Bismarck 

"Auf dem Wege nach Europa"

Prof. Dr. Günter Wollstein

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Es gibt heute in der Bundesrepublik Deutschland keine lebendige Bismarck-Tradition. Für Studenten ist der Mann des 19. Jahrhunderts weit weg wie Karl V. Kennzeichnend für die Unbekanntheit von Bismarcks Kleindeutschland mit preußischer Prägung wie für die Unkenntnis des 19. Jahrhunderts insgesamt sind auch Ängste, die in Deutschland bei der Wiedervereinigung 1989/91 geäußert wurden: So phantasierte man damals viel von Gefahren, die ein wiederkehrendes "Großdeutschland" mit sich bringen würde.
Jetzt haben wir ein Bismarck-Jahr; es gilt, den 100. Todestag zu würdigen. Früher wäre das Grund für öffentliche Feiern großen Stils mit harten Kontroversen gewesen. Die Hauptrede hätte der konservative Historiker Arnold Oskar Meyer gehalten und uns erzählt, wie der deutsche Heros Bismarck im Sinne Hegels das Gesetz der Geschichte - preußisch-deutsch eingefärbt - selber erfüllt habe, wie er das, was der Volksgeist wollte, zur Wirklichkeit gemacht habe, und wie eine große Persönlichkeit allen Feinden zum Trotz an Abgründen vorbeijongliert und Ewigkeitswerte geschaffen habe. Das Fest müsse folglich unter dem Motto stehen: "Was er (Bismarck) für sein Volk getan hat, ist mehr, als irgend ein Volk Europas einem einzelnen Manne zu danken gehabt hat."
Der liberale Erich Eyck hätte sich demgegenüber auf einer kleineren Veranstaltung in die Tradition all jener gestellt, die schon zeitgenössisch von Bismarck ausgegrenzt und zu Feinden gestempelt worden waren. Er hätte mit Bismarck als undemokratischem Gewaltmenschen abgerechnet und Bismarcks berühmt-berüchtigte Worte als preußischer Ministerpräsident zur Zeit des Heeres- und Verfassungskonflikts zitiert: "Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht ... Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden. Das ist der große Fehler von 1848 und 49 gewesen, sondern durch Eisen und Blut."
Doch auch diese Kontroversen sind verstummt. Otto Planzes Bismarck-Buch erschien zielgenau zum Jubiläum auf dem deutschen Büchermarkt und fand eine vorübergehende Aufmerksamkeit in den Medien, lesen dürfte es kaum jemand. Der letzte Disput über Bismarck, den ich fasziniert und befremdet beobachtet habe, fand auf dem ersten und letzten deutsch-deutschen Historiker-Colloquium der SPD 1987 in Bonn statt. Auslöser war der Bismarck-Biograph Ernst Engelberg. Dieser DDR-Historiker war lange Zeit der SED-Chefinterpret Bismarcks und hatte die Aufgabe, Bismarck als Junker, Sozialistenfresser und militaristischen Reichsgründer zu kennzeichnen. Nach ausgiebigem Quellenstudium vollzog er eine Kehrtwende und verfasste in den Schlussjahren der DDR seine Biographie mit ausgewogener Würdigung und trug diese vor. Daraufhin wurde er von den rechts überholten SPD-Historikern der Bundesrepublik als Reaktionär zurückgewiesen.
Auch heute gibt es noch einen matten Gegensatz zwischen den Parteien, was sich darin niederschlägt, dass die Nationalstiftung für Bismarck in Friedrichsruh von der CDU, nicht aber der SPD getragen wird. Die müden und wenig kontroversen Gedenkreden an Bismarcks Todestag ließen die Öffentlichkeit aber nicht aufhorchen, was auch daran liegt dass es nur eine höchst defizitäre Geschichtstradition in Deutschland gibt. Selbst demokratische Werte sind historisch kaum verankert. So ist ein Nationalfeiertag wie der der Ungarn undenkbar, der festlich begangen an die Märzrevolution 1848 erinnert. Auch der neue und einzige politische Festtag der Bundesrepublik, der Tag der deutschen Einheit (3. Oktober), ist alles andere als populär.
"Bismarck heute" - die Frage scheint sich damit erledigt zu haben. Keine Angst: Ich will dennoch versuchen einen neuen und wie ich hoffe spannenden Zugang zu finden, der aber leider nicht unkompliziert ist. Wenn wir uns heute einer historischen Gestalt zuwenden, die Deutschland für lange Zeit geformt und die noch viel länger als Legende auf die Politik eingewirkt hat, dann sollten zwei Gesichtspunkte maßgeblich werden. Auf der einen Seite sollten wir dem 19. Jahrhundert Respekt erweisen und es aus sich heraus verstehen. Auf der anderen Seite ist unabhängig davon der weitere Gang der deutschen Geschichte einzublenden, weil auch dieser aktuelle Kriterien zur Beurteilung Bismarcks bietet. Beide Aspekte sind inhaltlich zu konkretisieren:

 

  • Ich gehe davon aus, daß das Europa des 19. Jahrhunderts sehr eigene, heute vielfach verkannte Konturen hatte. Ich möchte Ihnen hierzu Thesen vorstellen, die wie Sie merken werden, sehr persönlich und gegen den Strom formuliert sind; entstanden sind sie bei meinen Arbeiten über 1848/49 und den Ersten Weltkrieg. In dem Jahrhundert bis hin zum Ersten Weltkrieg stellte dieses Europa eine viel größere Einheit dar, als man heute wahrnimmt. Im innerstaatlichen Bereich wuchsen Bürgerlichkeit und Wohlstand in vielfach beeindruckender Weise, was entsprechende Fortschritte in der Verfassungsentwicklung nach sich zog. Deutschland wurde eine konstitutionelle Monarchie und entsprach damit dem europäischen Standard mit seinem west-östlichen Fortschrittsgefälle. Einsetzend mit der napoleonischen Zeit und erst endend mit 1930/33 besaß es eine recht fest verankerte Verfassungstradition. Auch die Krisen- und Krisensymptome der Zeit kannten in Europa keine Grenzen: der Kulturkampf-Konflikt zwischen Liberalen und Katholiken in den sechziger und siebziger Jahren, die anschließende Ausgrenzung der Arbeiterparteien und vor allem die Militarisierung der Politik am Vorabend des Ersten Weltkrieges.
  • In internationaler Perspektive wurde seit der Französischen Revolution der Nationalstaatsgedanke dominierend. Das Streben in Deutschland nach einem Einheitsstaat lag daher im Trend. Unter Vorreiterrolle des modernsten Staates, England, begann zudem mit dem Stichjahr 1840 das Zeitalter des Imperialismus. Vor allem die großen Völker wollten Flotten besitzen, sie wollten Welthandel treiben und Kolonien erwerben; ein Weltmachtstreben der europäischen Staaten war vorprogrammiert. Auch hier hatte die deutsche Nationalbewegung an diesem Denken teil.
  • Dennoch gab es bei den Versuchen der deutschen Nationalbewegung, Deutschland zu - wie es hieß - Freiheit und Macht zu verhelfen , besondere, strukturell bedingte Schwierigkeiten, die europaweite Turbulenzen wahrscheinlich machten. Das Europa des frühen 19. Jahrhunderts bot eine nur allzu schwache Basis für die damals von Nationalliberalen immer wieder erträumte friedliche Familie von liberalen Nationalstaaten. Zunächst einmal boten schon die ethnischen Gemengelagen in Mittel- und Osteuropa viel Zündstoff, und der deutsche Volkskörper war so groß, daß die Errichtung eines Deutschlands - von wem und wie auch immer - bei den Nachbarn Sorgen vor deutschen Hegemoniebestrebungen auslösen mußte. Ferner war die politische Struktur Europas durch traditionelle Großmächte gekennzeichnet, die vornational strukturiert waren und die ein von wechselseitigem Respekt geprägtes Gleichgewicht bildeten. Dieses System mit seinen historischen Verwurzelungen ließ sich nicht einfach vom Tisch wischen.
  • Der Wiener Kongreß von 1815 hatte die Großmächte zudem voneinander getrennt, indem es Deutschland, das vormals dominierende Römische Reich, als Deutschen Bund zur machtlosen Pufferzone gemacht hatte. Gewalt lag förmlich in der Luft, wenn in einem imperialistischen Zeitalter diese Pufferzone entfiel und die deutsche Nationalbewegung den Versuch unternehmen sollte, die Verhältnisse in der Mitte Europas auf den Kopf zu stellen und Deutschland wieder zu einer wie immer gearteten Vormacht werden zu lassen.
  • Diese Schwierigkeiten prägten auch die Anschauungen der deutschen Nationalbewegung, bei der wir schon seit 1840 ein Nebeneinander von schrillen nationalistischen Tönen und Selbstmitleid oder Wehklagen sehen: Deutschland sei eine verspätete und zu kurz gekommene Nation. Trends für eine - schließlich weit mehr als 100 Jahre anhaltende - revisionistische, nie den Status-quo anerkennende deutsche Außenpolitik zeichneten sich ab. Dennoch suchten und fanden deutsche Politiker des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt Bismarck außenpolitisch Lösungen, die viel innere Akzeptanz fanden und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe unseres Jahrhunderts, auch für die anderen Mächte Europas akzeptabel waren.
  • Bei der Erläuterung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts als Folie zur Beurteilung Bismarcks kann ich mich viel kürzer fassen, da hier die Zusammenhänge bekannter sind. 1930/33 brach wie genannt die deutsche Verfassungskultur zusammen, was primär eine Folge der keineswegs nur materiellen, sondern auch mentalen Zerstörungen im Ersten Weltkrieg war. Zu beobachten sind dabei jedoch auch Phänomene, die eine lange, bis in die Bismarck-Zeit zurückreichende Tradition hatten.
  • Zum einen gab es eine auffallende Schwäche des liberaldemokratischen wie des sozialdemokratischen Lagers in Deutschland, die sich darin widerspiegelte, daß die entsprechenden Parteien vor der Übernahme politischer Verantwortung zurückschreckten. Zum anderen versagten auch die traditionellen Eliten Deutschlands; diese protestantischkonservativen Kräfte fanden den Weg in die Moderne nicht.
  • In außenpolitischer Hinsicht wurde Alt-Europa im Ersten Weltkrieg mit gravierenden Auswirkungen auch für Ihr Land zerstört. Deutschland hatte dies in erheblichem Maße zu verantworten, doch ohne den Imperialismus der übrigen Mächte, die auch alle schuldhaft verstrickt waren, bleibt diese Urkatastrophe undenkbar. Deutschlands fortgesetzter Revisionismus in der Weimarer Zeit und Hitlers Versuch einer Fortsetzung des Ersten Weltkrieges unter rassistischen Vorzeichen komplettierten die Katastrophe. Zur Ruhe kamen Nationalstaatspolitik und Weltmachtstreben erst 1989/91, nach einer ethnischen Zentrierung Europas, nach Herstellung und Anwendung von Massenvernichtungswaffen und nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Wir wollen hoffen, daß diese Ruhe nicht trügerisch ist und Krisen wie etwa die im vormals jugoslawischen Raum, der auch in der Bismarck-Zeit einen Brennpunkt darstellte, nur ein Nachflackern darstellen.

 

Vor dem Hintergrund dieser Eckdaten will ich die einzelnen Phasen des Lebens- und Wirkens Bismarcks darstellen und erörtern:

A Jugendzeit bei Politikferne

1815/1846

Bismarck verlebte seine Jugendzeit als Gutsbesitzersohn in der Mark Brandenburg, besuchte das renommierte Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin und absolvierte - angereichert durch diverse Bildungsreisen - sein Jurastudium in Göttingen und Berlin. Danach wechselte er alsbald von der Verwaltungslaufbahn zur Landwirtschaft, wobei er die Güter Kniephof und Schönhausen bewirtschaftete. Sein draufgängerischer Lebenswandel brachte ihm den Ruf eines tollen oder wilden Bismarck ein. Zugleich war er in den Provinziallandtagen Pommerns und Sachsens tätig. Zum Pietisten bekehrt, heiratete er Johanna von Puttkamer. Von der Landwirtschaft war er ebenso unausgelastet wie vorher von der Verwaltung. Charakteristisch ist sein Ausspruch: "Ich will aber Musik machen, wie ich sie als gut erkenne, oder gar nicht."
Bismarcks politische Sozialisation fiel also in die Zeit, als Weltpolitik noch kein Thema war. Zeitlebens sollte er mit diesem Stichwort nichts anfangen können, seine politische Welt blieben die Großmächte Europas. In Preußen war große Politik nicht angesagt, der bürokratische Monarch Friedrich Wilhelm III. versteckte sich hinter dem breiten Kreuz Metternichs, was hieß, daß Preußen sich nach der Schreckensphase Napoleons regenerierte, dabei zugleich auf jegliche Außenpolitik verzichtete und die National- und Verfassungsbewegung mundtot machte. Für einen potentiellen Politiker wie Bismarck gab es keine Betätigungsfelder. Sein Lebensraum war das traditionelle patriarchalische und agrarische Ostelbien, was insofern Auswirkungen hatte, daß er auch später die Perspektiven einer pluralistischen Industriegesellschaft kaum verstehen konnte.
Von bleibendem Interesse ist die bewegte Jugend Bismarcks dennoch, und ich will - obwohl hier die großen Fragen der Politik nicht angesprochen werden - drei Bereiche antippen, verweise im übrigen aber auf die spannende Lebensbeschreibung durch Engelberg. Das erste Stichwort ist der Schulbesuch im Grauen Kloster. Zu Unrecht findet nämlich das Schulwesen Preußens im 19. Jahrhundert, zu dem die genannte Eliteschule, aber auch die Preußen prägenden Kadettenanstalten zählten, viel zu wenig Beachtung. Dieses von Strenge und Familienferne gekennzeichnete System erscheint uns heute einerseits unvorstellbar fern, andererseits stellte es aber auch die Basis zur Entfaltung des Wohlstandes in Mitteleuropa dar und gerade von diesem Schulsystem führte ein Weg zur nivellierten Wohlstandsgesellschaft des 20. Jahrhunderts.
Auch das Stichwort Pietismus läßt aufhorchen. Gerade aus diesem evangelischen Umfeld mit seinem gewissenhaften Fleiß und seiner Strenge ging ein elitäres politisches Bewußtsein hervor. Dieses prägte nicht nur Bismarck, sondern generell die politisch-gesellschaftlichen Führungskräfte des Kaiserreichs, die sich als allein staatstragend verstanden. Ich deutete schon an, daß eine entsprechende nationalliberale und konservative Führungsschicht nach 1918 orientierungslos wurde, als - in ihrer verqueren Sicht - die gottlosen Sozialdemokraten und Katholiken als ehemalige Staatsfeinde und die "verjudeten" Linksliberalen das politische Sagen hatten. Ihre politischen Irrläufe mündeten in der Weimarer Republik und im Dritten Reich in ein Desaster ein.
Das dritte Stichwort ist ostelbischer Gutsbesitzer. Die Junker, allen voran die reichen Rittergutsbesitzer, gelten noch heute weithin als leibhaftige Teufel, denen der Untergang des Deutschen Reichs anzulasten ist. Das negative Urteil beruht nur auf Teilwahrheiten, und eine neue historische Würdigung ist überfällig. Die Bismarcks und Alvenslebens, die Schulenburgs und Puttkammers waren eine höchst heterogene Gruppe und erwarben bei dem politischen und gesellschaftlichen Ausbau Preußens und auch des modernen Deutschlands zu große Verdienste, als daß man sie pauschal verdammen könnte. Wenn wir heute nach der Wiedervereinigung alte Rittergüter wie etwa das des Staatskanzlers Hardenberg (Neuhardenberg) besuchen, erahnen wir etwas von den Leistungen dieser Gruppe, an die man in den bisweilen von Verödung bedrohten neuen Bundesländern nur allzu mühsam anknüpfen kann.

B Politische Reifezeit

1847-1862

Diese Phase ist nochmals unterteilt in die Jahre der Revolution und Gegenrevolution 1847-51, in denen Bismarck in diversen Parlamenten wirkte, und 1851-62, in denen Bismarck als Botschafter in Schlüsselpositionen vor allem in Frankfurt und St. Petersburg wirkte. In diesen Jahren entwickelte er seine politischen Maximen, erst als konservativer Prinzipienpolitiker, dann als Realpolitiker, der allein der Staatsräson verpflichtet war. Besagte Staatsräson war auf Preußen bezogen, insbesondere auf den preußischen König, den preußischen Adel als führende Kraft und die preußische Sozialordnung. Kennzeichnend war hierbei, daß er abschätzig von der "süddeutschen Zuchtlosigkeit" sprach. Bismarck entwickelte sich zum vehementen Befürworter einer politischen Offensive gegen einen Führungsanspruch Österreichs in Mitteleuropa. Er sprach von der Habsburger Monarchie als einem alten wurmstichigen Orlogschiff. Von einer solchen Macht sollte Preußen nicht unterdrückt oder ruiniert werden. Bismarck empfahl sich in der preußischen Führung als Mann der Tat, der Preußens Gleichberechtigung oder sogar Vormachtstellung in einem neu geordneten Deutschland erstreiten würde. Hierbei trat er von Anfang an als Konstitutioneller auf. Er befürwortete einen Dialog der Staatsführung mit der politischen Öffentlichkeit und gleichermaßen ein ständisches oder berufsgenossenschaftliches Landesparlament; dieses sollte als Ratgeber und Kontrolleur des Monarchen dienen. Die politischen Maximen Bismarcks lassen sich nur als Reaktion auf das Revolutionsjahr 1848/49 verstehen, das ihn völlig überraschte; zunächst wollte er gar den Revolutionären mit blanker Gewalt entgegentreten. Das blieb zwar nur eine Episode, doch zurück blieb eine alptraumhafte Furcht vor Revolutionen, die ihn reizbar und überhart werden ließ. Seine politischen Kontrahenten behandelte er allzu leicht als gefährliche Staatsfeinde, was vielfach einer politischen Brunnenvergiftung gleichkam und einer Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft Vorschub leistete.
Als Antirevolutionär traf sich - in übertragenem wie wörtlichen Sinne - der kommende Staatsmann Bismarck mit dem führenden Staatsmann der ersten Jahrhunderthälfte Metternich. Bei einer Aussprache in Schloß Johannisberg 1851 gab es einen großen Fundus an Gemeinsamkeiten, vor allem die Vorstellung von einer letztlich statischen Politik: In einem friedlich-gleichberechtigten Verbund der Großmächte Europas sahen beide die Basis sowohl allen politischen Handelns wie auch des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prosperierens Europas und beide schworen auf Staatsführungen, die monarchisch geprägt waren.
Anders als Metternich, der neuen Tendenzen nur mit Obstruktion und Gewalt zu begegnen gewußt hatte, sah Bismarck aber für seine Zeit auch die unabdingbare Notwendigkeit zu Veränderungen: Das System des Deutschen Bundes war erledigt, die Frage der Zeit war nur, unter wessen Regie und mit welchen Konturen eine Großmacht Deutschland entstehen sollte. Und die bürgerliche Verfassungsbewegung war zu stark, als daß sie auf Dauer zu unterdrücken gewesen wäre. Folglich suchte Bismarck nach gravierenden, aber dennoch kontrollierten und begrenzten Neuerungen in der europäischen Ordnung wie in der Staatsführung eines Deutschlands, das in diese Ordnung einzupassen war. Bismarck wollte lieber Revolution machen als diese erleiden, und nach seiner außen- und innenpolitisch zeitgemäßen Kurskorrektur des Metternich´schen Systems wollte Bismarck wieder zu statischen Verhältnissen zurückkehren.

C Preußischer Ministerpräsident und Gründer des Deutschen Reiches

1862-1871

Entsprechend dieser Vorgaben wurde Bismarck in dem Jahrzehnt nach seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten in atemberaubender Weise zum Reichsgründer, der dem deutschen National- und Verfassungsstaat dessen Konturen gab. Dieses Jahrzehnt gilt als Glanzphase des Politikers Bismarck. Preußen war 1862 durch den skurrilen König Friedrich Wilhelm IV. geprägt, der als Gegenrevolutionär von 1848 mit den Demokraten blutig abgerechnet und diesen einen im 19. Jahrhundert nicht mehr zu kompensierenden Schlag versetzt hatte. Er hatte dem Land zwar eine - von konservativer Seite meist als Provisorium angesehene - Verfassung gegeben, doch die Gewaltentei-lung war faktisch aufgehoben, und auch die Liberalen galten ihm als Staatsfeinde. Friedrich Wilhelm IV. hatte für die Renaissance eines christlich verbrämten preußischen Staatsmythos gesorgt, bei dem Monarch, Heer und Beamte das gute verkörperten. Dennoch hatte er Preußen auch in eine glänzende Ausgangsstellung für die Errichtung eines Kleindeutschlands gebracht, nur sein Heer war schwach und für eine Machtprobe mit Österreich nicht gerüstet.
An dieser Stelle setzte sein Nachfolger, König Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm I., an, und suchte mit einer Heeresreform das Militär für deutschlandpolitische Einsätze zu rüsten und dabei gleichzeitig die letzten Reste der auf Scharnhorst zurückgehenden demokratischen Strukturen im Heer zu beseitigen. Letzteres stürzte den Staat, da das Parlament sich widersetzte, auch in eine Verfassungskrise, in der Bismarck zur Durchsetzung von Wilhelms Heerespro-jekt zum Konfliktminister ernannt wurde.
Bismarck führte in beiden Bereichen, der Heeres- und Verfassungsfrage grundlegende, den Charakter nicht nur Preußens, sondern auch des künftigen Deutschlands prägende Entscheidungen herbei. Bismarck war Zivilist, ihm lag die innere Umgestaltung zu einem Königsheer und monarchischen Instrument nicht am Herzen, dennoch zog er sie als - wie er selbst sagte - kurbrandenburgischer Vasall Wilhelms durch. Das Heer galt fortan als "Schule der Nation", was zu einer Zurückdrängung des zivilen Sektors in der Gesellschaft führte; ich erinnere an den Hauptmann von Köpenick. Eine bevorzugte Stellung übernahm das Heer zudem auch in der Politik, wo es nicht nur neben der Polizei die innere Ordnung formte, sondern sich auch als Wächter in den großen Fragen der Nation aufspielte und sich - bis 1944 bleibendes Charakteristikum deutscher Politik - immer wieder einmischte. Bismarck selbst hat am Ende seiner Laufbahn die politische Konkurrenz von Militärs wie Walder-see schmerzlich zu spüren bekommen.
Im Verfassungskonflikt wurde erbittert um Königs- oder Parlamentsherrschaft gerungen, doch gestaltete Bismarck den Ausgang überraschend. Der Weg endete nicht bei einer von Konservativen erhofften Rückkehr zum Ancien Regime oder bei einer Fortsetzung der manipulierten Unterdrückung des Parlaments, sondern bei einer Zementierung der konstitutionellen Monarchie als Staatsform Deutschlands im 19. Jahrhundert. Die labilen und maroden Verfassungsverhältnisse in Deutschland fanden ihr Ende.
Auf der einen Seite setzte Bismarck seine genannten Leitideen durch. Den alten Eliten in Verwaltung und Heer wurden ihre führenden Positionen belassen und auch die preußische Sozialstruktur nicht angetastet. Vor allem aber wurde für Wilhelm und die nachfolgenden Hohenzollern eine dominierende Stellung im Staatsgefüge festgeschrieben; auch nach der Reichsgründung wurde Bismarck als Reichskanzler nicht müde zu betonen, daß die Hohenzollern ihre geschichtliche Mission noch nicht vollendet hätten; was Bismarck nicht ahnen konnte, war, daß dies unter Wilhelm II. verheerende Folgen haben sollte.
Auf der anderen Seite erkannte Bismarck die Stärke des sich nach ihrer Niederlage 1849 nachdrücklich zurückmeldenden liberalen Bürgertums, und bot diesem - was aufgrund des Kräfteverhältnisses durchaus nicht als Geschenk zu verstehen war - eine Kooperation auf der Basis einer Juniorpartnerschaft an. Das Angebot Bismarcks an die deutsche Nationalbewegung, im künftigen Deutschland ein Nationalparlament nach dem demokratischen Wahlrecht der Paulskirche zu installieren, wurde mit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1866/67 in die Tat umgesetzt, und das Indemnitätsgesetz von 1866, das den Schlußpunkt des Heeres- und Verfassungskonflikts markierte, kennzeichneten diesen von Bismarck zu verantwortenden Wendepunkt der deutschen Verfassungsgeschichte. Deutschland erhielt den definitiven und respektablen Status einer konstitutionellen Monarchie. In Preußen galt fortan die von Friedrich Wilhelm IV. oktroyierte Verfassung - fast - ohne Abstriche, und das Deutsche Reich erhielt eine noch modernere Verfassung.
Vor dem Hintergrund dieser oft wenig beachteten Resultate der preußischen Staatskrise erhalten Bismarcks Leistungen bei der Gründung Deutschlands in den drei Einigungskriegen - 1864 gegen Dänemark, 1866 im deutschen Krieg gegen Österreich, 1870/71 gegen Frankreich - ihre Konturen. Unumstritten vollbrachte dieser diplomatische Glanzleistungen, wobei die des Jahres1864 bereits den Höhepunkt bildete. Die deutsche Einigungsbewegung hatte ihr Hauptaugenmerk auf den Erwerb Schleswig-Holsteins ge-richtet, und obwohl es sich hierbei um eine machtpolitisch neuralgische Zone Europas handelte, gelang es Bismarck, die Elbherzogtümer im Einvernehmen mit den europäischen Mächten zu Deutschland zu bringen. Kaum weniger beachtlich erscheint die Eingrenzung der Auseinandersetzung mit Österreich 1866 und die Isolierung Frankreichs 1870/71.
Solche diplomatischen Husarenstücke erscheinen heute in einer vernetzten Welt, in der vielfach von einem Ende von Diplomatie und Politik gesprochen wird, zu Unrecht als antiquiert und weniger interessant. Übersehen wird hierbei nämlich, daß auch im 19. Jahrhundert in aller Regel die bestehende Ordnung fest verankert war und daß in langen Phasen politisch-diplomatische Großtaten nicht stattfanden. Nur nach solchen Phasen der Ruhe, in denen Neues herangereift war, gab es Platz für Diplomaten vom Schlage eines Metternich oder eines Bismarck. An dieser Konstellation hat sich auch in der Moderne, wie die Neuordnungsjahre 1989/91 gezeigt haben, nichts geändert. Von Interesse er-scheint daher nur die Frage, wie die jeweiligen Umbruchs- und Krisenzeiten gemeistert wurden. Als Gegenstück zur gelungenen Reichsgündung mit der entsprechenden Neuordnung Europas erscheint heute die Julikrise des Jahres 1914, in der es den Politikern und Diplomaten Europas nicht gelang, einen allseits akzeptablen politischen Neuanfang in Angriff zu nehmen.
Zum problematischen militärischen Aspekt der Reichsgründung: Unübersehbar ist die verfahrene Lage Mitteleuropas zur Bismarckzeit. Kriege waren zur damaligen Zeit nicht grundsätzlich geächtet und eine Alternative zum militärischen Durchschlagen des gordischen Knotens ist schwer vorstellbar. Das Gebilde des Deutschen Bundes war obsolet, alles drängte auf Veränderung, und eine Konsenslösung war gleichwohl nicht in Sicht. Dennoch bleibt die Ambivalenz der militärischen Lösung unübersehbar. Auf der einen Seite sehen wir zwar, daß Bismarck den Kriegsansatz auf das Nötigste eingrenzte. So tastete er im Prinzip die europäische Großmächteordnung nicht an und beließ er alten Mächten ihr Recht auf Existenz und Entfaltung. Auf der Tagesord-nung stand "nur" eine Korrektur des Mächtegefüges zugunsten Preußen-Deutschlands, die bis zu Grenzen vorstieß, die für die anderen Mächte gerade noch akzeptabel waren. Auch schaffte er die diplomatischen Voraussetzungen für eine Lokalisierung des Krieges.
Noch in der Schlußphase des Krieges gegen Frannkreich gelang Bismarck zudem das Kunststück, die innere Reichsgründung auf der Basis eines breiten Konsenses herbeizuführen. Das 1870/71 geschaffene Deutsche Reich beruhte zunächst einmal auf einem Bündnis der Fürsten, was die monarchische Basis und den Traditionen berücksichtigenden föderativen Charakter Deutschlands betonte. Bismarck lieferte sodann die Vorgaben für die Verfassung. Doch dann traten auch die Nationalliberalen als echte Juniorpartner bei der Verfassungsschöpfung auf.
"Ihr" Reichstag mit Gesetzgebungs- und Budgetkompetenz, dem gegenüber die Reichsregierung begrenzt verantwortlich war, war Ausdruck von Gewaltenteilung und Mitbestimmung in einem rechtsstaatlichen Deutschland. Parteien und Parlamentarismus waren fest verankert, und - zumal vor dem Hintergrund einer fortschreitenden gesellschaftlichen Modernisierung - behielten die fortschrittlichen Kräfte im Reichstag ihre Chance für eine generelle Parlamentarisierung Deutschlands, obwohl diese auf absehbare Zeit entge-gen den Intentionen, die die bürgerliche Nationalbewegung noch 1848 geleitet hatten, abgeblockt waren.
Der Kaiser war demgegenüber bei deutlicher Dominanz des monarchischen Prinzips Chef des Militärs und der Exekutive, er ernannte den Reichskanzler mit dessen alleiniger Verantwortung für die Außenpolitik. Die führenden Staatsorgane waren aber in durchaus attraktiv erscheinender Weise zu einer Politik der Konsensfindung gezwungen, ohne diese mußte es zu einem politischen Stillstand in Deutschland kommen.
Auf der anderen Seite spielte Bismarck bei dieser strukturellen Umformung Europas und Deutschlands aber auch in friderizianischem Sinne um Deutschland Vabanque und dies unter erheblichem Säbelrasseln und mit viel Glück. So konnten die Kriege gerade noch in dem glimpflicheren Stil alter Kabinettskriege durchgeführt werden. Doch der Krieg gegen Frankreich zeigte gegen Ende dann doch schon Elemente eines modernen Volkskrieges mit einer zerstörenden Gewalt, die Kriegen alle Rechtfertigung nimmt.
Faßt man die Leistungen Bismarcks in der Reichsgründungszeit zusammen und konzentriert sich dabei auf die Legitimität und Zweckmäßigkeit seines Tuns entsprechend den Kriterien des 19. Jahrhunderts, so ergibt sich ein überaus beeindruckendes Resultat. Frei nach Hannah Arendt bestehen geglückte Revolutionen darin, daß sie eine in außen- und innenpolitischer Hinsicht nicht mehr zeitgemäße Ordnung ablösen und durch eine rechtlich normierte beziehungsweise geordnete, gewaltenteilige beziehungsweise plurale und vor allem freiheitliche Ordnung ersetzen, die im Laufe der Zeit ausbaufähig und modernisierbar ist. Ohne Abstriche gilt, daß Bismarcks Staatsgründung dieser Norm entsprach. Unter Berücksichtigung von Grundelementen der alten Ordnung, die wie die konstitutionellen und föderativen Ansätze in Deutschland oder die Großmächteordnung in Europa ausbaufähig waren, wurde Deutschland zum konstitutionellen Einheitsstaat und zu einem neuen Kraftzentrum in Europa.
Die Liste der Vorbehalte gegen das Werk Bismarcks aufgrund einer Einblendung der Gesamtgeschichte des 19. Jahrhundert wie der des 20. Jahrhunderts ist aber lang. Zu erörtern sind hier drei Aspekte. Vielfach steht die Verfassungsfrage im Vordergrund. Fortschrittsorientierte Beobachter sahen mit Sorge die Rückschrittlichkeit der Reichsverfassung von 1870/71 mit ihrem monarchischen Schwerpunkt gegenüber der der Paulskirche. Liberalen und Demokraten wurde - wie schon im Deutschen Bund und in der Revolution 1848/49 - auch in der preußischen Staatskrise und bei der Reichsgründung die Schaffung eines parlamentarischen Regierungssystems versagt, und diese Kette von Niederlagen mußte sowohl Modernisierungen Deutschlands erschweren wie auch die Weimarer Republik belasten.
Aus Revolutionsfurcht genügte Bismarck jedoch diese Zurückdrängung des Bürgertums nicht, mit der Ausgestaltung von Länderkammer und Verwaltung konstruierte er zusätzliche Sperren gegen Veränderungen im Staatsgefüge. Der Bundesrat war nominell sogar das bedeutendste Verfassungsorgan, was faktisch zwar nicht stimmte. Doch dominiert von der preußischen Regierung, die keinen fortschrittlichen preußischen Landtag zu fürchten hatte, und gestützt auf preußische Beamte, lief ohne dieses Gremium, das nicht öffentlich und unkontrolliert tagte, im Deutschen Reichs nichts. Den Konservativen war damit mit dem Bundesrat eine Vetoposition in Deutschland zugefallen. Die bittere Konsequenz war, daß sich im Kaiserreich zunehmend gravierende Gegensätze zwischen den Klassen sowie zwischen Stadt und Land auftaten; vor dem Ersten Weltkrieg, als die Staatsorgane sich wechselseitig geradezu blockierten, wurde schließlich der Ruf nach einer neuen inneren Reichsgründung laut.
Der zweite, noch genauer vorzustellende Komplex ist der einer Militarisierung Deutschlands bei Schaffung einer entsprechenden Staatstradition. Bismarck ließ es bei den Weichenstellungen in der Zeit der preußischen Staatskrise nicht bewenden. Er war als erfolgreicher Gestalter der drei Einigungskriege Hauptnutznießer der Heeresreform, die die schnellen Siege ermöglicht hatte. Und nach diesen Siegen, vor allem bei der Kaiserproklamation in Versailles, aber auch insgesamt bei der Ausformung einer politischen Kultur in Deutschland mit politischen Festen, förderte er nachhaltig das Bild, daß Deutschland allein auf diesen Einigungskriegen gründe. Diese wurden ihrerseits zu drei gewaltigen Hammerschlägen stilisiert, die bei Bedarf jederzeit wiederholt werden könnten. Sprechend ist, daß Siegessäulen und Militärdenkmäler aus dem Boden schossen und im übrigen monarchischer Glanz und martialisches Gehabe angesagt waren. Heute noch kann man dies an dem in Koblenz am Deutschen Eck gen Frankreich reitenden Wilhelm I. oder an der Bismarck-Statue in Hamburg ablesen. Selbst einfachste Gedenkstätten für die deutsche Nationalbewegung, etwa Erinnerungen an 1848, wurden demgegenüber rigoros verboten, und die gesamte deutsche Geschichte wurde nach den preußischen Nationalfarben schwarz-weiß eingefärbt.
Fragt man nach dem Sinn von Bismarcks Tun, so stößt man wieder auf seine Absicht, die vollendete Veränderung in Deutschland definitiv abzuschließen. Zu offenkundig gab es für ihn nach 1871 die "Gefahr", daß die liberale Nationalbewegung entsprechend ihren programmatischen Vorgaben die ihr gebotene Chance für einen Ausbau ihrer Mitbestimmungsrechte ergreifen und in einem fortschreitend bürgerlichen Staat eine Übernahme der politischen Führungsrolle versuchen würde. Doch damit nicht genug. Bismarck mußte auch damit rechnen, daß diese - gelockt durch ihre alten Ideale und fasziniert von dem imperialen Glanz der anderen Mächte - die Reichsgründung als bloße Etappe auf dem Weg in die Weltpolitik sehen würde. Wie ein Damoklesschwert hing über Deutschland die Versuchung einer popu-listischen revisionistischen Außenpolitik, die bis zur Selbst-zerstörung führen konnte. Bismarcks monarchisch-martialische und antidemokratische Staatstradition hatte also nicht zuletzt die Funktion eines Schutzes vor diesen Kräften und einer Sicherung der Existenz Deutschlands.
Dem alten Preußen mit seinen traditionellen Führungskräften traute er anders als den Liberalen und Demokraten offenkundig eine Zertrümmerung der von ihm geschaffenen politischen Strukturen nicht zu. Nicht zuletzt deshalb wollte er dem Kaiserstaat mit dessen alten Eliten und dessen Heer Glanz verleihen, aber eben nicht als Anreiz für neue Kriege oder neue nationalpolitische Husarenstücke, sondern um die Revolution von 1848 abzuriegeln und deren ambitionierte Akteure und Nachfolger zu zügeln. Was Bismarck nicht sah, war, daß auch seine gehätschelten alten Eliten, deren Kraftgefühl er unaufhörlich förderte, auf Dauer gesehen gegen die imperialistischen Viren der Zeit keineswegs immun waren. Nicht zuletzt preußische Traditionalisten sollten sich schließlich als destruktive Träger einer künftigen deutschen Weltpolitik anbieten. Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß Bismarck den Hauptmann von Köpenick zwar nicht wollte, für ihn indirekt aber mitverantwortlich war, und daß er mit einer antidemoratischen Kultur zwar eine Politik der Stabilität im Auge hatte, diese aber keineswegs erreichte.
Sorgen mußte schließlich auch die äußere Reichsgründung bereiten. Schlimm genug waren schon die grundsätzlichen Probleme der deutschen Ost- und Westgrenze, die zu Dauerbelastungen führten. Im Osten erkannte Bismarck zwar die elementare Notwendigkeit eines dauerhaften Interessenausgleichs mit Rußland; diese Einsicht ist gerade vor dem Hintergrund des heutigen Ruins Osteuropas gar nicht hoch genug einzuschätzen. Doch der angestrebte Ausgleich beruhte auch auf einer Fortsetzung des Unrechts der Teilung Polens. Und im Westen provozierte Bismarck mit der Annexion Elsaß-Lothringens einen anhaltenden Revisionismus Frankreichs.
Alles entscheidend aber war die Frage der Stabilität der neuen Ordnung Europas, die nicht erreicht werden konnte. Bismarcks Umformung der europäischen Ordnung Metternich´scher Prägung produzierte geradezu eine abermalige Labilität und Unsicherheit. So war es unumgänglich, daß die übrigen Großmächte gegen den neuen deutschen, militärgestützten und gerade noch akzeptablen Staat Mißtrauen haben mußten. Deutschland war zu Wohlverhalten, zur Defensive, zum Verzicht auf politisches Auftrumpfen und Machtgewinn verpflichtet. Ein entsprechendes Verhalten mußte allen politischen Parteien in Deutschland ständig vermittelt werden, was eine Aufgabe darstellte, die Ende des 19. Jahrhunderts immer schwerer wurde; obwohl die deutsche Nationalbewegung keineswegs saturiert war, gab es für die deutsche Außenpolitik nämlich keine Chance mehr zu einer Vorwärtsbewegung.

D Bismarck als Reichskanzler

1871-1890

Allgemein wird behauptet, daß Bismarcks Tätigkeit als Reichskanzler der Glanz und die Gestaltungskraft der Vorjahre fehlte. In der Tat modifizierte Bismarck sein Werk kaum noch, den weiteren Entwicklungen vor allem der pluralistischen Industriegesellschaft stand er fremd und starr ablehnend gegenüber. Als besonders problematisch und kritikwürdig gilt die Innenpolitik Bismarcks. Doch auch hier waren große Erfolge und Leistungen unübersehbar; so das rasche Zusammenwachsen der Nation, die Verankerung der konstitutionellen Monarchie, auch wenn Bismarck selbst mit Staatsstreichplänen drohte, die Schaffung eines Rahmens zur Entfaltung der Industriegesellschaft und die sozialpolitischen Gesetze, die international zum bis heute geltenden Maßstab wurden.
Zum Dauerproblem wurde es, daß Bismarck im Reichstag keine Mehrheit in seinem Sinne erhielt. Er hatte darauf gebaut, daß das demokratische Wahlrecht das konservativmonarchische Landvolk zum ausschlaggebenden Faktor machen würde; gerade dieses sollte durch "seinen" Staatsmythos erreicht und politisch bei der Stange gehalten werden. Bei den ersten Wahlen zum Reichstag behielten die Nationalliberalen jedoch ihre Mehrheit, da die Wahlbeteiligung noch nicht hoch war, dann aber griff schon die Industrialisierung mit ihrer Verstädterung, was nicht nur dem Bürgertum zugute kam, sondern auch zu dem bekannten Aufschwung der Sozialisten führte.
Bismarcks Hinwendung zu den Nationalliberalen als Juniorpartner hatte daher die Konsequenz, daß diese der ersten Phase seiner Kanzlerschaft bis 1878 in erheblichem Maße ihren Stempel aufdrückten. Viele Verfassungsprobleme waren gemäß Bismarcks Motto, "setzen wir Deutschland sozusagen in den Sattel, reiten wird es schon können", in der Schwebe gelassen worden, jetzt begann Deutschland nationalliberal zu reiten. Diese Partei gewann an Selbstbewußtsein, und prompt sah Bismarck eine revolutionäre Sturzflut auf Deutschland zukommen. Die konservative Wende der Jahre 1878/80 war die Folge, die dem deutschen Liberalismus die nächste, nunmehr schon fünfte Niederlage zufügte. Bei Bismarcks politischen Manipulationen, die zur Entmachtung der Liberalen führten, gab es sogar wieder politische Anklänge an die marode Zeit Friedrich Wilhelms IV.
Schlimme Folgen hatten auch Kulturkampf und Sozialistengesetz, als Bismarck den Untergang Deutschlands durch Katholiken beziehungsweise Sozialdemokraten fürchtete. Die schließlich eingeschüchterten Katholiken wurden nach Entlassung Bismarcks dennoch zu einer - wenn auch unterrepräsentierten - staatstragenden Partei. Besonders drastisch war die Ausgrenzung der Arbeiterschaft, die diese auch einte und in die Arme des Marxismus trieb. Bei der Einschätzung von Bismarcks Wirken ist aber auch zu beachten, daß es zu seiner Zeit in keinem Land Europas zu einer irgendwie gearteten politischen Mitbestimmung der Arbeiter kam, zumal in Ländern wie Frankreich, Spanien und Italien Anarchismus und Syndikalismus eine große Rolle spielten. Man kann auch kaum glauben, daß ohne Bismarcks Zutun Liberale und Sozialdemokraten im Kaiserreich früher zusammengefunden hätten. Die angesprochene Ausgrenzung von angeblichen Reichsfeinden, die bisweilen willkürlich zu solchen gemacht wurden, gewinnt demgegenüber wieder an Gewicht vor dem Hintergrund der Staat und Gesellschaft polarisierenden Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Reichsgründung besprochen wurden.
Bismarcks innenpolitische Hinterlassenschaft hatte mithin erhebliche Schattenseiten, was aber nichts an dem Befund ändert, daß "sein" Deutschland in Europa hineinpaßte und modernisierbar blieb.
Für die Außenpolitik galt, daß nicht zuletzt wegen der Hinausdrängung der Habsburgermonarchie aus Mitteleuropa supranationale Elemente fehlten. Neukonstruktionen solcher Art, wie sie dann in Wilsons League of Nations in Erscheinung treten sollten, lagen in weiter Ferne. Funktionieren mußte ein informelles Großmächtesystem, getragen von einer hinreichenden und wechselseitigen Solidarität der Staaten. Das war eine immens schwere Aufgabe, zumal in einem Zeitalter dynamischer, technischer und industrieller Entfaltung. Döhring-Manteuffel hat gezeigt, daß England als mächtigste und entwickeltste Macht der Zeit als erste mit dem Gedanken einer Zerschlagung Rußlands und damit der völligen Ausschaltung einer Großmacht liebäugelte. Machtpolitisches Auftrumpfen einzelner Staaten, aber auch deren Stagnation, konnte Alteuropa mit seinem Großmächtesystem zum Einsturz bringen, ebenso das Überhandnehmen expansiver oder revanchistischer Ziele Einzelner. Auf der anderen Seite ist unverkennbar, zu welchem Aufblühen Europas die Jahrzehnte zwischen Reichsgründung und 1914 führten. Für die Staaten mit ihren Bürgern und Arbeitern sollte es schließlich viel zu verlieren geben, als diese Ordnung in den Weltkriegen unterging.
Bismarcks Rolle in dieser außenpolitischen Situation war von einer bestechend klaren Einsicht gekennzeichnet: Deutschland war machtpolitisch an seine Grenzen vorgestoßen und mußte eine Politik der Saturiertheit betreiben; wie nebenbei gelang es ihm hierbei, noch ein bescheidenes Kolonialgebiet zu erwerben. Zu seinen Grundeinsichten gehörte es, daß Rußland und Frankreich nicht auf Dauer besiegt oder niedergehalten werden konnten. Folglich lehnte er - was wiederholt gefordert wurde - Präventivkriege nach Osten oder Westen zur Errichtung einer stabilen Vorherrschaft Deutschlands ab. Er betrieb eine Friedenspolitik ohne Alternative.
Vor diesem Hintergrund ist auch Bismarcks Bündnispolitik positiv zu bewerten. Zur Friedensbewahrung mußten sogar selbst widersprüchliche Bündnisse herhalten. Abzuwarten blieb dabei, ob in einer unruhiger werdenden Welt Kriege nur aufgeschoben wurden oder ob die gezügelten Leidenschaften der Nationen dauerhaft besiegt werden konnten. Einleuchtend erscheint auch das Grundschema seiner Bündnisse: Zunächst wurde zwischen Deutschland und Österreich bei Beibehaltung der Souveränität beider Staaten im Zweibund ein Sonderverhältnis geschafften. Sodann war angestrebt, daß sich Deutschland zu England mit Hilfe Rußlands und Frankreichs ein Gegengewicht schuf; zu Rußland mit Hilfe Österreichs und Englands, zu Frankreich mit Hilfe Österreichs. Die Hauptbedrohungen des Friedens, die sich hierbei dennoch nicht abbauen ließen, stellten der Revisionismus Frankreichs und die Balkankrisen mit den Offensiven Rußlands und Österreichs dar. Vor dem Hintergrund solcher Unsicherheiten kann nicht von einem Versagen Bismarcks gesprochen werden, wenn er in steigendem Maße durch Ängste vor feindlichen Koalitionen geplagt wurde und wenn sich die außenpolitische Lage Deutschlands zuspitzte.
Problematisch sind zwei Felder von Bismarcks Außenpolitik: Zum einen wurden Kongresse als Chancen zum Interessenausgleich zur Wahrung der Solidarität der Mächte nicht genutzt; der Berliner Kongreß 1878 stellte eine Ausnahme dar. Solche internationalen Tagungen hätten ein Bindeglied zwischen dem starren Kogreßsystem des frühen 19. Jahrhunderts und modernen supranationalen Foren dargestellt, doch Bismarck beharrte auf der Souveränität der Großmächte und betrieb einen Kult der Politik der freien Hand. Ursache war eine Furcht vor Kongressen, da er erwartete, daß Deutschland auf diesen vor deren Karren gespannt würde und daß die bestehenden Antagonismen nur verschärft würden. Zum anderen hatte er kein rechtes Verständnis von England und dessen Politik. Eine informelle Achse zwischen der weltpolitischen dominierenden Macht England und der halbhegemonialen europäischen Macht Deutschland wurde nicht zu etablieren gesucht. Eine Interessensabsprache beider Staaten als Vormächte des Friedens unterblieb. Beide Probleme resultierten aus Bismarcks politischer Prägung in der Zeit des Deutschen Bundes. Die von ihm selbst mitgestaltete Welt sollte ihm in zentralen Bereichen unverständlich bleiben.
Ein Sonderproblem stellen sicher die Rücktrittskrise und die unwürdige Entlassung Bismarcks 1890 dar. Die große ungelöste Frage in diesem Zusammenhang lautet: Wollte Bismarck mit seinen Staatsstreichallüren tatsächlich die Verfassung rückwärts revidieren, im Grunde also seine Hinwendung zur liberalen deutschen Verfassungsbewegung ungeschehen machen, die zur Juniorpartnerschaft zwischen Bismarck und den Liberalen zwischen 1866 und 1878 geführt hatte und die damit für das Deutsche Reich konstitutiv geworden war? Oder wollte er, sich gegen die traditionelle Führungsschicht auflehnend, den Konstitutionalismus durch ein Hereinholen des Zentrums in die Regierung wieder flott machen?
Ein Extrakapitel verdienen würde auch Bismarcks Leben als Ruheständler in Friedrichsruh 1890 bis 1898. Deutlich ist heute, daß hier eine menschliche Tragödie stattgefunden hat. Schon 1888 hatte er bei der Eröffnung des Hamburger Freihafens gesagt: "Meine Herren, hier ist eine Welt, die ich nicht mehr verstehe." Als er von der Politik als seiner Lebensader abgeschnitten wurde, vereinsamte er völlig. Er verfiel schließlich körperlich und zeigte sich machtbesessen und rachsüchtig. Bisweilen wartete er dabei mit hellsichtigen Prognosen auf; so prophezeite er den Ersten Weltkrieg und Katastrophen sowie eine denkbare bessere Zukunft Deutschlands als Republik. Als politisch bedeutsamer aber erwies es sich, daß er nicht mehr als Speerspitze gegen jene Chauvinisten zu wirken bereit war, die in Wilhelminischer Zeit sein Lebenswerk zu zertrümmern suchten und die es schließlich auch zertrümmern sollten. Gerade diejenigen, die "nationale Größe" forderten, pilgerten zu Bismarck und fanden, da sie sich oftmals im Gegenlager zur Regierung befanden, dessen - meist apokryptischen und vagen Segen. Meist ohne großes eigenes Zutun wurde er damit vollends zur nationalistischen Gallionsfigur, was nur als tragisch zu kennzeichnen ist.
Zusammenfassende Schlagwörter zur Kennzeichnung Bismarcks wollen mir nach diesen Ausführungen nicht einfallen. Bismarck war kein Heros und kein Urpreuße, kein einsamer Genius und keine Ausnahmeerscheinung. Doch auch die schwarz in schwarz gezeichneten Bilder, die seine Gegner von ihm zeichneten, stimmen nicht. Wichtig erscheint demgegenüber all das, was mit Blick auf die Reichsgründung als eine geglückte Revolution gesagt wurde, und was die Schattenseiten und die Tragik seines Tuns betrifft, so möchte ich diese Seiten keineswegs beschönigen. Letztlich lag es aber in der Hand seiner Nachfolger und der späteren Generationen in Europa, was aus seinem Erbe wurde.

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Günter Wollstein

Günter Wollstein, geb. 1939, studierte Geschichte, Politik und Latein an den Universitäten Marburg und Berlin, promovierte 1972 (Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler.../Argo Bonn-Bad Godesberg 1973) und legte 1976 seine Habilitationsschrift zum Thema Das "Großdeutschland" der Paulskirche. Nationale Ziele der bürgerlichen Revolution 1848/49 (Düsseldorf 1977) vor.
Wollstein lehrt seit 1972 an der Universität Köln Geschichte der Neuzeit. Von ihm sind zahlreiche Beiträge, insbesondere zur deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erschienen.



Reichsgründungen 1848/49 und 1870/71 weitere Seiten des Goethe-Instituts

Arbeitsauftrag:

  • Stellen Sie die Grundpositionen des Autors zur Person Bismarck zusammen. 
  • Erklären Sie die Kontroversen um die Beurteilung Bismarcks.
  • Erstellen Sie aus der Biographie Wollsteins ein Plakat zum Werk Bismarcks.  

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