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Untersuchen Sie folgenden Text aus einem Geschichtsbuch:
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"Moderne" und welche anderen Schlüsselbegriffen werden
gebraucht?
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Die Formierung der Massengesellschaft 1880-1930
In der Nacht vom 14./15. April 1912 rammte die Titanic, das seinerzeit
modernste und sicherste Schiff, auf ihrer Jungfernfahrt nach Amerika
einen Eisberg und sank in kurzer Zeit. Die bis dahin größte
Schiffskatastrophe der Geschichte schockierte die Welt. Die Engländerin
Eva Hart, Überlebende des Unglücks, sagte später: "Ich glaube,
dass die 1500 Menschen, die in jener Nacht starben ... uns als Beispiel
für die Arroganz des Menschen im Gedächtnis bleiben müssen ... Die
Menschen werden weiterhin glauben, sie hätten etwas Vollkommenes
erfunden - wie ein unsinkbares Schiff.
Wir müssen ständig daran erinnert werden, dass das falsch ist - und
ich glaube, dass die Titanic uns daran gemahnen kann."' So zeigte
sich gleichzeitig mit dem Aufbruch in die erhoffte bessere, die moderne
Welt auch deren bedrohlicher Charakter, ihr Doppelgesicht.
Es war der Glaube an den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit, dem
die Aufbruchstimmung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ihre geistige
Schubkraft verdankte. Dieser Glaube hatte seine Wurzeln einerseits in
der Philosophie der Aufklärung mit ihren universalen Ideen der
individuellen Freiheit, der Gleichheit und Rationalität.
Andererseits speiste er sich aus den wachsenden wissenschaftlichen
Erkenntnissen, der technischen Beherrschung der Natur und einer
zunehmenden Produktion von Gütern. Diese Erfahrungen ließen ein
Bewusstsein entstehen, das den Glauben an die unbegrenzte Machbarkeit
der Natur so wie an die Veränderbarkeit der bis dahin als feststehend
geltenden gesellschaftlichen Ordnungen förderte - das "Projekt der
Moderne".
Diese Entwicklung lässt sich in zwei große Schübe einteilen. Mit der
Amerikanischen und Französischen Revolution begann der Kampf des
liberalen und demokratischen Bürgertums um Ausweitung seiner
politischen und gesellschaftlichen Macht sowie um Sicherung seines
Eigentums unter dem Zeichen individueller Selbstbestimmung. Diese
Konflikte erfüllten den größten Teil des 19. Jahrhunderts in den sich
industrialisierenden Staaten. Gleichzeitig grenzte aber das Bürgertum
die sozial Schwächeren und die Frauen von den Errungenschaften, z. B.
Wahlrecht und Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen, weitgehend
aus.
In einem zweiten großen Schub seit Ende des 19. Jahrhunderts stellte
dann die bis dahin ausgegrenzte Masse der unteren sozialen Schichten wie
auch der Frauen ihre Ansprüche auf individuelle Freiheit,
Machtteilhabe, soziale Sicherheit und selbstbestimmte Lebensgestaltung.
Diese Gruppen vermochten dies aber nicht so sehr als einzelne,
unabhängige Individuen zu tun, sondern sie organisierten sich, wie z.
B. in der Arbeiterbewegung. Die Auseinandersetzungen um die Einbeziehung
der Massen in die Herrschaftsausübung und um deren Existenzsicherung im
Sozialstaat bestimmen seither die Politik der Industriestaaten.
Nach 1945 wurden auch die übrigen Regionen der Welt in diesen Prozess
miteinbezogen, wie der globale Konflikt zwischen der Ersten und Dritten
Welt zeigt. Der britische Soziologe Peter Wagner kennzeichnet den ersten
Schub als "eingeschränkte liberale Moderne" und den zweiten
als "organisierte Moderne". Entscheidendes Merkmal beider
Entwicklungen ist wiederum deren Doppelgesichtigkeit im Wechselspiel von
individueller Freiheit und sozialer Disziplinierung. Die Moderne brachte
zwar eine ungeahnte Erweiterung der Freiheit, aber auch die ungeahnte
Menschenverachtung von Auschwitz hervor.
Wenn im folgenden die Herausbildung der modernen Massengesellschaft
dargestellt wird, ergibt sich eine weitere Spannung: das Problem von
Angeboten der modernen Lebensweise und ihrer Übernahme in die
tatsächliche Lebenspraxis. Während sich von ca. 1880 bis 1930
zunächst die Angebote der Moderne z. B. in der Massenunterhaltung
herausbilden, werden diese oftmals erst mit den 1960er Jahren von der
Mehrheit der Bevölkerung auch wirklich praktiziert. In diesem Prozess
spielen die USA im Vergleich zu den anderen Industriestaaten, wie z. B.
Deutschland, das im Zentrum des folgenden Kapitels steht, ständig eine
Vorreiterrolle. Begriffe wie z. B. "Amerikanisierung" dienen
seither zur Umschreibung dieses Prozesses.
In den 1970er Jahren führen Energiekrise, weltwirtschaftliche
Depression und der informationstechnologische Neuerungsschub das
"Projekt der Moderne" in eine Gesamtkrise: Die
"organisierte Moderne" in Form der westlichen
Massenzivilisation des demokratischen und sozialen Wohlfahrtsstaates
stößt an ihre Grenzen; in Form der sozialistischen Staaten ist sie
zusammengebrochen. In den westlichen Staaten lockern sich die
organisierten, kollektiven Bindungen der Bürgerinnen und Bürger an
Parteien, Verbände, Gewerkschaften oder Vereine; das Bewusstsein
solidarischer Verbundenheit in der Gesellschaft nimmt ab. Und die
Individualisierung droht die Gesellschaft so weit zu atomisieren, dass
gesamtgesellschaftliche Interessen kaum mehr verfolgt werden können.
Aus: Geschichtsbuch. Hrsg. Prof.Dr.H.K.Günther-Arndt
u.a.Cornelsen.1996,S.9
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