Antisemitismus in der katholischen Kirche

Goldhagens Buch lösen Diskussionsprozess um den Antisemitismus der katholischen Kirche aus

Daniel Jonah Goldhagen:
Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne

 
 
Interview

Sie haben ein kritisches Buch über die Verstrickung der katholischen Kirche in den Holocaust geschrieben. Aber haben nicht viele Geistliche Juden gerettet?
Ja. Aber untersucht man das Verhalten der katholischen Kirche in dieser Zeit, gibt es da ein Paradox: Da findet man zum einen Barmherzigkeit, die sich von christlichen Prinzipien wie Güte und Nächstenliebe leiten lässt und keinen Unterschied zwischen den Menschen macht. Diese Barmherzigkeit hat viele einzelne Priester und Nonnen dazu bewogen, Juden zu helfen, und sie sind zu Recht dafür gerühmt worden. Zum anderen aber stößt man innerhalb der Kirche und des Klerus auf eine heftige Abneigung gegen Juden: Sie gelten als verfluchtes Volk und als Bedrohung des Christentums, als Christusmörder und notorische Übeltäter. Diese jahrhundertealte christliche Überzeugung wurde noch ergänzt durch die moderne dämonologische Vorstellung, die Juden seien die treibende Kraft hinter dem Bolschewismus, der das Christentum und die westliche Zivilisation zu zerstören suche. Innerhalb der Kirche war das damals die vorherrschende Ansicht, und diese Abneigung hat die Kirche als Institution und viele Geistliche quer durch ganz Europa dazu verleitet, sogar Verbrechen an Juden zu billigen oder selbst zu begehen.

Behaupten Sie eine Komplizenschaft zwischen Kirche und Nationalsozialismus?
Der Nationalsozialismus war ein Feind des Christentums, und auch wenn die Kirchen den Ernst und das Ausmaß dieser Feindschaft oft nicht erkannten, gab es doch wesentliche Reibungspunkte. Aber im Hinblick auf die Judenverfolgung galt das nicht. Die Kirche als solche, die nationalen Kirchen quer durch Europa und viele Geistliche haben in vielerlei Hinsicht zur Notlage der Juden beigetragen. Während viele Kleriker zwar die Verfolgung billigten, nicht aber den Massenmord, unterstützten die Kirchen und Geistliche in einigen Ländern sogar die Deportationen oder beteiligten sich daran. Dass diese Deportationen in den Tod führten, war vielen bekannt. Und obwohl Papst Pius XII. wusste, welche furchtbaren Handlungen seine Geistlichkeit beging, hat er sie nicht in die Schranken gewiesen.

Haben Sie dieses Buch geschrieben, um historische Missverständnisse aus dem Weg zu räumen?
Davon handelt der erste Teil des Buches, in dem ich eine große Auswahl an Material über die Handlungsweisen der katholischen Kirche und ihrer Geistlichen zusammentrage. Vieles davon ist kaum bekannt, und das Bild, das sich ergibt, ist deprimierend. Doch die Fragestellung dieses Buches geht darüber hinaus: Beschäftigt man sich mit diesem Thema, mit dem Holocaust im Allgemeinen oder, noch weiter gefasst, mit großen historischen Verbrechen, gibt es so etwas wie ein moralisches Vakuum - die Frage nach Schuld und Sühne wird nur oberflächlich und klischeehaft behandelt. Genau diese Fragen untersuche ich hier am Beispiel der katholischen Kirche: Wer ist wofür verantwortlich und hat sich in welcher Form schuldig gemacht? Wie ich schon in »Hitlers willige Vollstrecker« deutlich gemacht habe, ist Schuld immer individuell, nie kollektiv. Es geht also darum, Kriterien zu entwickeln, wie sich die schuldhafte Verstrickung des Einzelnen erfassen und beurteilen lässt, auch wenn viele Einzelne sich schuldig gemacht haben. Und daran schließt sich nahtlos die mindestens ebenso wichtige Frage an: Welche Verpflichtungen zu moralischer Wiedergutmachung ergeben sich daraus nach dem Holocaust? In »Hitlers willige Vollstrecker« habe ich mich bemüht zu erklären, wie der Holocaust verübt werden konnte; dieses Buch dreht sich um die Beurteilung derer, die sich auf die verschiedensten Arten und Weisen an der Verfolgung der Juden beteiligt haben, und darum, zu zeigen, wie der Prozess der moralischen Sühne vonstatten gehen sollte.

 

 

Der Theologe Stefan Moritz kommt in einem neuen Buch zu dem Schluss, dass die österreichischen Bischöfe mehr von den NS-Verbrechen wussten als bisher angenommen. Der Historiker Maximilian Liebmann hat aber Bedenken gegen das Buch.

“Grüß Gott und Heil Hitler” heißt das neue Buch des Theologen Stefan Moritz – Untertitel: “Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich”. Die Kritik des Kirchenhistorikers Maximilian Liebmann konzentriert sich auf den Umgang des Autors mit seinen Quellen: “Bei der Behandlung einer so schwierigen Zeit kann man nicht penibel und kritisch genug vorgehen.”

Unvorsichtig und unkritisch

Liebmann wirft dem Autor “zu wenig Vorsicht” im Umgang mit den Quellen vor. So würden auch undatierte Zettel aus dem Nachlass von Kardinal Theodor Innitzer unkritisch als Beleg herangezogen.

“Bischöfe waren gut informiert”

In der Grundaussage widerspricht Liebmann dem Autor allerdings nicht: “Die Bischöfe waren besser informiert als das Gros der Bevölkerung. Vieles haben aber auch sie erst später erfahren. Auch da müsste man differenzierter vorgehen – und weniger plakativ.”

Bisher unveröffentlichtes Material

Das Buch des Wiener Theologen Stefan Moritz ist im Picus-Verlag erschienen. Er zitiert darin aus Protokollen der Bischofskonferenzen aus der NS-Zeit, die bisher gesperrt waren. Im November 1940 hielten die Bischöfe demnach in ihrer jährlichen Konferenz fest, dass ihnen das Ausmaß des “Euthanasie”-Programmes in Österreich bekannt war: “Fünf Anstalten wurden für die Durchführung der Euthanasie bestimmt, u. a. Hartheim, Grafenegg und Waldheim.”

“33 Transporte a 1000 nach Polen”

Als die Bischöfe zwei Jahre später, im November 1942 wieder zu ihrer jährlichen Konferenz zusammentrafen, rollten bereits die Deportationszüge in die Vernichtungslager im Osten. Dazu findet sich im Protokoll des Episkopats lediglich der lapidare Satz: “33 Transporte à 1000 nach Polen abgegangen”.

 

 

Info:

Stefan Moritz, “Grüß Gott und Heil Hitler – Katholische Kirche und Nationalsozialismus”, Picus Verlag, 318 Seiten, 24,90 Euro

 

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Griese. Daniel Jonah Goldhagen nimmt die Auseinandersetzungen um Pius XII. zum Anlass, die Haltung der gesamten katholischen Kirche zur Zeit des Holocaust einer längst überfälligen, kritischen Untersuchung zu unterziehen: Er zeigt, dass die Kirche und der Papst tiefer in den Verfolgungsprozess verstrickt waren, als man bisher angenommen hat. Die Kirchenführer waren über die Verfolgung der europäischen Juden genau informiert. Doch anstatt öffentlich dagegen Stellung zu beziehen und zum Widerstand aufzurufen, unterstützten sie die Verfolgung in vielerlei Hinsicht. Einige Kleriker beteiligten sich sogar am Massenmord. Ausgehend von der historischen Untersuchung, wendet sich der Autor der zentralen Frage von Schuld und Sühne zu: Wie verhält sich die katholische Kirche, die moralische Instanz schlechthin, zu ihrer Verstrickung in den Holocaust?

 

Des Führers treue Katholiken 

Daniel Jonah Goldhagen macht dem Christentum den Prozess, spart den Verteidiger ein und spricht es schuldig

Von Gerhard Besier

 

In seinem jüngsten Buch "Die katholische Kirche und der Holocaust" nimmt Daniel J. Goldhagen nicht nur Papst Pius XII., sondern die katholische Kirche insgesamt ins Visier. Der Katholizismus wiederum steht exemplarisch für das Christentum als Ganzes. Die Kriterien für seine moralische Prüfung - im konkreten Fall des Verhaltens der katholischen Kirche gegenüber den Juden - entnimmt Goldhagen zum einen aus ihrer Lehre selbst, zum anderen beruft er sich auf allgemeingültige moralische Grundsätze.

Die Anklage gegen Pius XII. beginnt Goldhagen mit seiner Entscheidung, den Entwurf der "Enzyklika Humani Generis Unitas" seines Vorgängers 1939 nicht zu veröffentlichen. Er hält Pius XII. für einen unverbesserlichen Antisemiten. Negative Stereotypen des Jüdischen, die er aus seinem Munde anführt, waren in Europa und Nordamerika freilich gang und gäbe. Selbst Emigranten und mit Juden verwandtschaftlich eng verbundene Intellektuelle (das prominenteste Beispiel ist Thomas Mann) waren nicht frei davon.

Insgesamt spielt allerdings der angebliche Antisemitismus Pius XII. in Goldhagens Argumentation nur eine untergeordnete Rolle. Er hält die Konzentration auf den Papst geradezu für einen Trick, um die katholische Kirche zu entlasten. Er will "den Beitrag der katholischen Kirche zu der von Deutschland angeführten Verfolgung und Vernichtung der Juden" herausstellen.

Dass auch die Kirche selbst unter der ständigen Vernichtungsdrohung des NS-Regimes stand, Priester einen hohen Blutzoll zahlten und die Kirche für Katholiken jüdischer Herkunft Beachtliches leistete, hält Goldhagen alles in allem für aufgebauscht und verlogen. Die Kirche "erfindet falsche christliche Märtyrer, falsche christliche Helden und falsche christliche Opfer, und sie erklärt jüdisches Leid zu ihrem eigenen"; man stelle die Sache "so dar, als sei die Kirche zusammen mit den Juden zum Opfer des Nationalsozialismus geworden. Katholiken kommen nicht als Verfolger der Juden vor, sondern werden fälschlich als deren Helfer gefeiert. Die Kirche stellt sich als ein Opfer des Nationalsozialismus dar, das sie in Wirklichkeit nicht war".

Bei seiner Ursachenforschung und der Frage nach den Maßstäben zur Beurteilung des Verhaltens der katholischen Kirche verlässt Goldhagen das Feld der historisch-politischen Analyse und betritt den Raum des Religiösen. Sein Vorwurf an die katholische Kirche lautet, sie habe als "universale moralische Institution" versagt. Sie sei an den Opfern wie an den Tätern schuldig geworden, indem sie nicht nur "normale, von vielen Menschen geteilte moralische Maßstäbe" missachtet habe, sondern auch ihre eigenen: Die Massenmörder hätten sich einer Todsünde schuldig gemacht und seien ihres Seelenheils verlustig gegangen - ohne dass die Kirche sie vor dieser Konsequenz gewarnt habe.

Will Goldhagen in einen moralischen Wettstreit zwischen rivalisierenden Religionen eintreten? Er möchte jedenfalls eine Art Tribunal über das Christentum veranstalten - mit Beurteilungskriterien, Beweiserhebung, Urteilsspruch und "Wiedergutmachung des Schadens". Ihm geht es um die Rehabilitierung und die Wiederaufrichtung des von den Christen abgetanen mosaischen "Gesetzes" und schließlich um die Feststellung, welche Christen überhaupt noch als "Gerechte unter den Völkern" gelten dürfen.

Vor dem Hintergrund der eigenen religiösen Tradition vermag er in der christlichen Erbsünden- und Rechtfertigungslehre vermutlich keine tieferen anthropologischen Einsichten, sondern wohl nur heuchlerische Immunisierungsstrategien zu sehen. Dagegen hebt er die Willensfreiheit des Menschen besonders hervor und betont die Übereinstimmung der katholischen Lehre mit dieser Prämisse. Das Ganze wird als epochaler Revisionsprozess inszeniert, der mit dem Beweis enden soll, dass "die außergerichtliche, de facto strafrechtliche Verurteilung der Juden durch die Deutschen, Slowaken, Kroaten und andere" ein gigantischer Justizirrtum war.

Nach seiner Beweiserhebung kommt Goldhagen zu dem Ergebnis, dass die katholische Kirche und ihr Personal "während des Holocaust insgesamt gefehlt" hätten, weil sie die Juden "für böse und schädlich hielten" und darum gegen ihre "ernsthafte Bestrafung" nichts einzuwenden hatten, obwohl "die Juden vollkommen unschuldig waren". Aber damit nicht genug: Aus den Grundsätzen der kirchlichen Lehre folge, dass das "Verbreiten von Vorurteilen oder Hass, einschließlich des Antisemitismus, eine Todsünde" sei.

Durch ihre Unterstützung verbrecherischer Maßnahmen und teilweise sogar durch ihre Beteiligung an diesen, hätten die Kirchen schwere moralische, ja in einigen Fällen sogar strafrechtlich relevante Schuld auf sich geladen. Statt nach Kriegsende die Bestrafung der Schuldigen zu fordern, habe der Vatikan mit dafür gesorgt, dass sich die Mörder den Justizbehörden der Alliierten hätten entziehen können.

Als "Wiedergutmachung des Schadens" stellt sich Goldhagen - neben energischer historischer Forschung und Gedenkarbeit - nicht weniger vor als eine weit gehende Revision der katholischen Lehre. Danach wäre die katholische Kirche nicht mehr sie selbst, sondern eine pluralistisch orientierte, ökumenische Humanitätsreligion ohne einzigartigen Anspruch auf Heilsuniversalität. Empört wendet sich Goldhagen gegen den nach wie vor bestehenden Missionsanspruch der römisch-katholischen Kirche, der sich allerdings, was er unerwähnt lässt, nicht nur auf die Juden, sondern auf alle Menschen bezieht - sogar Christen außerhalb der römisch-katholischen Kirche.

Für den Verfasser sind die auf Jesu Tod "fixierte" Religion, ihr "fehlgeleiteter Kult des Kreuzes von der Milvischen Brücke bis Auschwitz" und prononcierte Aussagen der "christlichen Bibel" (wie er das Neue Testament nennt) die eigentlichen Ursachen für den 2000 Jahre währenden Antisemitismus. Dass auch die Thora die Aufforderung zum Genozid kennt und Israel sich während seiner, allerdings kurzen, politischen Machtentfaltung tausend Jahre vor Christi Geburt kaum anders verhielt als andere Imperien im Vorderen Orient, scheint Goldhagen nicht bewusst zu sein.

Goldhagens theologischer Kampf gilt vor allem der "Substitutionstheorie", der Überzeugung des Christentums, dass der "alte Bund" durch den Bund des Neuen Testamentes grundsätzlich überboten worden sei. Dabei hält er es anscheinend für möglich, mithilfe historischer Beweisführungen religiöse Lehrsätze zu falsifizieren. Den Anspruch der katholischen Kirche, von den Juden die Anerkennung Jesu Christi als Sohn Gottes zu erwarten, betrachtet er als unerhörte Respektlosigkeit gegenüber dem mosaischen Glauben.

Bei aller Anerkennung der katholischen Lehrrevisionen im Blick auf das Judentum seit dem Zweiten Vatikanum erwartet er sehr viel mehr: eine "Reinigung" der Liturgie und des Neuen Testaments von antisemitisch zu verstehenden Passagen. "Wenn die katholische Kirche eine moralische Institution werden soll, muss sie aufhören, eine politische Institution zu sein." Als vorrangige Aufgabe der katholischen Kirche betrachtet es Goldhagen, wirkungsvolle Maßnahmen gegen den Antisemitismus zu ergreifen.

Darüber hinaus gilt seine Kritik allen "vormodernen" Formen von Religion. "Viele Religionen sind ethnozentrisch, feiern die eigene Gruppe, sind unduldsam gegen andere. Religionen neigen zur Intoleranz gegen andere - das hat sich beim Katholizismus, beim Hinduismus, beim Islam, beim Judentum und bei vielen Formen des Protestantismus gezeigt." Um diesen in allen Religionen schlummernden Gefahren zu begegnen, plädiert er - neben der politischen Entmachtung - für eine Liberalisierung, Pluralisierung und Demokratisierung der religiösen Institutionen und ihrer Lehren.

Lassen sich die dramatischen Folgen religiöser und ethnischer Vorurteile so ahnden und ihre Ursachen so beseitigen? Dass eine Rationalisierung von Vorurteilen, ihre Transformation in objektive "Schuldtitel", schon in sich ein paradoxes Unterfangen ist, dürfte jedem mit sozialwissenschaftlichen Arbeitsweisen einigermaßen vertrauten Historiker unmittelbar einleuchten. Insofern trägt der methodische Zugriff das Unternehmen nicht. Schon gegen Goldhagens früheres Buch "Hitlers willige Vollstrecker" (1996) hatte der Historiker Christopher R. Browning eingewandt, dass der Verfasser nahezu alle apologetischen Aussagen der seinerzeit behandelten Tätergruppe nicht wirklich gelten ließ.

Dieses Eindrucks kann man sich auch im vorliegenden Falle nicht erwehren. "Eine Methode, die kaum etwas anderes kann als die Hypothese bestätigen, die sie eigentlich überprüfen sollte, sollte nicht mit dem Anspruch strenger Sozialwissenschaft auftreten."

Daniel Jonah Goldhagen: Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Siedler, Berlin. 474 S., 19,90 E.

 

ZDF

Pius XII., Papst von 1939 bis 1958, soll selig gesprochen werden. Seit Jahren wird dieses Ansinnen vorangetrieben, das ursprünglich festgesetzte Datum musste jedoch bereits verschoben werden: Zu widersprüchlich sind die Aussagen über Pius' Verhalten während des Holocaust. Während die einen in ihm einen engagierten Helfer und sogar Retter der Verfolgten sehen, halten die anderen ihn für einen eingefleischten Antisemiten.

Daniel Jonah Goldhagen nimmt die Auseinandersetzungen um Pius XII. zum Anlass, die Haltung der gesamten katholischen Kirche zur Zeit des Holocaust einer längst überfälligen, kritischen Untersuchung zu unterziehen: Er zeigt, dass die Kirche und der Papst weit tiefer in den Verfolgungsprozess verstrickt waren, als man bisher angenommen hat.

Schuld und Sühne
      Die Kirchenführer waren über die Verfolgung der europäischen Juden genau informiert. Doch anstatt öffentlich dagegen Stellung zu beziehen und zum Widerstand aufzurufen, unterstützten sie die Verfolgung in vielerlei Hinsicht. Ausgehend von einer historischen Untersuchung wendet sich der Autor der zentralen Frage von Schuld und Sühne zu: Wie verhält sich die katholische Kirche, die moralische Instanz schlechthin, zu ihrer Verstrickung in den Holocaust? Goldhagen entwickelt Kriterien, anhand deren sich die schuldhafte Beteiligung der Institution wie des Einzelnen bewerten lassen.

Der Autor
      Daniel Jonah Goldhagen veröffentlichte 1996 im Siedler Verlag "Hitlers willige Vollstrecker", das weltweit zum Bestseller wurde und unter anderem in Deutschland heftige Debatten auslöste. 1997 wurde er dafür von den "Blättern für deutsche und internationale Politik" mit dem Demokratiepreis ausgezeichnet. Goldhagen ist Mitglied des Minda de Gunzburg Center for European Studies in Harvard.

 

BR 21.10.2002
Autor: Markus Rosch

Daniel Goldhagen ist wieder da. Um sein neues Buch ‚Die katholische Kirche und den Holocaust' zu promoten ist der amerikanische Wissenschaftler in den letzten Tagen quer durch die Republik getourt. Die geschickte Öffentlichkeitsarbeit ist auch bewußt lautstark, denn: Goldhagen will durch Provokationen aufschrecken. Sein Angriffsziel: Die katholische Kirche.

Goldhagens Anklage gegen die Kirche: Seit 2000 Jahren antisemitisch; Mitschuldig am Holocaust und: Die Bibel als Anleitung zum Judenhass. Schon das Titelbild ist eine Provokation. Gekonnt präsentiert Goldhagen seine Thesen. Sein Ziel: Eine moralische Abrechnung mit der Kirche.

Daniel Goldhagen, Schriftsteller (Übersetzung)

"Das Buch ist harter Tobak. Vergesst einfach, ob diese Folgerungen richtig oder falsch sind."

Egal ob richtig oder falsch? Die internationale Fachwelt hört dies mit Erstaunen. Goldhagens Darstellung, Wissen und Quellenkenntnis wird stark angezweifelt.

Prof. Moshe Zimmermann, Historiker Universität Jerusalem

"Es ist immer die Frage, schafft man auf dieser Basis der Quellen, die gegeben ist, mit Hilfe der Sekundärliteratur, eine ausreichende Grundlage, um diese Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Beweisführung führt nicht unbedingt zu den Schlußfolgerungen, die Goldhagen erreicht hat."

Papst Pius XII sieht Goldhagen als notorischen Judenfeind. Goldhagens einzige Quelle: Ein Brief Pacellis - dem späteren Papst Pius XII- aus dem Jahre 1919. Goldhagen zitiert als zentralen Beweis die fehlerhafte deutsche Übersetzung. Das italienische Original -schon 1992 veröffentlicht- scheint Goldhagen nicht zu kennen. Dort ist eine antisemitische Tendenz nicht zu erkennen.

Karl-Joseph Hummel, Kommission für Zeitgeschichte

"Ich kann Ihnen drei Beispiele nennen. Wir haben einmal die Formulierung eine ‚Schar junger Frauen', daraus wird eine ‚Bande', wir haben ‚An der Spitze dieser Gruppe von Frauen' daraus wird die ‚Chefin dieses weiblichen Abschaums', oder wir haben die Formulierung ‚Mit ausdruckslosen Augen', bezogen auf den Anführer Max Levien, daraus wird mit ‚Mit von Drogenmissbrauch gekennzeichneten Augen' . Das heißt die antisemitisch geprägten Sprachklischees, die Goldhagen für seine Interpretation braucht kommen nur durch eine verfälschende Übersetzung zustande, sind im Original selbst nicht enthalten."

Frage Report aus München:

"Ist denn dieser Brief ein Beispiel oder das Beispiel für den Antisemitismus von Pacelli, dem späteren Papst Pius XII?"

Karl-Joseph Hummel, Kommission für Zeitgeschichte

"Goldhagen nimmt diese Quelle als einziges Beispiel für den behaupteten Antisemitismus Papst Pius XII. und erklärt dann noch in zwei anderen Schritten, einmal wir hätten keine andere Quelle, die das Gegenteil behaupte, also müsse man annehmen Pius XII sei deshalb Antisemit gewesen, weil die katholische Kirche keine anderen entlastenden Dokumente vorlegen kann und wir haben eine zweite Behauptung es gebe noch sehr viel mehr Quellen, aber dieses Wissen hätten die Zeitgenossen alle mit ins Grab genommen."

Goldhagen geht noch weiter, ohne die internationale Forschung auch nur zu beachten. Die von Pius XII vorbereitete und 1937 veröffentlichte Encyklica ‚Mit brennender Sorge' sieht er als eindeutig judenfeindlich an. Den harschen Protest der Nazis gegen diese Dokument lässt er unter den Tisch fallen. Goldhagen dazu im Report-Interview.

Daniel Goldhagen (Übersetzung)

"Was in dieser Encyclica überrascht und schockiert ist, dass es dort eine Menge antisemitische Anmerkungen gibt."

Über Goldhagens Aussagen kann sich Thomas Brechenmacher nur wundern. Der Historiker kennt die vatikanischen Archive und die Quellenlage zu Pius XII. Seit mehreren Jahren forscht Brechenmacher zu diesem Thema.

Thomas Brechenmacher, Historiker

"Die Encyklika mit brennender Sorge ist ein eindeutiges Dokument gegen den Nationalsozialismus und gegen den Rassismus, gegen den Antisemitismus und sie ist - diese Zeugnisse gibt es- von den Zeitgenossen so auch verstanden worden."

Ein weiteres Beispiel wie schlampig Goldhagen arbeitet, ist das Bild einer NS-Kundgebung, angeblich in München. In der ersten Auflage behauptet Goldhagen, dass hier der Münchner Kardinal Faulhaber zu sehen sei. Dies hat sich als falsch heraus gestellt. Die Stelle muss nun geschwärzt werden.

Karl-Joseph Hummel, Kommission für Zeitgeschichte

"Das Photo stellt den Nuntius Orsenigo in Begleitung seines Sekretärs Pater Gehrmann dar, am ersten Mai 1934 auf der zentralen Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld in Berlin, wo der Nuntius in seiner Eigenschaft als Doyen des diplomatischen Korps geladen war und offensichtlich auf dem Weg zu seinem Platz ist."

Doch damit nicht genug. Goldhagen stellt auf Grund seiner Behauptungen Forderungen. Nicht nur der Vatikansstaat soll abgeschafft, sondern auch zentrale christlicher Symbole sollen verändert werden. Die Bibel muss seiner Meinung nach an über 450 Stellen umgeschrieben werden.

Daniel Goldhagen (Übersetzung)

"Es gibt über hundert antisemitische Stellen. Das ganze jüdische Volk wird als schuldig bezeichnet, Juden werden als Kinder des Teufels dargestellt und vieles mehr. Die Kirche muss das zugeben und eine Weg finden sicherzustellen, dass dies nicht noch mehr Antisemitismus hervorbringt. Es reicht nicht, wenn die Kirche jetzt sagt, dass sie nicht an die Schuld der Juden glaubt."

Thomas Brechenmacher, Historiker

"Die Bibel, die Evangelien sind die offenbarten heiligen Schriften des Christentums und sie können nicht einfach umgeschrieben werden. Es geht weniger darum die Bibel zu verändern, sondern es geht darum -und das hat auch die römisch-katholische Theologie in den letzten Jahrzehnten gemacht- die entsprechenden Stellen über das Judentum neu auszulegen, neu zu deuten."

Goldhagens Buch: Fehlerhaft und unbedeutend. Da sind sich so ziemlich alle Wissenschaftler einig.

Prof. Moshe Zimmermann, Historiker Uni Jerusalem

"Er findet sich nicht zurecht in der Literatur, die bereits existiert, er versucht etwas anderes zu tun als Geschichte zu schreiben, ohne zuzugeben das er etwas anderes tut und etwas anderes tun will, das ist die große Schwäche."

Daniel Goldhagen (Übersetzung)

"Das Buch ist eine moralphilosophische Untersuchung, kein Werk, das auf Archivforschung basiert. Die Geschichte wird aber fair und aktuell dargestellt."

Thomas Brechenmacher, Historiker

"Wenn sich also Goldhagen auf die Position zurückzieht, ihm sei es gar nicht um Einzelheiten gegangen, sondern um das große Ganze, dann muss man ihm da auch widersprechen, denn er hat das große Ganze als Basis seiner moralphilosophischen Urteile einfach nicht korrekt festgestellt."

Also viel Getöse um doch recht wenig. Viel übrig bleiben von Daniel Goldhagen Buch wird nicht, außer die Erinnerung an eine großen Rummel in der Öffentlichkeit und den Verkaufszahlen.

 

Die Goldhagen-Variationen

Im Rahmen der "Berliner Lektionen" stellte der US-Politologe Daniel Jonah Goldhagen sein neues Buch zur katholischen Kirche im NS-Staat vor

Seit dem Erscheinen seines Bestsellers "Hitlers willige Vollstrecker" ist es hierzulande ein schöner Brauch geworden, Daniel Jonah Goldhagen für alles Mögliche in die Haftung zu nehmen. So warf man ihm vor, die These von der Kollektivschuld der Deutschen beschädige durch ihre schlichte Zuspitzung und mangelnde empirische Unterfütterung die gesamte Historikerzunft. "Unwissenschaftlichkeit" war noch das harmloseste Verdikt. Ebenso befürchtete man neue antijüdische Ressentiments und eine Verschlechterung des deutsch-israelischen Verhältnisses, ungeachtet der Tatsache, dass der Mann amerikanischer Staatsbürger ist.

Dass Goldhagen nun nachlegt und in seinem neuen Buch der katholischen Kirche eine vorbereitende und unterstützende Rolle beim "eliminatorischen Antisemitismus" der Nazis vorwirft, bringt die Gegner von damals gleich wieder auf die Barrikaden. Die einhellig negative Kritik in den deutschen Feuilletons wies Goldhagen sogleich einen groben Recherchepatzer (fälschlicherweise wurde Kardinal Faulhaber auf einem Bild identifiziert, das einen Geistlichen bei einer NS-Kundgebung zeigt) nach, mokierte sich aber mindestens genauso über den moralischen Eifer, mit dem Goldhagen Europas christliche Autoritäten zur Revision der eigenen Geschichte und zur Wiedergutmachung gegenüber dem jüdischen Volk auffordert.

Vielleicht werden einige am Sonntag das Renaissance-Theater, wo Goldhagen im Rahmen der "Berliner Lektionen" seine Thesen diskutierte, schon mit dem Gedanken betreten haben, ihm auch noch die Urheberschaft für den ekligen Schneeregen, das Pfingstwunder im Oktober, anzuhängen. Anders könnte man so manche aggressive Publikumsreaktion und die gereizte Atmosphäre auf dem Podium nicht erklären. Denn Goldhagen trug eigentlich nur Altbekanntes vor. So müsse sich die katholische Kirche endlich stärker zu ihrer Mitverantwortung am NS-Terror bekennen, als dies beispielsweise in der wolkigen Erklärung des Papstes zum Millennium der Fall gewesen sei. Eine neue "Taxonomie der Schuld" und konkrete Schritte - wie eine texthygienische Bearbeitung des Neuen Testaments - seien notwendig, um die Juden vom ewigen Makel zu befreien, sie seien "der ontologische Feind Gottes". Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der Katholiken Deutschlands, konterte, Goldhagen sei über den Stand des innerkirchlichen Klärungsprozesses nicht ausreichend informiert. Vor allem bei der Bewertung von Papst Pius XII. habe er "wichtige Dokumente unterschlagen". Darum sei sein Buch "zutiefst unredlich und nicht einmal als Streitschrift akzeptabel". Zudem sei die Frage, ob eine entschiedenere Positionierung des diplomatisch lavierenden Kirchenoberhaupts gegenüber der NS-Rassenpolitik den Lauf der Geschichte hätte verändern können, rein hypothetisch und daher nicht zu beantworten.

Während Meyer also Goldhagens "agitatorisches Pamphlet" in Bausch und Bogen ablehnte, sprang ihm Julius Schoeps, Leiter des Moses Mendelssohn Zentrums (Potsdam), unterstützend zur Seite. Goldhagen sei es zu verdanken, dass die "symbiotische Beziehung" zwischen Nationalsozialismus und Christentum, gerade in der Person Hitlers, endlich breiter diskutierbar gemacht und der "asymmetrische Blickwinkel" aufgegeben werde. Nun hätte man "eine Debatte, wie sie so in Deutschland noch nicht geführt worden ist".

Georg Denzler, Kirchenhistoriker aus Bamberg und notorischer "Nestbeschmutzer", flüchtete sich nur in lauwarme Selbstkritik. Natürlich sei zu beklagen, "dass die Kirche angesichts der Shoah geschwiegen" habe. Gleichwohl beharrte er auf einer begrifflichen Trennung zwischen biologisch-völkischem Antisemitismus und seiner religiösen Variante. Als er aber anmahnte, die antijüdischen Restbestände im Klerus "auszurotten", unterlief ihm ein bemerkenswerter rhetorischer Lapsus, der für die gesamte Veranstaltung den wohl traurigen Höhepunkt darstellte. Trotzdem: Eine gelungene Publicity für den Siedler Verlag, ohne Frage. Aber keine gute Werbung für die Firma, die das Kreuz in ihrem Briefkopf trägt. " JAN ENGELMANN

taz Nr. 6878 vom 15.10.2002, Seite 14, 137 Zeilen (TAZ-Bericht), JAN ENGELMANN

 

Antisemitismus im Katholizismus:
Moral und Geschichte

Hierzulande scheint es besonders schwer zu sein, offen über moralische Fragen von Schuld und Sühne zu sprechen. Das zeigen die jüngsten Reaktionen auf Daniel Jonah Goldhagens Buch über die Verstrickung der katholischen Kirche in die Verbrechen des Holocaust und die Problematik einer moralischen Wiedergutmachung.

Vor etwa drei Jahren bat Martin Peretz, Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift The New Republic, Daniel Goldhagen um eine ausführliche Besprechung einiger Neuerscheinungen zu Papst Pius XII. Die Arbeit nahm überraschende Ausmaße an und führte Goldhagen, wie er selbst zu Beginn seines Buches erklärt "in eine gänzliche unerwartete Richtung (...), die nicht nur einen längeren Artikel erforderte, sondern auch eine Untersuchung und Abhandlung in Buchlänge, um unsere Frage zu beantworten: Was muss eine Religion der Liebe und Güte tun, um sich ihrer von Hass und Unrecht geprägten Vergangenheit zu stellen und Wiedergutmachung zu leisten?" (S.47)
Der Artikel erschien zunächst in The New Republic vom 21. Januar 2002, das entsprechende Buch, Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, kam in Deutschland am 27. September dieses Jahres in den Handel – oder auch nicht, doch davon später. Als Daniel Goldhagen im Oktober nach Deutschland kam, um sein Buch vorzustellen, stand er sogleich im Zentrum erhitzter Debatten, denn es ging um weit mehr als nur die katholische Kirche. Es ging um so moralisch belastete Begriffe wie Schuld und Sühne, und mit Moral, gar moralischen Urteilen, tun wir uns schwer in der heutigen Zeit, vor allem in Deutschland: "Ein Politikwissenschaftler, ein Historiker, der Moral treibt, der sich hier als Sittenwächter aufspielt, verfehlt sein Fach. Das würde in Deutschland nicht möglich sein." So der Kirchenhistoriker Georg Denzler in einer vom Südwestdeutschen Fernsehen am 10. Oktober übertragenen Podiumsdiskussion mit Goldhagen. Die Historiker, zumal Kirchenhistoriker, hadern wieder einmal gewaltig mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler. Goldhagen, so der Generalvorwurf, habe keine Primärquellen studiert, habe aus zweiter Hand und fehlerhaft zitiert, seine Aussagen seien erstens nicht neu und zweitens vom aktuellen Forschungsstand längst überholt (kurioserweise wird in diesem Zusammenhang von kaum einem Kritiker etwas aktuelleres angeführt als Rolf Hochhuths vor fast 40 Jahren uraufgeführtes Theaterstück "Der Stellvertreter"). Das Buch sei ein Pamphlet, eine Katastrophe und voller Fehler.
Manche dieser Äußerungen erinnern an die Debatten über Goldhagens vor sechs Jahren erschienenes Buch Hitlers willige Vollstrecker. Welche Einwände auch immer gegen Goldhagens Thesen bestanden oder bestehen mögen, Stil und Vehemenz der Abwehr irritieren.

Im Vorwort zu Hitlers willige Vollstrecker schrieb Goldhagen: "Ich möchte mit meiner Beweisführung und Interpretation der Quellen deutlich machen, warum und wie der Holocaust geschah, ja warum er überhaupt möglich werden konnte. Es geht mir dabei um historische Erklärung, nicht um moralische Beurteilung."
Dennoch, so Goldhagen in der Einführung seines aktuellen Buchs: "Hitlers willige Vollstrecker hatte ungewollt einen moralischen Aufruhr ausgelöst und war ständig von einem moralischen Subtext umgeben, der die ausgiebige schriftliche und mündliche Diskussion teilweise entgleisen ließ. (...) Dies alles machte zwar unausgesprochen, aber doch nachdrücklich die bislang weithin gemiedene Frage unausweichlich: Wer ist schuldig in welchem Sinne und wofür?
(...) Sollte Hitlers willige Vollstrecker dazu beitragen, die Umrisse und Ursachen des Holocaust zu erklären und vor allem die Menschen wieder als Akteure dabei zu begreifen, so soll dieses Buch helfen, die moralische Schuld zu klären, die Akteure zu beurteilen und darüber nachzudenken, wie sie das von ihnen begangene Unrecht am besten sühnen können." (S. 11ff)

Mit dieser moralischen Überprüfung der Institution Kirche, speziell der katholischen Kirche, sowie ihrer Vertreter und deren Handlungen angesichts der Judenverfolgung, will Goldhagen keine historische Gesamtdarstellung liefern, sondern vielmehr über den exemplarischen Fall hinaus allgemeingültige Lösungsvorschläge und Denkmodelle für aktuelle und zukünftige Auseinandersetzungen über Verantwortung und Wiedergutmachung entwickeln.

Es beginnt mit der Frage, wie das Verhalten Eugenio Pacellis, des späteren Papst Pius XII. vor und während der NS-Zeit zu verstehen ist. Da Pius XII. zwar ein wichtiger, aber eben doch nur ein kleiner Teil der Institution Kirche ist, dehnt Goldhagen seine Analyse auch auf Papst Pius XI. sowie die nationalen Kirchen, Bischöfe und Priester aus und kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: "Der Antisemitismus war ein fester Bestandteil der katholischen Kirche" (S. 54). Die Belege, die Goldhagen für diese Aussage anführt, stammen zum größten Teil aus eben jenen Büchern, die er für The New Republic besprochen hatte, und auch ein großer Teil seiner Rezension selbst hat in diesen ersten Teil seines Buches Eingang gefunden. Goldhagen macht daraus durchaus kein Geheimnis, sondern verweist absolut korrekt auf den Ursprung seiner Arbeit ebenso wie auf die Quellen – primäre wie sekundäre. Der gelegentlich unterschwellig anklingende Vorwurf, er habe sich quasi unrechtmäßig die Arbeit anderer Wissenschaftler angeeignet, ist ebenso abwegig, wie der Hinweis darauf, dass er nur altbekanntes wiederhole, denn den Anspruch mit diesem Buch als erster unbekannte Fakten ans Tageslicht befördert zu haben, erhebt Goldhagen gar nicht. Ob diese Fakten allerdings einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb der akademischen Zirkel bekannt sind, ist zu bezweifeln.

In jedem Fall birgt Goldhagens Art der Beweisführung aus zweiter Hand gewisse Risiken, die der Kritik eine breite Angriffsfläche bieten. Ein Beispiel, das bereits häufiger zur Sprache kam, ist ein vertraulicher Brief, den Pacelli im April 1919 während eines Aufenthaltes in München schrieb. Für Goldhagen ist dieses Schreiben ein Beweis für die antisemitische Einstellung Pacellis, denn es enthält eine Beschreibung russischer Revolutionäre, in der nicht nur "irgendeine Bemerkung" fällt, sondern die "vielmehr einem Trommelfeuer von antisemitischen Stereotypen und Vorwürfen gleicht" (S.63). Goldhagen zitiert diesen Brief nach John Cornwell und dessen Buch: Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat, und das war wohl ein Fehler.
In der erwähnten Diskussionsrunde des Südwestdeutschen Fernsehens führte der Münchner Historiker Thomas Brechenmacher aus, dass sowohl Cornwell als auch Goldhagen auf eine falsche Übersetzung zurückgegriffen hätten. Brechenbachers korrigierende Wiedergabe vereinzelter Formulierungen aus einem längeren Schreiben kann zwar auch nicht jeden Zweifel ausräumen, was den übrigen Inhalt des Briefes angeht, doch ist eines nicht von der Hand zu weisen: Eine moralische Prüfung und erst recht ein moralisches Urteil erfordern zu allererst eine sorgfältige Beweisführung. Indem Goldhagen sich überwiegend auf die Beschreibungen anderer verlässt, deren subjektive Einschätzungen oder Fehleinschätzungen übernimmt, zusätzliche möglicherweise erklärende Faktoren nicht selbst auslotet, bietet er seinen Kritikern eine höchst willkommene Gelegenheit, die dringend nötige Diskussion über die Beteiligung der Kirchen an der Shoah in einen Buchstabierwettbewerb zu verwandeln. Eine Gelegenheit, die, wie es scheint, umso leidenschaftlicher genutzt wird, als man dadurch der eigentlichen Problematik, die Goldhagen in seinem Buch zu Recht formuliert, elegant aus dem Weg gehen kann.
Trotz mancher Fehler im Detail hat allerdings kein Kritiker ernsthaft behauptet, dass das Gesamtbild, das Goldhagen von der Kirche, insbesondere von den katholischen Kirchen, während der NS-Zeit zeichnet, völlig unzutreffend sei. Selbst innerhalb der katholischen Kirche hört man seit geraumer Zeit das vage Eingeständnis einer Mitschuld an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Vage insofern, als die offiziellen Erklärungen der Kirche, in ihrer Wortwahl erstaunlich weich ausfallen, verglichen mit den sehr viel pointierteren Verlautbarungen zu Themen wie Biotechnologie oder Abtreibung. Im pontifikalen Schuldbekenntnis und der damit verbundenen Vergebungsbitte vom März 2000 hieß es:
"Gott unserer Väter,
du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt,
deinen Namen zu den Völkern zu tragen:
Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller,
die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen.
Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen,
dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes."

"Leiden lassen" ist eine bemerkenswert unpräzise Umschreibung für Verfolgung und Massenmord. Fast genau zwei Jahre zuvor, im März 1998 wurde in einer Erklärung der Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden "Wir Erinnern. Eine Reflexion über die Shoah" zwar vorsichtig eingeräumt, dass die nationalsozialistische Verfolgung der Juden "durch die antijüdischen Vorurteile in den Köpfen und Herzen einiger Christen begünstigt wurde" und dass "vielleicht das antijüdische Ressentiment die Christen weniger sensibel oder sogar gleichgültig" machte gegenüber dem Schicksal der Juden, doch zugleich steht für diese Kommission fest:
"Die Shoah war das Werk eines typischen modernen neuheidnischen Regimes. Sein Antisemitismus hatte seine Wurzeln außerhalb des Christentums (...)"

"Antijudaismus" und Antisemitismus

Diese strikte Unterscheidung zwischen 'antijüdischen Ressentiments', oder Antijudaismus, wie die Vertreter der Kirche es nennen, und 'modernem neuheidnischen Antisemitismus' läßt Goldhagen nicht gelten und verweist unter anderem auf diverse Ausgaben der Jesuiten Zeitung Civiltà cattolica, die, gegründet 1850, gewissermaßen als das Sprachrohr des heiligen Stuhls galt. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber auch unmittelbar vor und nach Hitlers Machtergreifung finden sich in dieser Publikation antisemitische Formulierungen, die von denen eines Julius Streicher in seinem Hetzblatt Der Stürmer kaum zu unterscheiden sind, wie einige Artikel belegen, die Goldhagen in Auszügen zitiert:
"1922 hieß es zum Beispiel: 'Die Welt ist krank [...] Überall werden Völker von unerklärlichen Krämpfen geschüttelt [...]' Wer ist daran schuld? 'Die Synagoge.' 'Jüdische Eindringlinge' steckten hinter Russland und der Kommunistischen Internationale, der größten Gefahr für die Weltordnung. 1936 – die Nürnberger Gesetze waren erlassen, und die Juden in Deutschland standen seit Jahren unter Beschuss – griff Civiltà cattolica auf gängige antisemitische Floskeln der NS-Propaganda zurück und warf den Juden vor, sie seien 'einzig und allein mit den Eigenschaften von Parasiten und Zerstörern versehen' und zögen im Kapitalismus wie im Kommunismus die Fäden, um durch einen Zangengriff die Weltherrschaft an sich zu reißen. 1938 erinnerte sie an 'die anhaltenden Verfolgungen der Christen, insbesondere der katholischen Kirche, durch die Juden und an ihre Allianz mit den Freimaurern, den Sozialisten und anderen antichristlichen Parteien.' (...)
Außerdem schlug sie eine noch extremere Lösung der vermeintlichen Judenfrage vor, in eigenen Worten: 'drastisch feindselig' durch 'Vernichtung' " (S. 111f)

Selbst wenn man unterstellt, diese Artikel seien extreme Ausnahmen, fällt es schwer dem Kirchenhistoriker Georg Denzler zu folgen, der es Goldhagen wiederholt als "Kardinalfehler" ankreidete, nicht zwischen kirchlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus unterschieden zu haben, weil der Antisemitismus, so Denzler wörtlich "bei der Kirche nie als Lehre vertreten ist. Sie müssen mir ein Dokument bringen, wo ein Papst oder ein Konzil die Aufforderung erhebt: 'Schlagt die Juden tot! Wir freuen uns, wenn Ihr die Juden totschlagt.' (...) und da sehe ich den Grundfehler des Buches, dass man hier nicht differenziert, dass man die Judenfeindschaft gleich mit Judenvernichtung identifiziert."
Diese Aussagen verdienen Aufmerksamkeit in zweifacher Hinsicht:
Erstens: Goldhagen lehnt zwar Begriffe wie "traditionelle Judenfeindschaft" oder "Antijudaismus" als verschleiernd bzw. als Selbstentlastungsversuch der Kirchen ab, doch eine Gleichsetzung des kirchlichen Antisemitismus mit Judenvernichtung, wie Denzler sie unterstellt, vollzieht er keineswegs:
"Der allgemeine Ausdruck 'eliminatorisch' sollte daher (...) nicht Töten bedeuten, sondern den Wunsch oder das Bestreben ausdrücken, ein Gebiet auf diese oder jene Weise von Juden und ihrem wirklichen oder eingebildeten Einfluss frei zu machen (...).
Der Antisemitismus, den die Kirche unausgesprochen oder gar offen verbreitet hatte, verlangte, die Juden aus der christlichen Gesellschaft zu eliminieren, beispielsweise durch Zwangstaufe oder Ausweisung, doch ihre massenhafte Ermordung forderten die Kirche und ihre Bischöfe nie, und oft ermahnten sie ihre Gläubigen, keine Gewalttaten zu begehen." (S. 38, Hervorhebung im Original)
An anderer Stelle heißt es: "Bedeuten die Bemerkungen Pius' XII., dass der Charakter seines Antisemitismus derselbe war wie der Hitlers? Natürlich nicht. Es gibt viele Spielarten des Antisemitismus, und sie unterscheiden sich erheblich, was ihre Grundlagen, die Natur der gegen Juden erhobenen Vorwürfe und die Intensität angeht. Bedeutet der Antisemitismus Pius' XII., dass er notwendigerweise jeden Aspekt der Verfolgung der Juden durch die Deutschen billigte? Natürlich nicht." (S. 66)

Zweitens: Die Erklärung, die Kirche habe nie verlangt "Schlagt die Juden tot!" erinnert frappierend an jene zumal im Nachkriegs-Deutschland weit verbreitete Beschwörung "Das haben wir nicht gewollt!" - besonders oft zu hören, nachdem gewöhnliche Deutsche, was auch immer sie zuvor gewußt oder geahnt haben mochten, durch die sogenannten Wochenschauen im Kino oder, auf Druck der Alliierten Besatzung, durch eigene Anschauung gezwungen wurden, das wahre Ausmaß der Verbrechen an den Juden zur Kenntnis zu nehmen.
"Das haben wir nicht gewollt!" - Die Betonung lag fast immer auf dem ersten Wort. - Die Juden totschlagen, Männer, Frauen und Kinder auf so bestialische Art und Weise ermorden, das hat man also nicht gewollt, aber was heißt das schon? Über der Monstrosität des Massenmords in den Vernichtungslagern, dieser tödlichen Endstufe des eliminatorischen Antisemitismus, werden seine alltäglichen Vorläufer gerne bagatellisiert, als hätte die seit 1933 immer weiter fortschreitende publizistische, berufliche und soziale Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft und nicht zuletzt die stillschweigende Billigung wenn nicht gar Unterstützung dieser Maßnahmen durch die Mehrheit der Deutschen, nichts oder doch nur wenig mit den ultimativen Verbrechen des Holocaust zu tun.
Wer wollte das heute noch ernsthaft behaupten? Goldhagen jedenfalls nicht und mit dieser Haltung steht er keineswegs allein. Namentlich genannt seien an dieser Stelle zum Beispiel der Historiker Olaf Blaschke und der Theologe Stefan Moritz. Wie Goldhagen verwies auch Blaschke 1997 in einer brillanten und auf breiter Quellengrundlage basierenden Gesamtdarstellung über Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich auf die apologetische Absicht hinter der Trennung von Antijudaismus und Antisemitismus: "(...) man verschleierte, Antisemit zu sein, während man es doch war." (Blaschke: S. 31)
Goldhagens Einschätzung, " (...) dass der Antisemitismus für die kirchliche Lehre und Theologie ebenso wie für ihre geschichtliche Entwicklung insgesamt zentral war" (S. 253), würde Blaschke nach seiner Untersuchung zwar nicht unterstützen, auch spricht er sich gegen die Kontinuitätsbehauptung eines isolierten 'Auslöschungsantisemitismus' losgelöst vom Kontext des katholischen Diskurses und seiner Motive aus, doch der Schlußsatz seiner Studie läßt aufhorchen:
"Und gegen die aufrichtigen Selbstbezichtiger, die auf die 'Mitschuld' der Christen hinweisen, weil sie gegen ihre Maxime, etwa die Nächstenliebe verstoßen hätten und die Juden aufgrund eines Defizites an christlicher Gesinnung verachtet hätten, steht zuletzt das Resumee: Die Katholiken teilten stabile und auch moderne antisemitische Einstellungen, nicht obwohl sie Christen waren, auch nicht weil sie sich als bloß charakterlose Christen oder als schlechte Katholiken erwiesen. Vielmehr waren Katholiken antisemitisch, gerade weil sie gute Katholiken sein wollten." (Blaschke: S. 337)

Ebenfalls im Herbst 2002 erschien das Buch des Österreichers Stefan Moritz mit dem Titel Grüß Gott und Heil Hitler. Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich. Moritz hat in verschiedenen Staats- und Diözesanarchiven zahlreiche Primärquellen ausgewertet, darunter Hirtenbriefe, Pfarr- und Gemeindeblätter sowie viele weitere offizielle katholische Kirchenpublikationen und er kommt zu dem Ergebnis, dass die katholische Kirche Österreichs sich nach dem sogenannten Wiederanschluss nicht nur notgedrungen irgendwie mit den Nationalsozialisten arrangierte, sondern dieses neue Regime in vielen Fällen durchaus freiwillig unterstützte. Genau wie Goldhagen und Blaschke erkennt auch Moritz in der künstlichen Abgrenzung von Antijudaismus gegen Antisemitismus die Tendenz zur Verharmlosung. Er plädiert für den Begriff des 'katholischen Antisemitismus' und belegt anhand zahlreicher Beispiele dessen untrennbare Verknüpfung mit der modernen Rassenideologie der Nazis, so im Fall des Pfarrers Franz Hlawaty und seiner Gemeinde in Erdberg im Sommer 1938:
"(...) tausende Menschen waren durch die Einführung der Rassengesetze gezwungen, in der Pfarre den Nachweis ihrer Herkunft zu erkunden. Der 'Ariernachweis' war ein lebensnotwendiges Dokument. Für Pfarrer Franz Hlawaty war die 'Mithilfe an der Familienforschung' nicht bloß eine lästige Pflicht oder ein bürokratischer Aufwand, sondern in erster Linie eine wichtige 'Seelsorgearbeit', die dem 'großen Werk des blut- und artgemäßen Aufbaues' der 'Volksgemeinschaft' diente. (...)
Wohl wissend, dass es für die Betroffenen um Leben oder Tod ging, behielt die Kirche diese Praxis auch in den Kriegsjahren bei. Im September 1939 schloss das Erzbischöfliche Ordinariat Wien eine Vereinbarung mit der 'Arbeitsgemeinschaft für Sippenforschung und Sippenpflege' ab. (...) Die Präambel zu dieser Vereinbarung erläuterte den Sinn dieses Vorhabens: 'In der Erkenntnis, dass eine planmäßige Bearbeitung der Kirchenbücher durch Verkartung und Auswertung ihrer Eintragungen den Bluts und Sippengedanken im Deutschen Volke wieder belebt und stärkt und zur Schonung und Erhaltung der Kirchenbücher beiträgt ...' "(Moritz: S. 200; der Autor zitiert nach Ausgaben des Erdberger Pfarrblatts und des Wiener Diözesanblatts aus den Jahren 1938 und 1939)

Die moralische Schuld

Obwohl Stefan Moritz' fundierte Untersuchung der österreichischen katholischen Kirche eine Menge Zündstoff für Debatten – auch in Deutschland – enthält, werden Buch und Autor bis jetzt bei weitem nicht so heftig attackiert wie Daniel Goldhagen. Das ist leicht zu verstehen, denn während Moritz moralische Fragen nach Schuld und Wiedergutmachung in seiner Darstellung weitgehend ausklammert, geht Goldhagen den entscheidenden Schritt weiter. Er holt die Moral aus ihrem gewohnten Versteck zwischen den Zeilen heraus und nennt Schuld und Schuldige beim Namen. In klarer unmissverständlicher Sprache beschreibt er das moralische Versagen einer großen Mehrheit der Kirchenvertreter und ebenso deutlich fällt auch sein Urteil aus:
"Mit Sicherheit können wir sagen, dass eine beträchtliche Zahl von Bischöfen und Priestern willentlich zur Vernichtung der Juden beigetragen hat. Mit Sicherheit können wir ebenfalls sagen, dass der niederschmetternde Mangel an Mitleid mit den Juden, den der Papst und der Klerus bekundeten, ihre Beihilfe zu wichtigen verbrecherischen Akten, ihre Unterstützung für viele weitere Taten und die Tragweite ihrer politischen Verantwortung und Schuld die katholische Kirche eindeutig in die Verbrechen verwickeln, die von Deutschen, Kroaten, Litauern, Slowaken und anderen an den Juden begangen wurden." (S. 221)

Keine Frage, Goldhagens Sprache musste auf den Blätterwald der neblig formulierten Publikationen katholischer Provenienz wie ein Herbststurm wirken. Entsprechend verschnupft reagierten denn auch folgerichtig und lautstark die Vertreter der Kirchen. Immer wieder wird hervorgehoben, wie sehr sie selbst Opfer nationalsozialistischer Verfolgung waren, wie viele Priester von der Gestapo verhaftet worden seien, und selten fehlt der Hinweis auf vereinzelte Lichtgestalten wie jenen Berliner Domprobst Bernhard Lichtenberg, der, nachdem er in seiner Kirche für Juden gebetet hatte, 1941 nach Dachau geschickt wurde, wo er unter ungeklärten Umständen umkam.
Muss hier wirklich noch einmal betont werden, dass Goldhagen keinen Kollektivschuld-Vorwurf gegen alle Katholiken erhebt?
Unbestritten waren die Nazis auch der Kirche gegenüber extrem feindlich eingestellt, doch erstens kann diese Bedrohung wohl kaum auf eine Stufe gestellt werden mit der weitaus tödlicheren Gefahr, in der sich die Juden befanden und zweitens galt gerade für letztere in dieser Zeit mehr denn je die alte Binsenweisheit: Der Feind meines Feindes ist nicht notwendigerweise mein Freund.
Wie groß auch immer die Bedrängnis der katholischen Kirche unter der Nazi-Diktatur gewesen sein mag, sie führte nicht zu einer Solidarisierung mit den Juden oder auch nur zu einem verstärkten Engagement für jüdische Mitbürger, geschweige denn zu einem offenen Protest gegen ihre Verfolgung. Wie Moritz' und Goldhagens Untersuchungen belegen, trat in vielen Fällen eher das Gegenteil ein. Die lobenswerten Ausnahmen, jene christlichen Helfer der verfolgten Juden, die Goldhagen sehr wohl und mit größter Anerkennung erwähnt, handelten fast ausnahmslos auf eigene Initiative und ohne jeglichen Rückhalt in ihrer Kirche.

Die moralische Wiedergutmachung

Vielleicht wäre der Aufschrei der kirchlichen Kritiker etwas leiser ausgefallen, hätte Goldhagen über den Schuldspruch hinaus nicht auch noch verschiedene Formen der Wiedergutmachung diskutiert und dies ausgerechnet unter Anwendung der moralischen Grundsätze, die die katholische Kirche selbst in ihrem Katechismus formuliert:
"Viele Sünden fügen dem Nächsten Schaden zu. Man muss diesen, soweit möglich, wieder gutmachen (zum Beispiel Gestohlenes zurückgeben, den Ruf dessen, den man verleumdet hat, wiederherstellen, für Beleidigungen Genugtuung leisten). Allein schon die Gerechtigkeit verlangt dies."
(Katechismus der katholischen Kirche, Teil II, Abschnitt 2, Kapitel 2, Artikel 4.7, § 1459; siehe auch
www.vatican.va, wo der vollständige Text des Katechismus in englisch, italienisch, lateinisch und spanisch nachzulesen ist)

Für Goldhagen ist jegliche Wiedergutmachung "eine moralische, weil man mit diesem Wort die Verpflichtung benennt, einen moralischen Schaden zu beheben" (S. 283) Dazu gehört neben einer materiellen vor allem eine politische und eben jene rein moralische Wiedergutmachung, die für die katholische Kirche darin bestehen müßte, sich aufrichtig zu ihrer Vergangenheit zu bekennen, sie ehrlich zu bereuen, den Antisemitismus als Ursache des Übels auszumerzen und dafür zu sorgen dass die Institution Kirche "nie wieder Anlass zur Verfolgung von Juden geben wird." (S. 296)

Die von der Kirche ausdrücklich formulierte Pflicht, das "muss" einer Wiedergutmachung wird heute in der Regel von niemandem mehr bestritten, nur über Ausmaß und Durchführung der Sühne gehen die Meinungen auseinander und dies wohl am weitesten, was die rein moralische Wiedergutmachung angeht, die Goldhagen hier diskutiert.
Voller Empörung wirft man ihm vor, dass er die vielen positiven Entwicklungen, nicht zuletzt nach dem zweiten vatikanischen Konzil von 1962, hartnäckig ignoriere. Dazu ist zu sagen: Goldhagen ignoriert diese Veränderungen nicht (siehe S. 296 ff und 352f), doch er bezeichnet sie mehrheitlich als unzureichend. Das ist erstens nicht dasselbe und entspricht zweitens einer Einschätzung, die auch von einigen Katholiken geteilt wird (siehe
www.jcrelations.net). Nach wie vor hält der Vatikan in seinen Archiven eine Fülle von Akten unter Verschluss. Nicht einmal jene katholisch-jüdische Historikerkommission, die eigens vom Vatikan eingesetzt worden war, um dessen Rolle während der Nazi-Zeit zu untersuchen, erhielt uneingeschränkten Zugang zu allen Dokumenten. Angeblich, so heißt es, wolle oder müsse man die Persönlichkeitsrechte noch Lebender schützen. Denkt innerhalb dieser Kirche auch jemand an die Persönlichkeitsrechte der immer kleiner werdenden Zahl der Überlebenden, an ihr Recht, die Wahrheit zu erfahren?
Wie leichtfertig selbst hohe Kirchenvertreter gelegentlich ihre Vergangenheit schönreden, belegen auch die jüngsten Äußerungen Kardinal Lehmanns, der in einem Interview mit der Illustrierten Stern ohne weitere Nachprüfung oder Beweise erklärte, dass "von den etwa 900.000 Juden, die im deutschen Machtbereich überlebt haben, 70 bis 80 Prozent ihre Rettung den verschiedenen päpstlichen Maßnahmen und dem Einsatz der Nuntien verdanken." (Stern Nr. 40 v. 26.09.2002) Dieser Behauptung haben einige Historiker, darunter Raul Hilberg, David Bankier und Sergio Minerbi (der selbst als Kind in einem katholischen Kloster in Rom versteckt wurde und überlebte) prompt und heftig widersprochen. Die Zahlen seien massiv überzogen und nicht zu belegen.
Goldhagen liefert noch eine Reihe anderer Beispiele für die fortbestehende Tendenz der katholischen Kirche, sich durch verschleiernde Formulierungen oder die Überbewertung der eigenen Opferrolle zu entlasten, statt sich ihrer Vergangenheit mit der gebotenen Aufrichtigkeit und Reue zu stellen.
Alleine was diese zuletztgenannten Aspekte moralischer Wiedergutmachung angeht, hätte die Kirche noch einen weiten Weg vor sich, doch um den Antisemitismus auszumerzen und zu gewährleisten, dass die Kirche nie wieder Anlass zu einer Verfolgung der Juden bietet, müsse sie, laut Goldhagen, sowohl ihre religiösen Schriften als auch ihr theologisches Selbstverständnis und ihre politisch-institutionelle Struktur einer kritischen Revision unterziehen.
In der Phantasie einiger Kritiker mutierte Goldhagen damit endgültig zum Katholikenfresser. Entsprechend irrational fielen denn auch manche Kommentare aus, wonach Goldhagen angeblich verlange, die Bibel umzuschreiben, den Vatikan aufzulösen und alles aufzugeben, was den katholischen Glauben ausmache. Den peinlichen Höhepunkt dieser künstlichen Hysterie lieferte Prof. Hans Maier, ehemaliger bayerischer Kultusminister, der bei einer Podiumsdiskussion in München allen Ernstes fragte. "Müssen wir jetzt alle Juden werden?"
Das geht nun allerdings so weit an Goldhagens Aussagen vorbei, dass man sich fragt, ob von der jüngst diagnostizierten Leseschwäche unter deutschen Schulkindern nicht noch ganz andere Altersgruppen betroffen sind.
Nicht die Abschaffung der katholischen Kirche oder Lehre wird verlangt, sondern Reformen. Nicht die Aufgabe des katholischen Glaubens wird gefordert, sondern seine Erweiterung in der Toleranz gegenüber anderen Religionen. Und was die Bibel angeht, sagt Goldhagen: "Um nicht missverstanden zu werden: Ich sage nicht, dass die katholische Kirche ihre Bibel verändern muss." (S. 363)

Das Bibelproblem

Goldhagen ist keineswegs so naiv, dass er sich anmaßt einen annähernd 2000 Jahre alten heiligen Text mal eben korrigieren zu können wie einen schlechten Schulaufsatz, doch er verweist zu Recht auf ein nach wie vor bestehendes Problem: Es gibt im Neuen Testament eine Vielzahl explizit antisemitischer Passagen und Formulierungen, die dem christlichen Europa über Jahrhunderte den Vorwand geliefert haben, Juden als Gottesmörder, Schlangenbrut oder Kinder des Satans zu stigmatisieren, auszugrenzen, zu verfolgen und zu ermorden. Auch heute noch sind diese Begrifflichkeiten geeignet, Argwohn und Vorurteile gegenüber Juden zu fördern (Wer das nicht glauben will, den könnte eine Recherche auf rechtsextremistischen Internetseiten schnell eines besseren belehren).
Die aus der katholischen Lehre selbst ableitbaren Forderungen bezüglich moralischer Wiedergutmachung (den Ruf dessen, den man verleumdet hat, wiederherstellen, für Beleidigungen Genugtuung leisten) besagen, "dass man es nicht zulassen darf, dass das Übel des Antisemitismus, zu dem unbedingt auch der in der christlichen Bibel enthaltene und sie beseelende Antisemitismus zu zählen ist, im Herzen eines Menschen Wurzeln schlägt. Doch die christliche Bibel ist ein heiliger Text, in den man, da er Gottes Wort ist, nach Überzeugung von Katholiken und anderen Christen nicht eingreifen darf. Was soll man tun? Was kann man tun?" (S. 355)
Goldhagen diskutiert verschiedene Lösungsmöglichkeiten von einer Neu-Kommentierung bis zu einer konsequenten Entfernung aller explizit antisemitischen Formulierungen und Passagen des Neuen Testaments. So radikal und verstörend vor allem letztgenannte Überlegung klingen mag, Goldhagen ist nicht so anmaßend zu behaupten, er habe die Lösung bereits gefunden. Vielmehr erklärt er:
"Bei unseren Überlegungen müssen (...) drei Dinge bedacht werden: (1) Es gibt keine offenkundige und einfache Lösung für dieses Problem; (2) sich den problematischen Aspekten der christlichen Bibel zuzuwenden, ist nicht einmal ausschließlich Sache der katholischen Kirche, weil der Text auch von anderen christlichen Kirchen und Christen für heilig erachtet wird; und (3) die Lösung muss, jedenfalls für Katholiken, am Ende aus dem Inneren der Kirche selbst kommen." (S. 364)

Was Goldhagen hier nahe legt, ist eine Art erweitertes vatikanisches Konzil unter Beteiligung aller Christen, sowie Vertretern der jüdischen Religion, mit dem Ziel, gemeinsam zu einer für alle akzeptablen Übereinkunft zu kommen, wie die christliche Bibel zu ergänzen, neu zu kommentieren bzw. zu interpretieren sei, damit sie keine antisemitischen Ressentiments mehr produziert oder fördert.
Ginge es nach den Kirchenvertretern, besteht in dieser Hinsicht allerdings wenig Handlungsbedarf. Immer wieder wird Goldhagen vorgehalten, die jüngste Entwicklung in der Erörterung dieser theologischen Probleme nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Die geforderten Veränderungen in Sachen Bibelauslegung seien längst gängige Praxis.

Gewiss, es gibt gute theologische Bücher und der katholische Religionsunterricht wird heute von einer Reihe progressiver Pädagogen und mit modernen Lehrmitteln gestaltet. Dennoch fragt man sich, warum die in Deutschland derzeit aktuelle Schulbibel, eine explizit "für den Schulgebrauch zugelassene" Einheitsübersetzung des Alten und Neuen Testaments, erschienen im Herder Verlag, noch aus dem Jahr 1979 [!] stammt und seitdem, abgesehen von einer neuen Einbandgestaltung, nicht verändert wurde. Und wie zur Bestätigung Goldhagens findet man ebenda im Evangelium nach Matthäus unter 27,24-26 jene Stelle, an der Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht, und das ganze jüdische Volk ruft: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Der auf der selben Seite mitgelieferte Kommentar dazu lautet: "Das Volk gibt durch die Selbstverwünschung indirekt seine Verantwortung zu." – Was liegt nach dieser Erläuterung näher als die Annahme: 'Irgendwie sind also doch die Juden schuld!'? Auch zu anderen antisemitischen Passagen, von denen Goldhagen einige in seinem Buch zitiert, findet sich in dieser Schulbibel kein erhellender Kommentar. Kann oder besser darf man sich allein darauf verlassen, dass progressive Religionslehrer diese unhistorischen Falschdarstellungen eines ganzen Volkes durch eigene Kommentare oder Sekundärliteratur korrigieren? Diese Schulbibeln – zugelassen 17 Jahre nach dem zweiten vatikanischen Konzil und seit mehr als 20 Jahren nicht überarbeitet – werden bis heute an allen deutschen Schulen benutzt; angesichts dieser Tatsache kann man sich nur wundern, woher einige der Kirchenvertreter die Selbstgewissheit nehmen, Goldhagen vorzuwerfen, er sei nicht auf dem neusten Stand. Ist es nicht überaus berechtigt, auf die schwerwiegende Problematik dieser tatsächlich verleumderischen Bibelstellen hinzuweisen? Oder gelten die Regeln des katholischen Katechismus – den Ruf dessen wiederherstellen, den man verleumdet hat – nur dann, wenn die Geschädigten Katholiken sind?

Erinnert sei zum Beispiel an das Foto mit der falschen Bildunterschrift. Der hohe katholische Würdenträger, der auf besagtem Bild durch ein Spalier von SA-Leuten schreitet, ist nicht Kardinal Faulhaber, wie es in der Bildlegende zunächst hieß, und so erwirkte das erzbischöfliche Ordinariat München umgehend eine gerichtliche Verfügung, die den Vertrieb des Goldhagen-Buches solange unterbinden sollte, bis die strittige Zeile korrigiert wäre. Kardinal Lehmann erklärte in einem kurzen Fernseh-Statement: "(...) es ist natürlich misslich, wenn so etwas dann ausgerechnet einem Mann wie dem Kardinal Faulhaber angelastet wird, der einer der mutigsten Leute war in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus." (12.10.2002, 3sat, Kulturzeit extra) – Über die Rolle Kardinal Faulhabers während der NS-Zeit gehen die Meinungen weit auseinander, aber nehmen wir zu seinen Gunsten einmal das beste an und sagen, er wäre tatsächlich der mutige Mann gewesen, den Kardinal Lehmann in ihm sieht.
Dass sich in Bildlegenden mitunter Fehler einschleichen, ist nicht neu und menschlich verständlich. Ebenso verständlich ist andererseits, dass die Kirche einen vermeintlich aufrichtigen Kardinal nicht in die Nähe der Nazis gerückt sehen will. Dies, so die Kirche, sei eine Verleumdung und damit eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts, das auch noch für Verstorbene gelte. Wie gesagt: ein solcher Einwand ist grundsätzlich berechtigt und verständlich. – Dennoch, mit Blick auf die erwähnten Schulbibeln erscheint die zur Schau getragene Empörung, mit der das Münchner Erzbistum sein Recht einklagte, reichlich scheinheilig, und es drängt sich mit Matthäus 7,3 die Frage auf: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem [eigenen] Auge bemerkst Du nicht?"

Warum tritt die Kirche für das Persönlichkeitsrecht der Juden, für deren unbestreitbares Recht, in der christlichen Bibel nicht länger falsch und verleumderisch dargestellt zu werden, nicht mindestens mit dem selben Engagement ein, wie andererseits für das Persönlichkeitsrecht ihrer eigenen Glaubensbrüder?

Die Bildunterschrift in Daniel Goldhagens Buch wurde korrigiert. Das ist ein relativ einfacher Vorgang bei einem herkömmlichen Buch. Schließlich ist es nicht das Wort Gottes – Allerdings: das war das Neue Testament seinem Ursprung nach auch nicht. Die Autoren dieser Schriften waren Menschen, und wie alle Menschen waren sie nicht frei von Fehlern und Irrtümern. Dies zuzugeben und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, ist nur für die ein Problem, die unbeirrbar an ihrer eigenen Unfehlbarkeit festhalten, und das trifft insbesondere auf die katholische Kirche und ihr traditionelles Selbstverständnis zu.

So gesehen erscheint die eingangs erwähnte Vehemenz, mit der vor allem katholische Kirchenvertreter und Historiker Autor und Buch attackieren, zumindest psychologisch nachvollziehbar. Die interessierte Öffentlichkeit steht dieser Art von Kritik jedoch eher skeptisch gegenüber, und in Erinnerung an ähnliche Töne in den Debatten über Hitlers willige Vollstrecker dürfte sich mancher sagen: Selber lesen wäre auch eine Möglichkeit. Selbst wenn die eine oder andere Detailkritik berechtigt sein mag, und auch wenn man Goldhagens Überlegungen nicht in jeder Hinsicht folgen will oder kann, bleibt festzuhalten, dass die überaus berechtigten Fragen nach Schuld und moralischer Wiedergutmachung bisher wohl selten so deutlich und radikal formuliert wurden wie von Daniel Goldhagen. Die Antworten, besonders jene der katholischen Kirche, stehen in vielen Fällen noch aus.