Von der Schulbank in den Tod
Gefallen bei Langemarck
10. November 1924: Die Aula des
städtischen Gymnasiums zu B. ist mit schwarz-weiß-roten Fahnen und
frischem Tannenreisig geschmückt. Neben einem schwarz verhüllten
Gebilde steht eine Rednertribune.
Der Pedell weist den Schulklassen im Sonntagsstaat ihren Platz zu. Während
die Schüler stehen müssen, werden die Ehrengäste von Lehrern - viele
haben ihre alte Uniform angezogen - zu ihren Stühlen geführt.
Erwartungsvolle Feierlichkeit erfüllt den Raum . . .
Schließlich ertönt vom Pedell
ein lautes: "Achtung! Stillgestanden!"; der Schulchor stimmt
auf der Empore die "Wacht am Rhein" an. Dann steht der
Oberstudiendirektor auf - auch er in einer arg eng sitzenden
Reserve-offiziersuniform - und schreitet nach vorne.
Er verneigt und räuspert sich,
dann beginnt er mit geübter Stentorstimme zu sprechen: "Wieder
einmal haben wir uns hier versammelt, um derer zu gedenken, die in der
Blüte ihrer Jahre ihr Leben unserem teuren Vaterlande gewidmet haben!
Ich bin stolz und glücklich, daß auch Schüler dieses Gymnasiums unter
diesen Helden waren, die freudig in den Kampf zogen. Kann, ja darf es
etwas Schöneres geben als den Heldentod fürs Vaterland zu sterben . .
.?"
Schon nach den ersten Worten ist
die Rede durch ein unterdrücktes Schluchzen aus der ersten Reihe gestört
worden, jetzt aber wird die Eloge durch eine ältere Frau unterbrochen,
die aufsteht und ruft: "Es waren doch noch Kinder! In den Tod habt
ihr sie geschickt für eine verlorene Sache!"
Die Versammlung ist peinlich berührt;
der Oberstudiendirektor findet als erster die Sprache wieder: "Frau
Wilmer, die Erinnerung und der Schmerz haben Euch wohl übermannt; Ihr
wißt nicht mehr, was Ihr redet. Gerold, führen Sie die arme Frau
hinaus!" Der Pedell versteht den Wink und zerrt die Widerstrebende
mit sich in die Hausmeisterwohnung.
"Nehmen Sie erst einmal einen
Schluck Tee, Frau Wilmer", sagt er nicht unfreundlich. Die setzt
sich hin, hört von Ferne noch die Worte "Dulce et decorum est
pro patria mori" ("Süß und ehrenvoll ist es, fürs
Vaterland zu sterben") und flüstert dann vor sich hin: "Es
war doch alles ganz anders!"
Sie zieht ein Bündel Briefe aus
ihrer Handtasche, die Schrift ist kaum mehr zu lesen . . .
München, 1. August 1914
Liebe Mutter,
nie werde ich diesen Tag
vergessen. Kaum hatten wir das Gerücht gehört, da eilten wir auch
schon vom Biergarten am Chinesischen Turm in die Ludwigsstraße.
Vor der Feldherrnhalle stand
ein Trommlerkorps mit blitzenden Pickelhauben. Als ein Feldwebel die
Kriegserklärung an Rußland und Frankreich verlas, jubelten alle;
Strohhüte flogen in die Luft. Nie habe ich das Deutschlandlied so inbrünstig
gesungen gehört, ich schämte mich meiner Tränen nicht. Überall Militärmusik,
wildfremde Menschen fielen sich in die Arme.
Es hat wohl sein müssen, und
unsere Sache ist gerecht. Viel zu lang haben Kaiser und Kanzler gezögert,
das Schwert zu ziehen. Aber wie sagt das Dichterwort: "Es kann der
Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!
"
Auch für mich gibt es nun kein
Halten mehr. Ade, schöne Ludwig-Maximilian Universität, die ich eben
erst betreten habe! Wie alle meine Kommilitonen habe ich mich
sofortfreiwillig gemeldet!
5. August 1914,
München (noch immer!)
Hurra! Endlich habe ich meine
Beorderung: heute in der Türkenkaserne. Gestern habe ich mich fast
geschämt, als ich Doris (ich habe Dir ja von ihr geschrieben) traf:
noch immer in Zivilkleidern!
Habe auch Deinen kurzen Brief
erhalten. Ich verstehe, daß Du Angst hast, mich zu verlieren. Aber in
solchen Zeiten darf man nicht zuerst an seine Angehörigen denken,
sondern an Volk und Vaterland . . .
*
Dortmund, 20. August 1914
Was für eine Enttäuschung!
Man will uns freiwillige Studenten und Schüler noch nicht sofort zur
Front schicken. Wir üben hier Krieg. Ein paar alte, tattrige Offiziere
üben mit uns Gefechtsformationen.
Nun gut, ein paar von uns können
auch nicht sonderlich gut mit dem Gewehr umgehen. Aber es ist grausam,
hier in der Etappe zu sitzen, während unsere Truppen kurz vor Paris
stehen! Ich fürchte, Weihnachten ist alles vorbei und mein ganzes
Kriegserlebnis ist eine Kaserne in Dortmund!
6. Oktober 1914
(im Eisenbahnzug westwärts)
Es ist soweit! Vor wenigen
Stunden haben wir Dortmund verlassen. Das ganze Bataillon marschierte,
Uniform und Helme mit Blumen geschmückt, zum Bahnhof. Unermüdlich Tücherschwenken
aus allen Fenstern und Straßen, tausend Hurras!
Bisher sind Franzosen und Engländer
noch einmal davongekommen. Aber jetzt werden wir es ihnen zeigen. Die
Stimmung ist gut, wir werden drauflosgehen "wie Blücher"!
Wir werden siegen! Das ist bei unserem Siegeswillen gar nicht anders möglich.
Mach Dir keine Sorgen!
16. Oktober 1914, irgendtwo
in Flandern
Ich höre fernes Schießen von
der Front. Wir sitzen hier, spielen Karten oder Schach, lesen Zeitung
oder schreiben Briefe. Vor zwei Tagen kamen wir zum Regiment und zwar in
eine vorgeschobene Stellung.
Wir lagerten in verlassenen
Bauernhäusern; plötzlich regnete es Granaten und lnfanteriesalven auf
uns herab. Wir gingen in die Keller, aber als die Franzosen näher
kamen, mußten wir doch hinaus. Und wir hatten keine Schützengräben
oder sonst gedeckte Stellungen. Das waren schwere Stunden, die vielen
Kameraden das Leben gekostet haben. Erst viel später griff auch unsere
Artillerie in den Kampf ein und zwang den Feind zum Rückzug.
Jetzt schaffen wir uns eine
sichere Stellung, denn wir werden immer wieder stark beschossen,
besonders die englischen Schiffsgeschütze machen uns zu schaffen. Unser
Hauptmann hat uns erklärt, daß wir hier die Stellung halten müssen,
bis unser rechter Flügel mit uns in einer Linie steht . . .
*
28. Oktober 1914, in
Flandern
Mit welchen überschwenglichen
Gefühlen bin ich in diesen Kampf gezogen, liebe Mutter. Und jetzt sitze
ich hier, von Grauen geschüttelt, und genieße jeden Atemzug an Leben!
Eigentlich wollte ich Dir von
der großen Schlacht schreiben, von der großen Flandernoffensive, wie
sie unsere Offiziere nennen. Aber mir stehen nur wenige, grauenvolle
Einzelheiten vor Augen, die ich ganz schnell wieder vergessen möchte:
der Kamerad mit dem blutenden Armstumpf, das zerschossene Gesicht eines
Freundes, die nichtendenwollenden Salven englischer Maschinengewehre . .
.
Es war furchtbar, so habe ich
mir den Kampf nicht vorgestellt! Nicht das vergossene Blut, nicht der
Schmerz um die gefallenen Kameraden stößt mich ab, es ist die ganze
Kampfesweise. Wir wollen kämpfen und können uns nicht wehren. Wir
rennen nach vorne, zur nächsten Deckung. Den Feind, der uns mit den tödlichen
Geschossen eindeckt, den sehen wir gar nicht . . .
*
8. November 1914, in
Flandern
Es geht der Entscheidung zu:
Heute um 10 Uhr hatte man uns zum Feldgottesdienst befohlen. In einer
Dorfkirche, die auch als Feldlazarett dient, verlas unser
Divisions-Kaplan eine Bibelstelle, dann sangen wir ein Lied. Nach der
Predigt folgte noch der Choral "Nun danket alle Gott. "
Ich habe das starke Gefühl, daß
wir auch so ein Wunder brauchen wie damals der Alte Fritz in Leuthen . .
.
11. November 1914,
Langemarck
Du wirst Dich wundern, liebe
Mutter daß Du die Handschrift nicht erkennst. Ich diktiere diesen Brief
einem Kameraden in unserem Feldlazarett. Keine Sorge: Ich mache mein
Versprechen wahr, daß ich vor Weihnachten zurück bin! Ich bin von
einer Kugel in die Brust getroffen worden, und der Arzt meint, ich komme
durch. Bald werde ich hinter die Front geschaffL
Wir alle wußten, daß der
entscheidende Angriff begann. Alle Reservekorps - inzwischen sind noch
viele Gymnasiasten und sogar Lehrlinge zu uns gestoßen - befinden sich
hier im Raum zwischen Ypern und Bixmuiden. "Die Jugend", so
sagte unser Kommandant vor der Schlacht, "wird den großen
Durchbruch schaffen!. "
Und so zogen wir im Morgennebel
los, immer in der Hoffnung, der Feind würde uns nicht sehen und wir könnten
ihn überraschen. Aber es kam ganz anders: Donnerschläge und Blitze
zerrissen die Stille. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein! Die Luft
kochte, so stark war das Infanterie- und Maschinengewehrfeuer. Und dann
hauten die Flachbahngeschütze dazwischen.
Überall um mich her Schreien
und Stöhnen, das vergebliche Rufen nach dem Sanitäter. Dann plötzlich
ein Schlag gegen die Brust, dann wurde es schwarz um mich. Und jetzt bin
ich hier in der Dorfkirche aufgewacht, umgeben von vielen verletzten
Kameraden. Die kühle Nachtluft tut gut; ich freue mich, Dich bald
wieder zu sehen.
*
Luxemburg, 16. November 1914
Sehr geehrte Frau Wilmer!
Leider muß ich Ihnen die
traurige Mitteilung machen, daß ihr Sohn Andreas Wilmer den Folgen
eines Lungensteckschusses, den er in der glorreichen Schlacht von
Langemarck erhielt, erlegen ist. Es mag Ihnen ein Trost sein, daß er
sanft und ohne Schmerzen entschlafen ist.
Er starb fur Gott und
Vaterland!
gez.: Kübler,Oberstabsarzt
Die Frau verstaut das Bündel
Briefe wieder in ihrer Tasche. Sie öffnet die Türe der Wohnung des
Pedells und sieht hinüber zur Aula, wo sich der Festakt gerade seinem Höhepunkt
nähert:
"Deutschland, teures
Vaterland! Hat jemand diese Worte, diese Werte erhabener, weihevoller
gelebt als unsere jungen Helden, die ihr Blut bei Langemarck
gaben?"
Nach dieser rhetorischen Frage
herrscht Stille in der Aula des städtischen Gymnasiums. Der
Oberstudiendirektor zieht an einer Schnur, die schwarzen Tücher fallen
und ein Gedenkstein aus schwarzem Marmor wird sichtbar.
"Auf diesem Stein sind die
Namen unserer lieben Mitschüler, die bei Langemarck starben, auf ewig
eingegraben, so wie in unseren Herzen. Ihrer Tapferkeit, ihrer
Opferbereitschaft wollen auch wir gedenken und ihnen versichern, daß
sie nicht vergebens gefallen sind, daß wir ihr Vermächtnis einlösen
und unser teures Vaterland wieder zu neuer Größe führen wollen!"
Während der Schulchor das
Deutschlandlied anstimmt, rinnen der Frau die Tränen über die Wangen.
Aber es sind keine Tränen der Rührung, es sind Tränen der Wut.
"Und sie werden unsere Kinder wieder in den Tod schicken", flüstert
sie, "und niemand wird sie daran hindern!"
-hpp-
Textnachweis:
Peschke, Hans-Peter von: Von
der Schulbank in den Tod. In: G - Journal Geschichte. 1, 1993.
S.6-7.
Bildnachweis:
In: G - Journal Geschichte. 1,
1993. S.7.
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