem neuen Kraftzentrum in Europa.
Die Liste der Vorbehalte gegen das Werk Bismarcks aufgrund einer
Einblendung der Gesamtgeschichte des 19. Jahrhundert wie der des 20.
Jahrhunderts ist aber lang. Zu erörtern sind hier drei Aspekte. Vielfach
steht die Verfassungsfrage im Vordergrund. Fortschrittsorientierte
Beobachter sahen mit Sorge die Rückschrittlichkeit der Reichsverfassung
von 1870/71 mit ihrem monarchischen Schwerpunkt gegenüber der der
Paulskirche. Liberalen und Demokraten wurde - wie schon im Deutschen Bund
und in der Revolution 1848/49 - auch in der preußischen Staatskrise und
bei der Reichsgründung die Schaffung eines parlamentarischen
Regierungssystems versagt, und diese Kette von Niederlagen mußte sowohl
Modernisierungen Deutschlands erschweren wie auch die Weimarer Republik
belasten.
Aus Revolutionsfurcht genügte Bismarck jedoch diese Zurückdrängung des
Bürgertums nicht, mit der Ausgestaltung von Länderkammer und Verwaltung
konstruierte er zusätzliche Sperren gegen Veränderungen im
Staatsgefüge. Der Bundesrat war nominell sogar das bedeutendste
Verfassungsorgan, was faktisch zwar nicht stimmte. Doch dominiert von der
preußischen Regierung, die keinen fortschrittlichen preußischen Landtag
zu fürchten hatte, und gestützt auf preußische Beamte, lief ohne dieses
Gremium, das nicht öffentlich und unkontrolliert tagte, im Deutschen
Reichs nichts. Den Konservativen war damit mit dem Bundesrat eine
Vetoposition in Deutschland zugefallen. Die bittere Konsequenz war, daß
sich im Kaiserreich zunehmend gravierende Gegensätze zwischen den Klassen
sowie zwischen Stadt und Land auftaten; vor dem Ersten Weltkrieg, als die
Staatsorgane sich wechselseitig geradezu blockierten, wurde schließlich
der Ruf nach einer neuen inneren Reichsgründung laut.
Der zweite, noch genauer vorzustellende Komplex ist der einer
Militarisierung Deutschlands bei Schaffung einer entsprechenden
Staatstradition. Bismarck ließ es bei den Weichenstellungen in der Zeit
der preußischen Staatskrise nicht bewenden. Er war als erfolgreicher
Gestalter der drei Einigungskriege Hauptnutznießer der Heeresreform, die
die schnellen Siege ermöglicht hatte. Und nach diesen Siegen, vor allem
bei der Kaiserproklamation in Versailles, aber auch insgesamt bei der
Ausformung einer politischen Kultur in Deutschland mit politischen Festen,
förderte er nachhaltig das Bild, daß Deutschland allein auf diesen
Einigungskriegen gründe. Diese wurden ihrerseits zu drei gewaltigen
Hammerschlägen stilisiert, die bei Bedarf jederzeit wiederholt werden
könnten. Sprechend ist, daß Siegessäulen und Militärdenkmäler aus dem
Boden schossen und im übrigen monarchischer Glanz und martialisches
Gehabe angesagt waren. Heute noch kann man dies an dem in Koblenz am
Deutschen Eck gen Frankreich reitenden Wilhelm I. oder an der
Bismarck-Statue in Hamburg ablesen. Selbst einfachste Gedenkstätten für
die deutsche Nationalbewegung, etwa Erinnerungen an 1848, wurden
demgegenüber rigoros verboten, und die gesamte deutsche Geschichte wurde
nach den preußischen Nationalfarben schwarz-weiß eingefärbt.
Fragt man nach dem Sinn von Bismarcks Tun, so stößt man wieder auf seine
Absicht, die vollendete Veränderung in Deutschland definitiv
abzuschließen. Zu offenkundig gab es für ihn nach 1871 die
"Gefahr", daß die liberale Nationalbewegung entsprechend ihren
programmatischen Vorgaben die ihr gebotene Chance für einen Ausbau ihrer
Mitbestimmungsrechte ergreifen und in einem fortschreitend bürgerlichen
Staat eine Übernahme der politischen Führungsrolle versuchen würde.
Doch damit nicht genug. Bismarck mußte auch damit rechnen, daß diese -
gelockt durch ihre alten Ideale und fasziniert von dem imperialen Glanz
der anderen Mächte - die Reichsgründung als bloße Etappe auf dem Weg in
die Weltpolitik sehen würde. Wie ein Damoklesschwert hing über
Deutschland die Versuchung einer popu-listischen revisionistischen
Außenpolitik, die bis zur Selbst-zerstörung führen konnte. Bismarcks
monarchisch-martialische und antidemokratische Staatstradition hatte also
nicht zuletzt die Funktion eines Schutzes vor diesen Kräften und einer
Sicherung der Existenz Deutschlands.
Dem alten Preußen mit seinen traditionellen Führungskräften traute er
anders als den Liberalen und Demokraten offenkundig eine Zertrümmerung
der von ihm geschaffenen politischen Strukturen nicht zu. Nicht zuletzt
deshalb wollte er dem Kaiserstaat mit dessen alten Eliten und dessen Heer
Glanz verleihen, aber eben nicht als Anreiz für neue Kriege oder neue
nationalpolitische Husarenstücke, sondern um die Revolution von 1848
abzuriegeln und deren ambitionierte Akteure und Nachfolger zu zügeln. Was
Bismarck nicht sah, war, daß auch seine gehätschelten alten Eliten,
deren Kraftgefühl er unaufhörlich förderte, auf Dauer gesehen gegen die
imperialistischen Viren der Zeit keineswegs immun waren. Nicht zuletzt
preußische Traditionalisten sollten sich schließlich als destruktive
Träger einer künftigen deutschen Weltpolitik anbieten. Zusammenfassend
läßt sich also feststellen, daß Bismarck den Hauptmann von Köpenick
zwar nicht wollte, für ihn indirekt aber mitverantwortlich war, und daß
er mit einer antidemoratischen Kultur zwar eine Politik der Stabilität im
Auge hatte, diese aber keineswegs erreichte.
Sorgen mußte schließlich auch die äußere Reichsgründung bereiten.
Schlimm genug waren schon die grundsätzlichen Probleme der deutschen Ost-
und Westgrenze, die zu Dauerbelastungen führten. Im Osten erkannte
Bismarck zwar die elementare Notwendigkeit eines dauerhaften
Interessenausgleichs mit Rußland; diese Einsicht ist gerade vor dem
Hintergrund des heutigen Ruins Osteuropas gar nicht hoch genug
einzuschätzen. Doch der angestrebte Ausgleich beruhte auch auf einer
Fortsetzung des Unrechts der Teilung Polens. Und im Westen provozierte
Bismarck mit der Annexion Elsaß-Lothringens einen anhaltenden
Revisionismus Frankreichs.
Alles entscheidend aber war die Frage der Stabilität der neuen Ordnung
Europas, die nicht erreicht werden konnte. Bismarcks Umformung der
europäischen Ordnung Metternich´scher Prägung produzierte geradezu eine
abermalige Labilität und Unsicherheit. So war es unumgänglich, daß die
übrigen Großmächte gegen den neuen deutschen, militärgestützten und
gerade noch akzeptablen Staat Mißtrauen haben mußten. Deutschland war zu
Wohlverhalten, zur Defensive, zum Verzicht auf politisches Auftrumpfen und
Machtgewinn verpflichtet. Ein entsprechendes Verhalten mußte allen
politischen Parteien in Deutschland ständig vermittelt werden, was eine
Aufgabe darstellte, die Ende des 19. Jahrhunderts immer schwerer wurde;
obwohl die deutsche Nationalbewegung keineswegs saturiert war, gab es für
die deutsche Außenpolitik nämlich keine Chance mehr zu einer
Vorwärtsbewegung.
D Bismarck als Reichskanzler
1871-1890
Allgemein wird behauptet, daß
Bismarcks Tätigkeit als Reichskanzler der Glanz und die Gestaltungskraft
der Vorjahre fehlte. In der Tat modifizierte Bismarck sein Werk kaum noch,
den weiteren Entwicklungen vor allem der pluralistischen
Industriegesellschaft stand er fremd und starr ablehnend gegenüber. Als
besonders problematisch und kritikwürdig gilt die Innenpolitik Bismarcks.
Doch auch hier waren große Erfolge und Leistungen unübersehbar; so das
rasche Zusammenwachsen der Nation, die Verankerung der konstitutionellen
Monarchie, auch wenn Bismarck selbst mit Staatsstreichplänen drohte, die
Schaffung eines Rahmens zur Entfaltung der Industriegesellschaft und die
sozialpolitischen Gesetze, die international zum bis heute geltenden
Maßstab wurden.
Zum Dauerproblem wurde es, daß Bismarck im Reichstag keine Mehrheit in
seinem Sinne erhielt. Er hatte darauf gebaut, daß das demokratische
Wahlrecht das konservativmonarchische Landvolk zum ausschlaggebenden
Faktor machen würde; gerade dieses sollte durch "seinen"
Staatsmythos erreicht und politisch bei der Stange gehalten werden. Bei
den ersten Wahlen zum Reichstag behielten die Nationalliberalen jedoch
ihre Mehrheit, da die Wahlbeteiligung noch nicht hoch war, dann aber griff
schon die Industrialisierung mit ihrer Verstädterung, was nicht nur dem
Bürgertum zugute kam, sondern auch zu dem bekannten Aufschwung der
Sozialisten führte.
Bismarcks Hinwendung zu den Nationalliberalen als Juniorpartner hatte
daher die Konsequenz, daß diese der ersten Phase seiner Kanzlerschaft bis
1878 in erheblichem Maße ihren Stempel aufdrückten. Viele
Verfassungsprobleme waren gemäß Bismarcks Motto, "setzen wir
Deutschland sozusagen in den Sattel, reiten wird es schon können",
in der Schwebe gelassen worden, jetzt begann Deutschland nationalliberal
zu reiten. Diese Partei gewann an Selbstbewußtsein, und prompt sah
Bismarck eine revolutionäre Sturzflut auf Deutschland zukommen. Die
konservative Wende der Jahre 1878/80 war die Folge, die dem deutschen
Liberalismus die nächste, nunmehr schon fünfte Niederlage zufügte. Bei
Bismarcks politischen Manipulationen, die zur Entmachtung der Liberalen
führten, gab es sogar wieder politische Anklänge an die marode Zeit
Friedrich Wilhelms IV.
Schlimme Folgen hatten auch Kulturkampf und Sozialistengesetz, als
Bismarck den Untergang Deutschlands durch Katholiken beziehungsweise
Sozialdemokraten fürchtete. Die schließlich eingeschüchterten
Katholiken wurden nach Entlassung Bismarcks dennoch zu einer - wenn auch
unterrepräsentierten - staatstragenden Partei. Besonders drastisch war
die Ausgrenzung der Arbeiterschaft, die diese auch einte und in die Arme
des Marxismus trieb. Bei der Einschätzung von Bismarcks Wirken ist aber
auch zu beachten, daß es zu seiner Zeit in keinem Land Europas zu einer
irgendwie gearteten politischen Mitbestimmung der Arbeiter kam, zumal in
Ländern wie Frankreich, Spanien und Italien Anarchismus und Syndikalismus
eine große Rolle spielten. Man kann auch kaum glauben, daß ohne
Bismarcks Zutun Liberale und Sozialdemokraten im Kaiserreich früher
zusammengefunden hätten. Die angesprochene Ausgrenzung von angeblichen
Reichsfeinden, die bisweilen willkürlich zu solchen gemacht wurden,
gewinnt demgegenüber wieder an Gewicht vor dem Hintergrund der Staat und
Gesellschaft polarisierenden Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der
Reichsgründung besprochen wurden.
Bismarcks innenpolitische Hinterlassenschaft hatte mithin erhebliche
Schattenseiten, was aber nichts an dem Befund ändert, daß
"sein" Deutschland in Europa hineinpaßte und modernisierbar
blieb.
Für die Außenpolitik galt, daß nicht zuletzt wegen der Hinausdrängung
der Habsburgermonarchie aus Mitteleuropa supranationale Elemente fehlten.
Neukonstruktionen solcher Art, wie sie dann in Wilsons League of Nations
in Erscheinung treten sollten, lagen in weiter Ferne. Funktionieren mußte
ein informelles Großmächtesystem, getragen von einer hinreichenden und
wechselseitigen Solidarität der Staaten. Das war eine immens schwere
Aufgabe, zumal in einem Zeitalter dynamischer, technischer und
industrieller Entfaltung. Döhring-Manteuffel hat gezeigt, daß
England als mächtigste und entwickeltste Macht der Zeit als erste mit dem
Gedanken einer Zerschlagung Rußlands und damit der völligen Ausschaltung
einer Großmacht liebäugelte. Machtpolitisches Auftrumpfen einzelner
Staaten, aber auch deren Stagnation, konnte Alteuropa mit seinem
Großmächtesystem zum Einsturz bringen, ebenso das Überhandnehmen
expansiver oder revanchistischer Ziele Einzelner. Auf der anderen Seite
ist unverkennbar, zu welchem Aufblühen Europas die Jahrzehnte zwischen
Reichsgründung und 1914 führten. Für die Staaten mit ihren Bürgern und
Arbeitern sollte es schließlich viel zu verlieren geben, als diese
Ordnung in den Weltkriegen unterging.
Bismarcks Rolle in dieser außenpolitischen Situation war von einer
bestechend klaren Einsicht gekennzeichnet: Deutschland war machtpolitisch
an seine Grenzen vorgestoßen und mußte eine Politik der Saturiertheit
betreiben; wie nebenbei gelang es ihm hierbei, noch ein bescheidenes
Kolonialgebiet zu erwerben. Zu seinen Grundeinsichten gehörte es, daß
Rußland und Frankreich nicht auf Dauer besiegt oder niedergehalten werden
konnten. Folglich lehnte er - was wiederholt gefordert wurde -
Präventivkriege nach Osten oder Westen zur Errichtung einer stabilen
Vorherrschaft Deutschlands ab. Er betrieb eine Friedenspolitik ohne
Alternative.
Vor diesem Hintergrund ist auch Bismarcks Bündnispolitik positiv zu
bewerten. Zur Friedensbewahrung mußten sogar selbst widersprüchliche
Bündnisse herhalten. Abzuwarten blieb dabei, ob in einer unruhiger
werdenden Welt Kriege nur aufgeschoben wurden oder ob die gezügelten
Leidenschaften der Nationen dauerhaft besiegt werden konnten. Einleuchtend
erscheint auch das Grundschema seiner Bündnisse: Zunächst wurde zwischen
Deutschland und Österreich bei Beibehaltung der Souveränität beider
Staaten im Zweibund ein Sonderverhältnis geschafften. Sodann war
angestrebt, daß sich Deutschland zu England mit Hilfe Rußlands und
Frankreichs ein Gegengewicht schuf; zu Rußland mit Hilfe Österreichs und
Englands, zu Frankreich mit Hilfe Österreichs. Die Hauptbedrohungen des
Friedens, die sich hierbei dennoch nicht abbauen ließen, stellten der
Revisionismus Frankreichs und die Balkankrisen mit den Offensiven
Rußlands und Österreichs dar. Vor dem Hintergrund solcher Unsicherheiten
kann nicht von einem Versagen Bismarcks gesprochen werden, wenn er in
steigendem Maße durch Ängste vor feindlichen Koalitionen geplagt wurde
und wenn sich die außenpolitische Lage Deutschlands zuspitzte.
Problematisch sind zwei Felder von Bismarcks Außenpolitik: Zum einen
wurden Kongresse als Chancen zum Interessenausgleich zur Wahrung der
Solidarität der Mächte nicht genutzt; der Berliner Kongreß 1878 stellte
eine Ausnahme dar. Solche internationalen Tagungen hätten ein Bindeglied
zwischen dem starren Kogreßsystem des frühen 19. Jahrhunderts und
modernen supranationalen Foren dargestellt, doch Bismarck beharrte auf der
Souveränität der Großmächte und betrieb einen Kult der Politik der
freien Hand. Ursache war eine Furcht vor Kongressen, da er erwartete, daß
Deutschland auf diesen vor deren Karren gespannt würde und daß die
bestehenden Antagonismen nur verschärft würden. Zum anderen hatte er
kein rechtes Verständnis von England und dessen Politik. Eine informelle
Achse zwischen der weltpolitischen dominierenden Macht England und der
halbhegemonialen europäischen Macht Deutschland wurde nicht zu etablieren
gesucht. Eine Interessensabsprache beider Staaten als Vormächte des
Friedens unterblieb. Beide Probleme resultierten aus Bismarcks politischer
Prägung in der Zeit des Deutschen Bundes. Die von ihm selbst
mitgestaltete Welt sollte ihm in zentralen Bereichen unverständlich
bleiben.
Ein Sonderproblem stellen sicher die Rücktrittskrise und die unwürdige
Entlassung Bismarcks 1890 dar. Die große ungelöste Frage in diesem
Zusammenhang lautet: Wollte Bismarck mit seinen Staatsstreichallüren
tatsächlich die Verfassung rückwärts revidieren, im Grunde also seine
Hinwendung zur liberalen deutschen Verfassungsbewegung ungeschehen machen,
die zur Juniorpartnerschaft zwischen Bismarck und den Liberalen zwischen
1866 und 1878 geführt hatte und die damit für das Deutsche Reich
konstitutiv geworden war? Oder wollte er, sich gegen die traditionelle
Führungsschicht auflehnend, den Konstitutionalismus durch ein Hereinholen
des Zentrums in die Regierung wieder flott machen?
Ein Extrakapitel verdienen würde auch Bismarcks Leben als Ruheständler
in Friedrichsruh 1890 bis 1898. Deutlich ist heute, daß hier eine
menschliche Tragödie stattgefunden hat. Schon 1888 hatte er bei der
Eröffnung des Hamburger Freihafens gesagt: "Meine Herren, hier ist
eine Welt, die ich nicht mehr verstehe." Als er von der Politik als
seiner Lebensader abgeschnitten wurde, vereinsamte er völlig. Er verfiel
schließlich körperlich und zeigte sich machtbesessen und rachsüchtig.
Bisweilen wartete er dabei mit hellsichtigen Prognosen auf; so prophezeite
er den Ersten Weltkrieg und Katastrophen sowie eine denkbare bessere
Zukunft Deutschlands als Republik. Als politisch bedeutsamer aber erwies
es sich, daß er nicht mehr als Speerspitze gegen jene Chauvinisten zu
wirken bereit war, die in Wilhelminischer Zeit sein Lebenswerk zu
zertrümmern suchten und die es schließlich auch zertrümmern sollten.
Gerade diejenigen, die "nationale Größe" forderten, pilgerten
zu Bismarck und fanden, da sie sich oftmals im Gegenlager zur Regierung
befanden, dessen - meist apokryptischen und vagen Segen. Meist ohne
großes eigenes Zutun wurde er damit vollends zur nationalistischen
Gallionsfigur, was nur als tragisch zu kennzeichnen ist.
Zusammenfassende Schlagwörter zur Kennzeichnung Bismarcks wollen mir nach
diesen Ausführungen nicht einfallen. Bismarck war kein Heros und kein
Urpreuße, kein einsamer Genius und keine Ausnahmeerscheinung. Doch auch
die schwarz in schwarz gezeichneten Bilder, die seine Gegner von ihm
zeichneten, stimmen nicht. Wichtig erscheint demgegenüber all das, was
mit Blick auf die Reichsgründung als eine geglückte Revolution gesagt
wurde, und was die Schattenseiten und die Tragik seines Tuns betrifft, so
möchte ich diese Seiten keineswegs beschönigen. Letztlich lag es aber in
der Hand seiner Nachfolger und der späteren Generationen in Europa, was
aus seinem Erbe wurde.
Seitenanfang
Günter Wollstein
Günter Wollstein, geb. 1939, studierte
Geschichte, Politik und Latein an den Universitäten Marburg und Berlin,
promovierte 1972 (Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler.../Argo
Bonn-Bad Godesberg 1973) und legte 1976 seine Habilitationsschrift zum
Thema Das "Großdeutschland" der Paulskirche. Nationale Ziele
der bürgerlichen Revolution 1848/49 (Düsseldorf 1977) vor.
Wollstein lehrt seit 1972 an der Universität Köln Geschichte der
Neuzeit. Von ihm sind zahlreiche Beiträge, insbesondere zur deutschen und
europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erschienen.
Reichsgründungen
1848/49 und 1870/71 weitere Seiten des Goethe-Instituts
Arbeitsauftrag:
- Stellen Sie die Grundpositionen des Autors zur
Person Bismarck zusammen.
- Erklären Sie die Kontroversen um die Beurteilung
Bismarcks.
- Erstellen Sie aus der Biographie Wollsteins ein
Plakat zum Werk Bismarcks.
Ergebnisse Plakate
|