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Leitartikel der EV 127
vom 3.6.1932
Die Dolchstoßlegende bildet einen Teil der großen nationalsozialistischen Lüge,
mit der sich die Reaktion seit vierzehn Jahren wieder an die Macht zu schleichen
bemüht. Die Dolchstoßwahrheit aber ist die, daß die früher herrschenden
Schichten schon im Weltkrieg sich politisch und moralisch als unzulänglich
erwiesen haben. Sie haben den Krieg nicht zu verhindern, nicht militärisch zu
siegen, ja, nicht einmal rechtzeitig Schluß zu machen verstanden. Der Eigennutz
und der Klassendünkel haben im Krieg wahre Orgien gefeiert. Großagrariern und
Schwerindustriellen war er bequemster und größter Profit.
Jedesmal, wenn es nicht weiter ging, haben sich „die Edelsten der
Nation" seitwärts in die Büsche geschlagen und anderen überlassen, zu
retten, was noch zu retten war. Die Sozialdemokraten haben das am Schluß des
Ruhrkrieges ebenso erfahren, wie am Ende des Weltkrieges. Jetzt, wo der Krieg
dank der immer stärker nationalistisch gefärbten Außenpolitik und dem rücksichtslosen
Klassenegoismus des Großbesitzes zum drittenmal verloren geht, wird es zum
erstenmal anders. Die Reaktion wittert ihre Chance, und die Beutemacher zeigen
keine Klugheit. Jetzt begibt sich die deutsche Reaktion freiwillig in eine Lage,
die ihr innerstes Wesen offenbaren muß.
Der Plan war fein gesponnen. Nach der Konferenz von Lausanne sollte die
Regierung Brüning wegen ihrer „neuesten Niederlage", eben dieser
Lausanner Konferenz, im Orkus verschwinden. Daß Lausanne schon aus rein
sachlichen Gründen nicht den endgültigen Abschluß der Reparationsfrage
bringen konnte, und daß die nationalistischen Treibereien, das kraftmeierische
Geblödel der Nationalsozialisten und vor allem der Sturz Gröners durch seine
eigenen Untergebenen die Situation noch weiter verschlechtert hatten, wußten
die Drahtzieher wohl. Aber sie wollten sich in das gemachte Bett legen: ohne außenpolitische
Verantwortung und mit dem Hinweis darauf, daß Brüning und die
„Marxisten" die Situation eben verfahren hätten, gedachten sie in der
inneren Politik ihren Raub in Sicherheit zu bringen. Die Generäle glaubten
ihren persönlichen Ehrgeiz befriedigen und ihre selbstverliehene Rolle der
nationalen Sendung zur Erweckung der deutschen Wahrhaftigkeit spielen zu dürfen.
Die große Industrie meinte eine radikale Unschichtung in der steuerlichen und
sozialen Lastentragung vornehmen und das Prinzip der sozialen Versicherung
verschwinden lassen zu können. Die norddeutschen Großgrundbesitzer aber
meinten, ihr Bankrott lasse sich jetzt als Schicksalsfrage der deutschen Nation
aufputzen. Die große Revolte der inflationshungrigen Schuldner, der Aufstand
der Untüchtigen, die fremde Hilfe und Privilegien wollen, ist das tiefste
Prinzip dieser Bewegung, die Frage: „Wie lebe ich am besten auf fremde
Kosten?" ihr letztes Motiv.
Alle diese Wünsche sind jetzt mit aller Kraft lebendig. Aber die
Voraussetzungen, unter denen sie verwirklicht werden sollten, sind doch nicht
eingetreten. Brüning hat die Unhaltbarkeit dieser Position erkannt und - durch
die Rechnung fuhr ein dicker Strich. Er ließ sich nicht dazu herbei, den andern
erst die Kastanien aus dem Feuer von Lausanne zu holen, um sich dann fortjagen
zu lassen. Als er vom Reichspräsidenten keine Zusicherungen über dessen
Haltung zu ihm für die Zeit nach Lausanne erhalten konnte, ging Brüning. Und
jetzt treten die Leute aus dem Dunkel auf einmal und etwas zu früh für ihren
Geschmack ins Rampenlicht verantwortlicher internationaler Politik. Und wie
stehen sie da! Wenn es nicht um das deutsche Schicksal ginge, man käme aus dem
Lachen über diese Heroen einfach nicht mehr heraus. Dieses „Kabinett der Persönlichkeiten",
die sich nur deswegen als Persönlichkeiten aufspielen dürfen, weil sie
gesellschaftlich aus einer bestimmten Schicht stammen.
Die neue Regierung ist ohne Möglichkeit und ohne Fähigkeit, in Lausanne
etwas zu erreichen. Ein erfolgreicher Reichskanzler von Papen ist in der
internationalen Politik undenkbar. Daß dieser Mann überhaupt zum
privisorischen Lenker deutscher Politik berufen werden konnte, zeigt die
grauenhafte politische Unbegabung der deutschen Reaktion. Amerika und England
lehnen ihn wegen seiner Spionage- und Sabotagetätigkeit in den Vereinigten
Staaten während des Krieges ab. Dabei ist besonders peinlich, daß die angelsächsische
Presse mit unnachahmlicher Ironie feststellt, daß nicht am schlimmsten diese Tätigkeit,
sondern der Umstand sei, daß von Papen sich als schlechter Spion erwiesen und
sich furchtbar töricht und ungeschickt bei diesem Geschäft angestellt habe.
Das ist die Anerkennung der Persönlichkeit und ihrer Qualitäten gerade in den
beiden Ländern, auf deren Hilfe der neue Außenminister von Neurath (auch ein
Kapitel, über das noch vieles gesagt werden muß!) mit größter Bestimmtheit
rechnet. Wenn demgegenüber von der Versöhnlichkeit von Papens gegenüber den
Franzosen geredet wird, dann sei hier festgestellt, daß Deutschlands neuester
Kanzler wohl verwandtschaftliche Bindungen mit der französischen
Schwerindustrie hat, dem französischen Volk aber und seiner Linksregierung
weltenfern steht. Seine ganze Franzosenpolitk besteht in der Propagierung der
Militärallianz mit der Spitze gegen Osten. Darum ist man in Paris über den
neuen Mann ebenso verstimmt wie in London und Washington. Sein Außenminister
aber ist ein Mann, von dem die ganze Welt weiß, daß er von vornherein gegen
den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund war. Jetzt fehlt nur noch, daß zum
Führer der deutschen Delegation in Lausanne - Herr Dr. Schacht ernannt wird,
der Unterhändler von Haag ruhmreichen Angedenkens anno 1929. Wir segeln mit
vollem Wind in die Katastrophe.
Dieses Kabinett des antiquierten preußischen Adels - das gerade darum von
der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei toleriert wird - mutet an wie ein
Gespensterreigen aus den Tagen Wilhelms II. Zustandegekommen ist es ja auch nach
den bewährten Methoden des Kaiserreichs. Die Clique der Unverantwortlichen, die
seit Bismarcks Sturz in jeder Krise ihre Finger drin gehabt hatten, sind in dem
Neudeck der Republik genau so am Werk gewesen wie einst im Mai im Nominten und
Liebenberg des Kaiserreichs. Sie haben die früheren Katastrophen
heraufbeschworen, wie sie es heute tun. Das Vaterland kümmert sie wenig, das
zeigt ihr Dolchstoß zwei Wochen vor Lausanne. Das Volk aber kümmert sie noch
weniger. Wie will man der Finanznot steuern, wie den Gemeinden helfen? Was wird
mit der Wirtschaft, was mit dem Arbeitsmarkt, was mit der Währung? Aus dem
Kauderwelsch der Nationalsozialisten wird man ebensowenig klug wie aus den
pathetischen Beschwörungen der Deutschnationalen. Jede Äußerung widerspricht
der anderen und nichts hat Hand und Fuß. Man weiß nicht recht, täuschen die
Drahtzieher nur andere oder auch sich selbst, wenn sie dem Reichspräsidenten
einreden, er dürfe nicht mehr mit Notverordnungen regieren, sondern müsse
wieder parlamentarische Zustände herbeiführen. An der subjektiven Ehrlichkeit
des Reichspräsidenten zweifeln wir durchaus nicht, aber die ganze Kampagne hat
doch den Zweck, das parlamentarische System für immer wegzuschaffen. Das Ziel
sind ja grundlegende Verfassungsänderungen im Sinne der Autokratie und der
Klassenherrschaft. Der Außenminister von Neurath hat doch wohl für diese
ganzen Kreise gesprochen, als er klug und bescheiden vor einiger Zeit erklärte:
„Ich will nicht Minister werden, solange diese Quatschbude von Reichstag noch
etwas zu sagen hat." - Daß man übrigens nicht im Traum daran denkt, das
System der Notverordnungen zu verlassen, hat der Staatssekretär Meiner
zugegeben. Wie ja überhaupt diese Zartheit gegenüber der Notverordnungspolitik
erst mit reichlicher Verspätung sich bemerkbar macht und gerade in dem
Augenblick, in dem die alte Regierung zum erstenmal den ostelbischen Großgrundbesitzern
an das faule Leder will und die industriellen Klassenhoffnungen auf Vernichtung
des sozialen Versicherungsprinzips enttäuscht. Jetzt beginnt erst der Terror
gegen alles Soziale!
Hier muß Klarheit geschaffen werden. Die deutsche Zukunft darf nicht davon
abhängen, ob General von Schleicher oder die Nazis oder beide zusammen den außen-
und innenpolitischen Zusammenbruch herbeiführen. Die deutsche Arbeiterklasse
ist zu stolz, um abzuwarten, welches Ziel der Macht- und Profithungrigen zum
Schluß den Knochen zwischen den Zähnen behält. Die Not schreit nach Erlösung!
Die kann nur kommen durch die Niederwerfung der anderen, die sich jetzt in ihrem
wilden Drang zur Macht so unklug und voreilig demaskiert haben.
Die deutsche Sozialdemokratie ruft das gesamte Arbeitsvolk auf zum großen
Entscheidungskampf für Klasse und Nation! Die Unglückswahl von 1930, aus der
das politische Zwielicht, die Zersetzung der Demokratie und damit zwangsläufig
die Übermacht der Präsidialgewalt und das System der Notverordnungen entstand,
muß korrigiert werden. Das Volk kann siegen, es braucht nur zu wollen!
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