Des Führers treue Katholiken
Daniel Jonah Goldhagen macht dem Christentum den Prozess, spart
den Verteidiger ein und spricht es schuldig
Von Gerhard Besier
In seinem jüngsten Buch "Die
katholische Kirche und der Holocaust" nimmt Daniel J. Goldhagen nicht
nur Papst Pius XII., sondern die katholische Kirche insgesamt ins
Visier. Der Katholizismus wiederum steht exemplarisch für das
Christentum als Ganzes. Die Kriterien für seine moralische Prüfung - im
konkreten Fall des Verhaltens der katholischen Kirche gegenüber den
Juden - entnimmt Goldhagen zum einen aus ihrer Lehre selbst, zum anderen
beruft er sich auf allgemeingültige moralische Grundsätze.
Die Anklage gegen Pius XII. beginnt
Goldhagen mit seiner Entscheidung, den Entwurf der "Enzyklika Humani
Generis Unitas" seines Vorgängers 1939 nicht zu veröffentlichen. Er hält
Pius XII. für einen unverbesserlichen Antisemiten. Negative Stereotypen
des Jüdischen, die er aus seinem Munde anführt, waren in Europa und
Nordamerika freilich gang und gäbe. Selbst Emigranten und mit Juden
verwandtschaftlich eng verbundene Intellektuelle (das prominenteste
Beispiel ist Thomas Mann) waren nicht frei davon.
Insgesamt spielt allerdings der
angebliche Antisemitismus Pius XII. in Goldhagens Argumentation nur eine
untergeordnete Rolle. Er hält die Konzentration auf den Papst geradezu
für einen Trick, um die katholische Kirche zu entlasten. Er will "den
Beitrag der katholischen Kirche zu der von Deutschland angeführten
Verfolgung und Vernichtung der Juden" herausstellen.
Dass auch die Kirche selbst unter der
ständigen Vernichtungsdrohung des NS-Regimes stand, Priester einen hohen
Blutzoll zahlten und die Kirche für Katholiken jüdischer Herkunft
Beachtliches leistete, hält Goldhagen alles in allem für aufgebauscht
und verlogen. Die Kirche "erfindet falsche christliche Märtyrer, falsche
christliche Helden und falsche christliche Opfer, und sie erklärt
jüdisches Leid zu ihrem eigenen"; man stelle die Sache "so dar, als sei
die Kirche zusammen mit den Juden zum Opfer des Nationalsozialismus
geworden. Katholiken kommen nicht als Verfolger der Juden vor, sondern
werden fälschlich als deren Helfer gefeiert. Die Kirche stellt sich als
ein Opfer des Nationalsozialismus dar, das sie in Wirklichkeit nicht
war".
Bei seiner Ursachenforschung und der
Frage nach den Maßstäben zur Beurteilung des Verhaltens der katholischen
Kirche verlässt Goldhagen das Feld der historisch-politischen Analyse
und betritt den Raum des Religiösen. Sein Vorwurf an die katholische
Kirche lautet, sie habe als "universale moralische Institution" versagt.
Sie sei an den Opfern wie an den Tätern schuldig geworden, indem sie
nicht nur "normale, von vielen Menschen geteilte moralische Maßstäbe"
missachtet habe, sondern auch ihre eigenen: Die Massenmörder hätten sich
einer Todsünde schuldig gemacht und seien ihres Seelenheils verlustig
gegangen - ohne dass die Kirche sie vor dieser Konsequenz gewarnt habe.
Will Goldhagen in einen moralischen
Wettstreit zwischen rivalisierenden Religionen eintreten? Er möchte
jedenfalls eine Art Tribunal über das Christentum veranstalten - mit
Beurteilungskriterien, Beweiserhebung, Urteilsspruch und
"Wiedergutmachung des Schadens". Ihm geht es um die Rehabilitierung und
die Wiederaufrichtung des von den Christen abgetanen mosaischen
"Gesetzes" und schließlich um die Feststellung, welche Christen
überhaupt noch als "Gerechte unter den Völkern" gelten dürfen.
Vor dem Hintergrund der eigenen
religiösen Tradition vermag er in der christlichen Erbsünden- und
Rechtfertigungslehre vermutlich keine tieferen anthropologischen
Einsichten, sondern wohl nur heuchlerische Immunisierungsstrategien zu
sehen. Dagegen hebt er die Willensfreiheit des Menschen besonders hervor
und betont die Übereinstimmung der katholischen Lehre mit dieser
Prämisse. Das Ganze wird als epochaler Revisionsprozess inszeniert, der
mit dem Beweis enden soll, dass "die außergerichtliche, de facto
strafrechtliche Verurteilung der Juden durch die Deutschen, Slowaken,
Kroaten und andere" ein gigantischer Justizirrtum war.
Nach seiner Beweiserhebung kommt
Goldhagen zu dem Ergebnis, dass die katholische Kirche und ihr Personal
"während des Holocaust insgesamt gefehlt" hätten, weil sie die Juden
"für böse und schädlich hielten" und darum gegen ihre "ernsthafte
Bestrafung" nichts einzuwenden hatten, obwohl "die Juden vollkommen
unschuldig waren". Aber damit nicht genug: Aus den Grundsätzen der
kirchlichen Lehre folge, dass das "Verbreiten von Vorurteilen oder Hass,
einschließlich des Antisemitismus, eine Todsünde" sei.
Durch ihre Unterstützung
verbrecherischer Maßnahmen und teilweise sogar durch ihre Beteiligung an
diesen, hätten die Kirchen schwere moralische, ja in einigen Fällen
sogar strafrechtlich relevante Schuld auf sich geladen. Statt nach
Kriegsende die Bestrafung der Schuldigen zu fordern, habe der Vatikan
mit dafür gesorgt, dass sich die Mörder den Justizbehörden der
Alliierten hätten entziehen können.
Als "Wiedergutmachung des Schadens"
stellt sich Goldhagen - neben energischer historischer Forschung und
Gedenkarbeit - nicht weniger vor als eine weit gehende Revision der
katholischen Lehre. Danach wäre die katholische Kirche nicht mehr sie
selbst, sondern eine pluralistisch orientierte, ökumenische
Humanitätsreligion ohne einzigartigen Anspruch auf Heilsuniversalität.
Empört wendet sich Goldhagen gegen den nach wie vor bestehenden
Missionsanspruch der römisch-katholischen Kirche, der sich allerdings,
was er unerwähnt lässt, nicht nur auf die Juden, sondern auf alle
Menschen bezieht - sogar Christen außerhalb der römisch-katholischen
Kirche.
Für den Verfasser sind die auf Jesu
Tod "fixierte" Religion, ihr "fehlgeleiteter Kult des Kreuzes von der
Milvischen Brücke bis Auschwitz" und prononcierte Aussagen der
"christlichen Bibel" (wie er das Neue Testament nennt) die eigentlichen
Ursachen für den 2000 Jahre währenden Antisemitismus. Dass auch die
Thora die Aufforderung zum Genozid kennt und Israel sich während seiner,
allerdings kurzen, politischen Machtentfaltung tausend Jahre vor Christi
Geburt kaum anders verhielt als andere Imperien im Vorderen Orient,
scheint Goldhagen nicht bewusst zu sein.
Goldhagens theologischer Kampf gilt
vor allem der "Substitutionstheorie", der Überzeugung des Christentums,
dass der "alte Bund" durch den Bund des Neuen Testamentes grundsätzlich
überboten worden sei. Dabei hält er es anscheinend für möglich, mithilfe
historischer Beweisführungen religiöse Lehrsätze zu falsifizieren. Den
Anspruch der katholischen Kirche, von den Juden die Anerkennung Jesu
Christi als Sohn Gottes zu erwarten, betrachtet er als unerhörte
Respektlosigkeit gegenüber dem mosaischen Glauben.
Bei aller Anerkennung der katholischen
Lehrrevisionen im Blick auf das Judentum seit dem Zweiten Vatikanum
erwartet er sehr viel mehr: eine "Reinigung" der Liturgie und des Neuen
Testaments von antisemitisch zu verstehenden Passagen. "Wenn die
katholische Kirche eine moralische Institution werden soll, muss sie
aufhören, eine politische Institution zu sein." Als vorrangige Aufgabe
der katholischen Kirche betrachtet es Goldhagen, wirkungsvolle Maßnahmen
gegen den Antisemitismus zu ergreifen.
Darüber hinaus gilt seine Kritik allen
"vormodernen" Formen von Religion. "Viele Religionen sind ethnozentrisch,
feiern die eigene Gruppe, sind unduldsam gegen andere. Religionen neigen
zur Intoleranz gegen andere - das hat sich beim Katholizismus, beim
Hinduismus, beim Islam, beim Judentum und bei vielen Formen des
Protestantismus gezeigt." Um diesen in allen Religionen schlummernden
Gefahren zu begegnen, plädiert er - neben der politischen Entmachtung -
für eine Liberalisierung, Pluralisierung und Demokratisierung der
religiösen Institutionen und ihrer Lehren.
Lassen sich die dramatischen Folgen
religiöser und ethnischer Vorurteile so ahnden und ihre Ursachen so
beseitigen? Dass eine Rationalisierung von Vorurteilen, ihre
Transformation in objektive "Schuldtitel", schon in sich ein paradoxes
Unterfangen ist, dürfte jedem mit sozialwissenschaftlichen Arbeitsweisen
einigermaßen vertrauten Historiker unmittelbar einleuchten. Insofern
trägt der methodische Zugriff das Unternehmen nicht. Schon gegen
Goldhagens früheres Buch "Hitlers willige Vollstrecker" (1996) hatte der
Historiker Christopher R. Browning eingewandt, dass der Verfasser nahezu
alle apologetischen Aussagen der seinerzeit behandelten Tätergruppe
nicht wirklich gelten ließ.
Dieses Eindrucks kann man sich auch im
vorliegenden Falle nicht erwehren. "Eine Methode, die kaum etwas anderes
kann als die Hypothese bestätigen, die sie eigentlich überprüfen sollte,
sollte nicht mit dem Anspruch strenger Sozialwissenschaft auftreten."
Daniel Jonah Goldhagen: Die
katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und
Sühne. Siedler, Berlin. 474 S., 19,90 E.
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Daniel Goldhagen ist wieder da. Um sein
neues Buch ‚Die katholische Kirche und den Holocaust' zu promoten ist
der amerikanische Wissenschaftler in den letzten Tagen quer durch die
Republik getourt. Die geschickte Öffentlichkeitsarbeit ist auch bewußt
lautstark, denn: Goldhagen will durch Provokationen aufschrecken. Sein
Angriffsziel: Die katholische Kirche.
Goldhagens Anklage gegen die Kirche: Seit 2000
Jahren antisemitisch; Mitschuldig am Holocaust und: Die Bibel als
Anleitung zum Judenhass. Schon das Titelbild ist eine Provokation.
Gekonnt präsentiert Goldhagen seine Thesen. Sein Ziel: Eine moralische
Abrechnung mit der Kirche.
Daniel Goldhagen, Schriftsteller (Übersetzung)
"Das Buch ist harter Tobak. Vergesst einfach,
ob diese Folgerungen richtig oder falsch sind."
Egal ob richtig oder falsch? Die internationale
Fachwelt hört dies mit Erstaunen. Goldhagens Darstellung, Wissen und
Quellenkenntnis wird stark angezweifelt.
Prof. Moshe Zimmermann, Historiker Universität
Jerusalem
"Es ist immer die Frage, schafft man auf
dieser Basis der Quellen, die gegeben ist, mit Hilfe der
Sekundärliteratur, eine ausreichende Grundlage, um diese
Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Beweisführung führt nicht unbedingt zu
den Schlußfolgerungen, die Goldhagen erreicht hat."
Papst Pius XII sieht Goldhagen als notorischen
Judenfeind. Goldhagens einzige Quelle: Ein Brief Pacellis - dem späteren
Papst Pius XII- aus dem Jahre 1919. Goldhagen zitiert als zentralen
Beweis die fehlerhafte deutsche Übersetzung. Das italienische Original
-schon 1992 veröffentlicht- scheint Goldhagen nicht zu kennen. Dort ist
eine antisemitische Tendenz nicht zu erkennen.
Karl-Joseph Hummel, Kommission für
Zeitgeschichte
"Ich kann Ihnen drei Beispiele nennen. Wir
haben einmal die Formulierung eine ‚Schar junger Frauen', daraus wird
eine ‚Bande', wir haben ‚An der Spitze dieser Gruppe von Frauen' daraus
wird die ‚Chefin dieses weiblichen Abschaums', oder wir haben die
Formulierung ‚Mit ausdruckslosen Augen', bezogen auf den Anführer Max
Levien, daraus wird mit ‚Mit von Drogenmissbrauch gekennzeichneten
Augen' . Das heißt die antisemitisch geprägten Sprachklischees, die
Goldhagen für seine Interpretation braucht kommen nur durch eine
verfälschende Übersetzung zustande, sind im Original selbst nicht
enthalten."
Frage Report aus München:
"Ist denn dieser Brief ein Beispiel oder das
Beispiel für den Antisemitismus von Pacelli, dem späteren Papst Pius
XII?"
Karl-Joseph Hummel, Kommission für
Zeitgeschichte
"Goldhagen nimmt diese Quelle als einziges
Beispiel für den behaupteten Antisemitismus Papst Pius XII. und erklärt
dann noch in zwei anderen Schritten, einmal wir hätten keine andere
Quelle, die das Gegenteil behaupte, also müsse man annehmen Pius XII sei
deshalb Antisemit gewesen, weil die katholische Kirche keine anderen
entlastenden Dokumente vorlegen kann und wir haben eine zweite
Behauptung es gebe noch sehr viel mehr Quellen, aber dieses Wissen
hätten die Zeitgenossen alle mit ins Grab genommen."
Goldhagen geht noch weiter, ohne die
internationale Forschung auch nur zu beachten. Die von Pius XII
vorbereitete und 1937 veröffentlichte Encyklica ‚Mit brennender Sorge'
sieht er als eindeutig judenfeindlich an. Den harschen Protest der Nazis
gegen diese Dokument lässt er unter den Tisch fallen. Goldhagen dazu im
Report-Interview.
Daniel Goldhagen (Übersetzung)
"Was in dieser Encyclica überrascht und
schockiert ist, dass es dort eine Menge antisemitische Anmerkungen
gibt."
Über Goldhagens Aussagen kann sich Thomas
Brechenmacher nur wundern. Der Historiker kennt die vatikanischen
Archive und die Quellenlage zu Pius XII. Seit mehreren Jahren forscht
Brechenmacher zu diesem Thema.
Thomas Brechenmacher, Historiker
"Die Encyklika mit brennender Sorge ist ein
eindeutiges Dokument gegen den Nationalsozialismus und gegen den
Rassismus, gegen den Antisemitismus und sie ist - diese Zeugnisse gibt
es- von den Zeitgenossen so auch verstanden worden."
Ein weiteres Beispiel wie schlampig Goldhagen
arbeitet, ist das Bild einer NS-Kundgebung, angeblich in München. In der
ersten Auflage behauptet Goldhagen, dass hier der Münchner Kardinal
Faulhaber zu sehen sei. Dies hat sich als falsch heraus gestellt. Die
Stelle muss nun geschwärzt werden.
Karl-Joseph Hummel, Kommission für
Zeitgeschichte
"Das Photo stellt den Nuntius Orsenigo in
Begleitung seines Sekretärs Pater Gehrmann dar, am ersten Mai 1934 auf
der zentralen Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld in Berlin, wo der
Nuntius in seiner Eigenschaft als Doyen des diplomatischen Korps geladen
war und offensichtlich auf dem Weg zu seinem Platz ist."
Doch damit nicht genug. Goldhagen stellt auf Grund
seiner Behauptungen Forderungen. Nicht nur der Vatikansstaat soll
abgeschafft, sondern auch zentrale christlicher Symbole sollen verändert
werden. Die Bibel muss seiner Meinung nach an über 450 Stellen
umgeschrieben werden.
Daniel Goldhagen (Übersetzung)
"Es gibt über hundert antisemitische Stellen.
Das ganze jüdische Volk wird als schuldig bezeichnet, Juden werden als
Kinder des Teufels dargestellt und vieles mehr. Die Kirche muss das
zugeben und eine Weg finden sicherzustellen, dass dies nicht noch mehr
Antisemitismus hervorbringt. Es reicht nicht, wenn die Kirche jetzt
sagt, dass sie nicht an die Schuld der Juden glaubt."
Thomas Brechenmacher, Historiker
"Die Bibel, die Evangelien sind die
offenbarten heiligen Schriften des Christentums und sie können nicht
einfach umgeschrieben werden. Es geht weniger darum die Bibel zu
verändern, sondern es geht darum -und das hat auch die
römisch-katholische Theologie in den letzten Jahrzehnten gemacht- die
entsprechenden Stellen über das Judentum neu auszulegen, neu zu deuten."
Goldhagens Buch: Fehlerhaft und unbedeutend. Da
sind sich so ziemlich alle Wissenschaftler einig.
Prof. Moshe Zimmermann, Historiker Uni
Jerusalem
"Er findet sich nicht zurecht in der
Literatur, die bereits existiert, er versucht etwas anderes zu tun als
Geschichte zu schreiben, ohne zuzugeben das er etwas anderes tut und
etwas anderes tun will, das ist die große Schwäche."
Daniel Goldhagen (Übersetzung)
"Das Buch ist eine moralphilosophische
Untersuchung, kein Werk, das auf Archivforschung basiert. Die Geschichte
wird aber fair und aktuell dargestellt."
Thomas Brechenmacher, Historiker
"Wenn sich also Goldhagen auf die Position
zurückzieht, ihm sei es gar nicht um Einzelheiten gegangen, sondern um
das große Ganze, dann muss man ihm da auch widersprechen, denn er hat
das große Ganze als Basis seiner moralphilosophischen Urteile einfach
nicht korrekt festgestellt."
Also viel Getöse um doch recht wenig. Viel übrig
bleiben von Daniel Goldhagen Buch wird nicht, außer die Erinnerung an
eine großen Rummel in der Öffentlichkeit und den Verkaufszahlen.
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Antisemitismus im Katholizismus:
Moral und Geschichte
Hierzulande scheint es
besonders schwer zu sein, offen über moralische Fragen von Schuld und
Sühne zu sprechen. Das zeigen die jüngsten Reaktionen auf Daniel Jonah
Goldhagens Buch über die Verstrickung der katholischen Kirche in die
Verbrechen des Holocaust und die Problematik einer moralischen
Wiedergutmachung.
Vor etwa drei Jahren bat Martin Peretz,
Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift The New Republic,
Daniel Goldhagen um eine ausführliche Besprechung einiger
Neuerscheinungen zu Papst Pius XII. Die Arbeit nahm überraschende
Ausmaße an und führte Goldhagen, wie er selbst zu Beginn seines Buches
erklärt "in eine gänzliche unerwartete Richtung (...), die nicht nur
einen längeren Artikel erforderte, sondern auch eine Untersuchung und
Abhandlung in Buchlänge, um unsere Frage zu beantworten: Was muss eine
Religion der Liebe und Güte tun, um sich ihrer von Hass und Unrecht
geprägten Vergangenheit zu stellen und Wiedergutmachung zu leisten?"
(S.47)
Der Artikel erschien zunächst in The New Republic vom 21. Januar
2002, das entsprechende Buch, Die katholische Kirche und der
Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, kam in
Deutschland am 27. September dieses Jahres in den Handel – oder auch
nicht, doch davon später. Als Daniel Goldhagen im Oktober nach
Deutschland kam, um sein Buch vorzustellen, stand er sogleich im Zentrum
erhitzter Debatten, denn es ging um weit mehr als nur die katholische
Kirche. Es ging um so moralisch belastete Begriffe wie Schuld und Sühne,
und mit Moral, gar moralischen Urteilen, tun wir uns schwer in der
heutigen Zeit, vor allem in Deutschland: "Ein Politikwissenschaftler,
ein Historiker, der Moral treibt, der sich hier als Sittenwächter
aufspielt, verfehlt sein Fach. Das würde in Deutschland nicht möglich
sein." So der Kirchenhistoriker Georg Denzler in einer vom
Südwestdeutschen Fernsehen am 10. Oktober übertragenen Podiumsdiskussion
mit Goldhagen. Die Historiker, zumal Kirchenhistoriker, hadern wieder
einmal gewaltig mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler.
Goldhagen, so der Generalvorwurf, habe keine Primärquellen studiert,
habe aus zweiter Hand und fehlerhaft zitiert, seine Aussagen seien
erstens nicht neu und zweitens vom aktuellen Forschungsstand längst
überholt (kurioserweise wird in diesem Zusammenhang von kaum einem
Kritiker etwas aktuelleres angeführt als Rolf Hochhuths vor fast 40
Jahren uraufgeführtes Theaterstück "Der Stellvertreter"). Das Buch sei
ein Pamphlet, eine Katastrophe und voller Fehler.
Manche dieser Äußerungen erinnern an die Debatten über Goldhagens vor
sechs Jahren erschienenes Buch Hitlers willige Vollstrecker.
Welche Einwände auch immer gegen Goldhagens Thesen bestanden oder
bestehen mögen, Stil und Vehemenz der Abwehr irritieren.
Im Vorwort zu Hitlers willige
Vollstrecker schrieb Goldhagen: "Ich möchte mit meiner Beweisführung
und Interpretation der Quellen deutlich machen, warum und wie der
Holocaust geschah, ja warum er überhaupt möglich werden konnte. Es geht
mir dabei um historische Erklärung, nicht um moralische Beurteilung."
Dennoch, so Goldhagen in der Einführung seines aktuellen Buchs: "Hitlers
willige Vollstrecker hatte ungewollt einen moralischen Aufruhr
ausgelöst und war ständig von einem moralischen Subtext umgeben, der die
ausgiebige schriftliche und mündliche Diskussion teilweise entgleisen
ließ. (...) Dies alles machte zwar unausgesprochen, aber doch
nachdrücklich die bislang weithin gemiedene Frage unausweichlich: Wer
ist schuldig in welchem Sinne und wofür?
(...) Sollte Hitlers willige Vollstrecker dazu beitragen, die
Umrisse und Ursachen des Holocaust zu erklären und vor allem die
Menschen wieder als Akteure dabei zu begreifen, so soll dieses Buch
helfen, die moralische Schuld zu klären, die Akteure zu beurteilen und
darüber nachzudenken, wie sie das von ihnen begangene Unrecht am besten
sühnen können." (S. 11ff)
Mit dieser moralischen Überprüfung der
Institution Kirche, speziell der katholischen Kirche, sowie ihrer
Vertreter und deren Handlungen angesichts der Judenverfolgung, will
Goldhagen keine historische Gesamtdarstellung liefern, sondern vielmehr
über den exemplarischen Fall hinaus allgemeingültige Lösungsvorschläge
und Denkmodelle für aktuelle und zukünftige Auseinandersetzungen über
Verantwortung und Wiedergutmachung entwickeln.
Es beginnt mit der Frage, wie das
Verhalten Eugenio Pacellis, des späteren Papst Pius XII. vor und während
der NS-Zeit zu verstehen ist. Da Pius XII. zwar ein wichtiger, aber eben
doch nur ein kleiner Teil der Institution Kirche ist, dehnt Goldhagen
seine Analyse auch auf Papst Pius XI. sowie die nationalen Kirchen,
Bischöfe und Priester aus und kommt zu einem niederschmetternden
Ergebnis: "Der Antisemitismus war ein fester Bestandteil der
katholischen Kirche" (S. 54). Die Belege, die Goldhagen für diese
Aussage anführt, stammen zum größten Teil aus eben jenen Büchern, die er
für The New Republic besprochen hatte, und auch ein großer Teil
seiner Rezension selbst hat in diesen ersten Teil seines Buches Eingang
gefunden. Goldhagen macht daraus durchaus kein Geheimnis, sondern
verweist absolut korrekt auf den Ursprung seiner Arbeit ebenso wie auf
die Quellen – primäre wie sekundäre. Der gelegentlich unterschwellig
anklingende Vorwurf, er habe sich quasi unrechtmäßig die Arbeit anderer
Wissenschaftler angeeignet, ist ebenso abwegig, wie der Hinweis darauf,
dass er nur altbekanntes wiederhole, denn den Anspruch mit diesem Buch
als erster unbekannte Fakten ans Tageslicht befördert zu haben, erhebt
Goldhagen gar nicht. Ob diese Fakten allerdings einer breiteren
Öffentlichkeit außerhalb der akademischen Zirkel bekannt sind, ist zu
bezweifeln.
In jedem Fall birgt Goldhagens Art der
Beweisführung aus zweiter Hand gewisse Risiken, die der Kritik eine
breite Angriffsfläche bieten. Ein Beispiel, das bereits häufiger zur
Sprache kam, ist ein vertraulicher Brief, den Pacelli im April 1919
während eines Aufenthaltes in München schrieb. Für Goldhagen ist dieses
Schreiben ein Beweis für die antisemitische Einstellung Pacellis, denn
es enthält eine Beschreibung russischer Revolutionäre, in der nicht nur
"irgendeine Bemerkung" fällt, sondern die "vielmehr einem Trommelfeuer
von antisemitischen Stereotypen und Vorwürfen gleicht" (S.63). Goldhagen
zitiert diesen Brief nach John Cornwell und dessen Buch: Pius XII.
Der Papst, der geschwiegen hat, und das war wohl ein Fehler.
In der erwähnten Diskussionsrunde des Südwestdeutschen Fernsehens führte
der Münchner Historiker Thomas Brechenmacher aus, dass sowohl Cornwell
als auch Goldhagen auf eine falsche Übersetzung zurückgegriffen hätten.
Brechenbachers korrigierende Wiedergabe vereinzelter Formulierungen aus
einem längeren Schreiben kann zwar auch nicht jeden Zweifel ausräumen,
was den übrigen Inhalt des Briefes angeht, doch ist eines nicht von der
Hand zu weisen: Eine moralische Prüfung und erst recht ein moralisches
Urteil erfordern zu allererst eine sorgfältige Beweisführung. Indem
Goldhagen sich überwiegend auf die Beschreibungen anderer verlässt,
deren subjektive Einschätzungen oder Fehleinschätzungen übernimmt,
zusätzliche möglicherweise erklärende Faktoren nicht selbst auslotet,
bietet er seinen Kritikern eine höchst willkommene Gelegenheit, die
dringend nötige Diskussion über die Beteiligung der Kirchen an der Shoah
in einen Buchstabierwettbewerb zu verwandeln. Eine Gelegenheit, die, wie
es scheint, umso leidenschaftlicher genutzt wird, als man dadurch der
eigentlichen Problematik, die Goldhagen in seinem Buch zu Recht
formuliert, elegant aus dem Weg gehen kann.
Trotz mancher Fehler im Detail hat allerdings kein Kritiker ernsthaft
behauptet, dass das Gesamtbild, das Goldhagen von der Kirche,
insbesondere von den katholischen Kirchen, während der NS-Zeit zeichnet,
völlig unzutreffend sei. Selbst innerhalb der katholischen Kirche hört
man seit geraumer Zeit das vage Eingeständnis einer Mitschuld an der
Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Vage insofern, als die
offiziellen Erklärungen der Kirche, in ihrer Wortwahl erstaunlich weich
ausfallen, verglichen mit den sehr viel pointierteren Verlautbarungen zu
Themen wie Biotechnologie oder Abtreibung. Im pontifikalen
Schuldbekenntnis und der damit verbundenen Vergebungsbitte vom März 2000
hieß es:
"Gott unserer Väter,
du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt,
deinen Namen zu den Völkern zu tragen:
Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller,
die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen.
Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen,
dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes."
"Leiden lassen" ist eine bemerkenswert unpräzise Umschreibung für
Verfolgung und Massenmord. Fast genau zwei Jahre zuvor, im März 1998
wurde in einer Erklärung der Kommission für die religiösen Beziehungen
zu den Juden "Wir Erinnern. Eine Reflexion über die Shoah" zwar
vorsichtig eingeräumt, dass die nationalsozialistische Verfolgung der
Juden "durch die antijüdischen Vorurteile in den Köpfen und Herzen
einiger Christen begünstigt wurde" und dass "vielleicht das antijüdische
Ressentiment die Christen weniger sensibel oder sogar gleichgültig"
machte gegenüber dem Schicksal der Juden, doch zugleich steht für diese
Kommission fest:
"Die Shoah war das Werk eines typischen modernen neuheidnischen
Regimes. Sein Antisemitismus hatte seine Wurzeln außerhalb des
Christentums (...)"
"Antijudaismus" und Antisemitismus
Diese strikte Unterscheidung zwischen
'antijüdischen Ressentiments', oder Antijudaismus, wie die Vertreter der
Kirche es nennen, und 'modernem neuheidnischen Antisemitismus' läßt
Goldhagen nicht gelten und verweist unter anderem auf diverse Ausgaben
der Jesuiten Zeitung Civiltà cattolica, die, gegründet 1850,
gewissermaßen als das Sprachrohr des heiligen Stuhls galt. Bereits gegen
Ende des 19. Jahrhunderts aber auch unmittelbar vor und nach Hitlers
Machtergreifung finden sich in dieser Publikation antisemitische
Formulierungen, die von denen eines Julius Streicher in seinem Hetzblatt
Der Stürmer kaum zu unterscheiden sind, wie einige Artikel
belegen, die Goldhagen in Auszügen zitiert:
"1922 hieß es zum Beispiel: 'Die Welt ist krank [...] Überall werden
Völker von unerklärlichen Krämpfen geschüttelt [...]' Wer ist daran
schuld? 'Die Synagoge.' 'Jüdische Eindringlinge' steckten hinter
Russland und der Kommunistischen Internationale, der größten Gefahr für
die Weltordnung. 1936 – die Nürnberger Gesetze waren erlassen, und die
Juden in Deutschland standen seit Jahren unter Beschuss – griff
Civiltà cattolica auf gängige antisemitische Floskeln der
NS-Propaganda zurück und warf den Juden vor, sie seien 'einzig und
allein mit den Eigenschaften von Parasiten und Zerstörern versehen' und
zögen im Kapitalismus wie im Kommunismus die Fäden, um durch einen
Zangengriff die Weltherrschaft an sich zu reißen. 1938 erinnerte sie an
'die anhaltenden Verfolgungen der Christen, insbesondere der
katholischen Kirche, durch die Juden und an ihre Allianz mit den
Freimaurern, den Sozialisten und anderen antichristlichen Parteien.'
(...)
Außerdem schlug sie eine noch extremere Lösung der vermeintlichen
Judenfrage vor, in eigenen Worten: 'drastisch feindselig' durch
'Vernichtung' " (S. 111f)
Selbst wenn man unterstellt, diese
Artikel seien extreme Ausnahmen, fällt es schwer dem Kirchenhistoriker
Georg Denzler zu folgen, der es Goldhagen wiederholt als
"Kardinalfehler" ankreidete, nicht zwischen kirchlichem Antijudaismus
und modernem Antisemitismus unterschieden zu haben, weil der
Antisemitismus, so Denzler wörtlich "bei der Kirche nie als Lehre
vertreten ist. Sie müssen mir ein Dokument bringen, wo ein Papst oder
ein Konzil die Aufforderung erhebt: 'Schlagt die Juden tot! Wir freuen
uns, wenn Ihr die Juden totschlagt.' (...) und da sehe ich den
Grundfehler des Buches, dass man hier nicht differenziert, dass man die
Judenfeindschaft gleich mit Judenvernichtung identifiziert."
Diese Aussagen verdienen Aufmerksamkeit in zweifacher Hinsicht:
Erstens: Goldhagen lehnt zwar Begriffe wie "traditionelle
Judenfeindschaft" oder "Antijudaismus" als verschleiernd bzw. als
Selbstentlastungsversuch der Kirchen ab, doch eine Gleichsetzung des
kirchlichen Antisemitismus mit Judenvernichtung, wie Denzler sie
unterstellt, vollzieht er keineswegs:
"Der allgemeine Ausdruck 'eliminatorisch' sollte daher (...) nicht
Töten bedeuten, sondern den Wunsch oder das Bestreben ausdrücken, ein
Gebiet auf diese oder jene Weise von Juden und ihrem wirklichen oder
eingebildeten Einfluss frei zu machen (...).
Der Antisemitismus, den die Kirche unausgesprochen oder gar offen
verbreitet hatte, verlangte, die Juden aus der christlichen Gesellschaft
zu eliminieren, beispielsweise durch Zwangstaufe oder Ausweisung, doch
ihre massenhafte Ermordung forderten die Kirche und ihre Bischöfe nie,
und oft ermahnten sie ihre Gläubigen, keine Gewalttaten zu begehen." (S.
38, Hervorhebung im Original)
An anderer Stelle heißt es: "Bedeuten die Bemerkungen Pius' XII., dass
der Charakter seines Antisemitismus derselbe war wie der Hitlers?
Natürlich nicht. Es gibt viele Spielarten des Antisemitismus, und sie
unterscheiden sich erheblich, was ihre Grundlagen, die Natur der gegen
Juden erhobenen Vorwürfe und die Intensität angeht. Bedeutet der
Antisemitismus Pius' XII., dass er notwendigerweise jeden Aspekt der
Verfolgung der Juden durch die Deutschen billigte? Natürlich nicht." (S.
66)
Zweitens: Die Erklärung, die Kirche habe
nie verlangt "Schlagt die Juden tot!" erinnert frappierend an jene zumal
im Nachkriegs-Deutschland weit verbreitete Beschwörung "Das haben wir
nicht gewollt!" - besonders oft zu hören, nachdem gewöhnliche Deutsche,
was auch immer sie zuvor gewußt oder geahnt haben mochten, durch die
sogenannten Wochenschauen im Kino oder, auf Druck der Alliierten
Besatzung, durch eigene Anschauung gezwungen wurden, das wahre Ausmaß
der Verbrechen an den Juden zur Kenntnis zu nehmen.
"Das haben wir nicht gewollt!" - Die Betonung lag fast immer auf
dem ersten Wort. - Die Juden totschlagen, Männer, Frauen und Kinder auf
so bestialische Art und Weise ermorden, das hat man also nicht
gewollt, aber was heißt das schon? Über der Monstrosität des Massenmords
in den Vernichtungslagern, dieser tödlichen Endstufe des
eliminatorischen Antisemitismus, werden seine alltäglichen Vorläufer
gerne bagatellisiert, als hätte die seit 1933 immer weiter
fortschreitende publizistische, berufliche und soziale Ausgrenzung der
Juden aus der Gesellschaft und nicht zuletzt die stillschweigende
Billigung wenn nicht gar Unterstützung dieser Maßnahmen durch die
Mehrheit der Deutschen, nichts oder doch nur wenig mit den ultimativen
Verbrechen des Holocaust zu tun.
Wer wollte das heute noch ernsthaft behaupten? Goldhagen jedenfalls
nicht und mit dieser Haltung steht er keineswegs allein. Namentlich
genannt seien an dieser Stelle zum Beispiel der Historiker Olaf Blaschke
und der Theologe Stefan Moritz. Wie Goldhagen verwies auch Blaschke 1997
in einer brillanten und auf breiter Quellengrundlage basierenden
Gesamtdarstellung über Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen
Kaiserreich auf die apologetische Absicht hinter der Trennung von
Antijudaismus und Antisemitismus: "(...) man verschleierte, Antisemit zu
sein, während man es doch war." (Blaschke: S. 31)
Goldhagens Einschätzung, " (...) dass der Antisemitismus für die
kirchliche Lehre und Theologie ebenso wie für ihre geschichtliche
Entwicklung insgesamt zentral war" (S. 253), würde
Blaschke nach seiner Untersuchung zwar nicht
unterstützen, auch spricht er sich gegen die Kontinuitätsbehauptung
eines isolierten 'Auslöschungsantisemitismus' losgelöst vom Kontext des
katholischen Diskurses und seiner Motive aus, doch der Schlußsatz seiner
Studie läßt aufhorchen:
"Und gegen die aufrichtigen Selbstbezichtiger, die auf die 'Mitschuld'
der Christen hinweisen, weil sie gegen ihre Maxime, etwa die
Nächstenliebe verstoßen hätten und die Juden aufgrund eines Defizites an
christlicher Gesinnung verachtet hätten, steht zuletzt das Resumee: Die
Katholiken teilten stabile und auch moderne antisemitische
Einstellungen, nicht obwohl sie Christen waren, auch nicht weil sie sich
als bloß charakterlose Christen oder als schlechte Katholiken erwiesen.
Vielmehr waren Katholiken antisemitisch, gerade weil sie gute Katholiken
sein wollten." (Blaschke: S. 337)
Ebenfalls im Herbst 2002 erschien das
Buch des Österreichers Stefan Moritz mit
dem Titel Grüß Gott und Heil Hitler. Katholische Kirche und
Nationalsozialismus in Österreich. Moritz hat in verschiedenen
Staats- und Diözesanarchiven zahlreiche Primärquellen ausgewertet,
darunter Hirtenbriefe, Pfarr- und Gemeindeblätter sowie viele weitere
offizielle katholische Kirchenpublikationen und er kommt zu dem
Ergebnis, dass die katholische Kirche Österreichs sich nach dem
sogenannten Wiederanschluss nicht nur notgedrungen irgendwie mit den
Nationalsozialisten arrangierte, sondern dieses neue Regime in vielen
Fällen durchaus freiwillig unterstützte. Genau wie Goldhagen und
Blaschke erkennt auch Moritz in der künstlichen Abgrenzung von
Antijudaismus gegen Antisemitismus die Tendenz zur Verharmlosung. Er
plädiert für den Begriff des 'katholischen Antisemitismus' und belegt
anhand zahlreicher Beispiele dessen untrennbare Verknüpfung mit der
modernen Rassenideologie der Nazis, so im Fall des Pfarrers Franz
Hlawaty und seiner Gemeinde in Erdberg im Sommer 1938:
"(...) tausende Menschen waren durch die Einführung der Rassengesetze
gezwungen, in der Pfarre den Nachweis ihrer Herkunft zu erkunden. Der 'Ariernachweis'
war ein lebensnotwendiges Dokument. Für Pfarrer Franz Hlawaty war die
'Mithilfe an der Familienforschung' nicht bloß eine lästige Pflicht oder
ein bürokratischer Aufwand, sondern in erster Linie eine wichtige
'Seelsorgearbeit', die dem 'großen Werk des blut- und artgemäßen
Aufbaues' der 'Volksgemeinschaft' diente. (...)
Wohl wissend, dass es für die Betroffenen um Leben oder Tod ging,
behielt die Kirche diese Praxis auch in den Kriegsjahren bei. Im
September 1939 schloss das Erzbischöfliche Ordinariat Wien eine
Vereinbarung mit der 'Arbeitsgemeinschaft für Sippenforschung und
Sippenpflege' ab. (...) Die Präambel zu dieser Vereinbarung erläuterte
den Sinn dieses Vorhabens: 'In der Erkenntnis, dass eine planmäßige
Bearbeitung der Kirchenbücher durch Verkartung und Auswertung ihrer
Eintragungen den Bluts und Sippengedanken im Deutschen Volke wieder
belebt und stärkt und zur Schonung und Erhaltung der Kirchenbücher
beiträgt ...' "(Moritz: S. 200; der Autor zitiert nach Ausgaben des
Erdberger Pfarrblatts und des Wiener Diözesanblatts
aus den Jahren 1938 und 1939)
Die moralische Schuld
Obwohl Stefan Moritz' fundierte
Untersuchung der österreichischen katholischen Kirche eine Menge
Zündstoff für Debatten – auch in Deutschland – enthält, werden Buch und
Autor bis jetzt bei weitem nicht so heftig attackiert wie Daniel
Goldhagen. Das ist leicht zu verstehen, denn während Moritz moralische
Fragen nach Schuld und Wiedergutmachung in seiner Darstellung weitgehend
ausklammert, geht Goldhagen den entscheidenden Schritt weiter. Er holt
die Moral aus ihrem gewohnten Versteck zwischen den Zeilen heraus und
nennt Schuld und Schuldige beim Namen. In klarer unmissverständlicher
Sprache beschreibt er das moralische Versagen einer großen Mehrheit der
Kirchenvertreter und ebenso deutlich fällt auch sein Urteil aus:
"Mit Sicherheit können wir sagen, dass eine beträchtliche Zahl von
Bischöfen und Priestern willentlich zur Vernichtung der Juden
beigetragen hat. Mit Sicherheit können wir ebenfalls sagen, dass der
niederschmetternde Mangel an Mitleid mit den Juden, den der Papst und
der Klerus bekundeten, ihre Beihilfe zu wichtigen verbrecherischen
Akten, ihre Unterstützung für viele weitere Taten und die Tragweite
ihrer politischen Verantwortung und Schuld die katholische Kirche
eindeutig in die Verbrechen verwickeln, die von Deutschen, Kroaten,
Litauern, Slowaken und anderen an den Juden begangen wurden." (S. 221)
Keine Frage, Goldhagens Sprache musste
auf den Blätterwald der neblig formulierten Publikationen katholischer
Provenienz wie ein Herbststurm wirken. Entsprechend verschnupft
reagierten denn auch folgerichtig und lautstark die Vertreter der
Kirchen. Immer wieder wird hervorgehoben, wie sehr sie selbst Opfer
nationalsozialistischer Verfolgung waren, wie viele Priester von der
Gestapo verhaftet worden seien, und selten fehlt der Hinweis auf
vereinzelte Lichtgestalten wie jenen Berliner Domprobst Bernhard
Lichtenberg, der, nachdem er in seiner Kirche für Juden gebetet hatte,
1941 nach Dachau geschickt wurde, wo er unter ungeklärten Umständen
umkam.
Muss hier wirklich noch einmal betont werden, dass Goldhagen keinen
Kollektivschuld-Vorwurf gegen alle Katholiken erhebt?
Unbestritten waren die Nazis auch der Kirche gegenüber extrem feindlich
eingestellt, doch erstens kann diese Bedrohung wohl kaum auf eine Stufe
gestellt werden mit der weitaus tödlicheren Gefahr, in der sich die
Juden befanden und zweitens galt gerade für letztere in dieser Zeit mehr
denn je die alte Binsenweisheit: Der Feind meines Feindes ist nicht
notwendigerweise mein Freund.
Wie groß auch immer die Bedrängnis der katholischen Kirche unter der
Nazi-Diktatur gewesen sein mag, sie führte nicht zu einer
Solidarisierung mit den Juden oder auch nur zu einem verstärkten
Engagement für jüdische Mitbürger, geschweige denn zu einem offenen
Protest gegen ihre Verfolgung. Wie Moritz' und Goldhagens Untersuchungen
belegen, trat in vielen Fällen eher das Gegenteil ein. Die lobenswerten
Ausnahmen, jene christlichen Helfer der verfolgten Juden, die Goldhagen
sehr wohl und mit größter Anerkennung erwähnt, handelten fast
ausnahmslos auf eigene Initiative und ohne jeglichen Rückhalt in ihrer
Kirche.
Die moralische Wiedergutmachung
Vielleicht wäre der Aufschrei der
kirchlichen Kritiker etwas leiser ausgefallen, hätte Goldhagen über den
Schuldspruch hinaus nicht auch noch verschiedene Formen der
Wiedergutmachung diskutiert und dies ausgerechnet unter Anwendung der
moralischen Grundsätze, die die katholische Kirche selbst in ihrem
Katechismus formuliert:
"Viele Sünden fügen dem Nächsten Schaden zu. Man muss diesen, soweit
möglich, wieder gutmachen (zum Beispiel Gestohlenes zurückgeben, den Ruf
dessen, den man verleumdet hat, wiederherstellen, für Beleidigungen
Genugtuung leisten). Allein schon die Gerechtigkeit verlangt dies."
(Katechismus der katholischen Kirche, Teil II, Abschnitt 2, Kapitel 2,
Artikel 4.7, § 1459; siehe auch
www.vatican.va, wo der
vollständige Text des Katechismus in englisch, italienisch, lateinisch
und spanisch nachzulesen ist)
Für Goldhagen ist jegliche
Wiedergutmachung "eine moralische, weil man mit diesem Wort die
Verpflichtung benennt, einen moralischen Schaden zu beheben" (S. 283)
Dazu gehört neben einer materiellen vor allem eine politische und eben
jene rein moralische Wiedergutmachung, die für die katholische Kirche
darin bestehen müßte, sich aufrichtig zu ihrer Vergangenheit zu
bekennen, sie ehrlich zu bereuen, den Antisemitismus als Ursache des
Übels auszumerzen und dafür zu sorgen dass die Institution Kirche "nie
wieder Anlass zur Verfolgung von Juden geben wird." (S. 296)
Die von der Kirche ausdrücklich
formulierte Pflicht, das "muss" einer Wiedergutmachung wird heute in der
Regel von niemandem mehr bestritten, nur über Ausmaß und Durchführung
der Sühne gehen die Meinungen auseinander und dies wohl am weitesten,
was die rein moralische Wiedergutmachung angeht, die Goldhagen hier
diskutiert.
Voller Empörung wirft man ihm vor, dass er die vielen positiven
Entwicklungen, nicht zuletzt nach dem zweiten vatikanischen Konzil von
1962, hartnäckig ignoriere. Dazu ist zu sagen: Goldhagen ignoriert diese
Veränderungen nicht (siehe S. 296 ff und 352f), doch er
bezeichnet sie mehrheitlich als unzureichend. Das ist erstens nicht
dasselbe und entspricht zweitens einer Einschätzung, die auch von
einigen Katholiken geteilt wird (siehe
www.jcrelations.net).
Nach wie vor hält der Vatikan in seinen Archiven eine Fülle von Akten
unter Verschluss. Nicht einmal jene katholisch-jüdische
Historikerkommission, die eigens vom Vatikan eingesetzt worden war, um
dessen Rolle während der Nazi-Zeit zu untersuchen, erhielt
uneingeschränkten Zugang zu allen Dokumenten. Angeblich, so heißt es,
wolle oder müsse man die Persönlichkeitsrechte noch Lebender schützen.
Denkt innerhalb dieser Kirche auch jemand an die Persönlichkeitsrechte
der immer kleiner werdenden Zahl der Überlebenden, an ihr
Recht, die Wahrheit zu erfahren?
Wie leichtfertig selbst hohe Kirchenvertreter gelegentlich ihre
Vergangenheit schönreden, belegen auch die jüngsten Äußerungen Kardinal
Lehmanns, der in einem Interview mit der Illustrierten Stern ohne
weitere Nachprüfung oder Beweise erklärte, dass "von den etwa 900.000
Juden, die im deutschen Machtbereich überlebt haben, 70 bis 80 Prozent
ihre Rettung den verschiedenen päpstlichen Maßnahmen und dem Einsatz der
Nuntien verdanken." (Stern Nr. 40 v. 26.09.2002) Dieser Behauptung haben
einige Historiker, darunter Raul Hilberg, David Bankier und Sergio
Minerbi (der selbst als Kind in einem katholischen Kloster in Rom
versteckt wurde und überlebte) prompt und heftig widersprochen. Die
Zahlen seien massiv überzogen und nicht zu belegen.
Goldhagen liefert noch eine Reihe anderer Beispiele für die
fortbestehende Tendenz der katholischen Kirche, sich durch
verschleiernde Formulierungen oder die Überbewertung der eigenen
Opferrolle zu entlasten, statt sich ihrer Vergangenheit mit der
gebotenen Aufrichtigkeit und Reue zu stellen.
Alleine was diese zuletztgenannten Aspekte moralischer Wiedergutmachung
angeht, hätte die Kirche noch einen weiten Weg vor sich, doch um den
Antisemitismus auszumerzen und zu gewährleisten, dass die Kirche nie
wieder Anlass zu einer Verfolgung der Juden bietet, müsse sie, laut
Goldhagen, sowohl ihre religiösen Schriften als auch ihr theologisches
Selbstverständnis und ihre politisch-institutionelle Struktur einer
kritischen Revision unterziehen.
In der Phantasie einiger Kritiker mutierte Goldhagen damit endgültig zum
Katholikenfresser. Entsprechend irrational fielen denn auch manche
Kommentare aus, wonach Goldhagen angeblich verlange, die Bibel
umzuschreiben, den Vatikan aufzulösen und alles aufzugeben, was den
katholischen Glauben ausmache. Den peinlichen Höhepunkt dieser
künstlichen Hysterie lieferte Prof. Hans Maier, ehemaliger bayerischer
Kultusminister, der bei einer Podiumsdiskussion in München allen Ernstes
fragte. "Müssen wir jetzt alle Juden werden?"
Das geht nun allerdings so weit an Goldhagens Aussagen vorbei, dass man
sich fragt, ob von der jüngst diagnostizierten Leseschwäche unter
deutschen Schulkindern nicht noch ganz andere Altersgruppen betroffen
sind.
Nicht die Abschaffung der katholischen Kirche oder Lehre wird verlangt,
sondern Reformen. Nicht die Aufgabe des katholischen Glaubens wird
gefordert, sondern seine Erweiterung in der Toleranz gegenüber anderen
Religionen. Und was die Bibel angeht, sagt Goldhagen: "Um nicht
missverstanden zu werden: Ich sage nicht, dass die katholische Kirche
ihre Bibel verändern muss." (S. 363)
Das Bibelproblem
Goldhagen ist keineswegs so naiv, dass er
sich anmaßt einen annähernd 2000 Jahre alten heiligen Text mal eben
korrigieren zu können wie einen schlechten Schulaufsatz, doch er
verweist zu Recht auf ein nach wie vor bestehendes Problem: Es gibt im
Neuen Testament eine Vielzahl explizit antisemitischer Passagen und
Formulierungen, die dem christlichen Europa über Jahrhunderte den
Vorwand geliefert haben, Juden als Gottesmörder, Schlangenbrut oder
Kinder des Satans zu stigmatisieren, auszugrenzen, zu verfolgen und zu
ermorden. Auch heute noch sind diese Begrifflichkeiten geeignet, Argwohn
und Vorurteile gegenüber Juden zu fördern (Wer das nicht glauben will,
den könnte eine Recherche auf rechtsextremistischen Internetseiten
schnell eines besseren belehren).
Die aus der katholischen Lehre selbst ableitbaren Forderungen bezüglich
moralischer Wiedergutmachung (den Ruf dessen, den man verleumdet hat,
wiederherstellen, für Beleidigungen Genugtuung leisten) besagen, "dass
man es nicht zulassen darf, dass das Übel des Antisemitismus, zu dem
unbedingt auch der in der christlichen Bibel enthaltene und sie
beseelende Antisemitismus zu zählen ist, im Herzen eines Menschen
Wurzeln schlägt. Doch die christliche Bibel ist ein heiliger Text, in
den man, da er Gottes Wort ist, nach Überzeugung von Katholiken und
anderen Christen nicht eingreifen darf. Was soll man tun? Was kann man
tun?" (S. 355)
Goldhagen diskutiert verschiedene Lösungsmöglichkeiten von einer
Neu-Kommentierung bis zu einer konsequenten Entfernung aller explizit
antisemitischen Formulierungen und Passagen des Neuen Testaments. So
radikal und verstörend vor allem letztgenannte Überlegung klingen mag,
Goldhagen ist nicht so anmaßend zu behaupten, er habe die Lösung bereits
gefunden. Vielmehr erklärt er:
"Bei unseren Überlegungen müssen (...) drei Dinge bedacht werden: (1) Es
gibt keine offenkundige und einfache Lösung für dieses Problem; (2) sich
den problematischen Aspekten der christlichen Bibel zuzuwenden, ist
nicht einmal ausschließlich Sache der katholischen Kirche, weil der Text
auch von anderen christlichen Kirchen und Christen für heilig erachtet
wird; und (3) die Lösung muss, jedenfalls für Katholiken, am Ende aus
dem Inneren der Kirche selbst kommen." (S. 364)
Was Goldhagen hier nahe legt, ist eine
Art erweitertes vatikanisches Konzil unter Beteiligung aller
Christen, sowie Vertretern der jüdischen Religion, mit dem Ziel,
gemeinsam zu einer für alle akzeptablen Übereinkunft zu kommen, wie die
christliche Bibel zu ergänzen, neu zu kommentieren bzw. zu
interpretieren sei, damit sie keine antisemitischen Ressentiments mehr
produziert oder fördert.
Ginge es nach den Kirchenvertretern, besteht in dieser Hinsicht
allerdings wenig Handlungsbedarf. Immer wieder wird Goldhagen
vorgehalten, die jüngste Entwicklung in der Erörterung dieser
theologischen Probleme nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Die
geforderten Veränderungen in Sachen Bibelauslegung seien längst gängige
Praxis.
Gewiss, es gibt gute theologische Bücher
und der katholische Religionsunterricht wird heute von einer Reihe
progressiver Pädagogen und mit modernen Lehrmitteln gestaltet. Dennoch
fragt man sich, warum die in Deutschland derzeit aktuelle Schulbibel,
eine explizit "für den Schulgebrauch zugelassene" Einheitsübersetzung
des Alten und Neuen Testaments, erschienen im Herder Verlag, noch aus
dem Jahr 1979 [!] stammt und seitdem, abgesehen von einer neuen
Einbandgestaltung, nicht verändert wurde. Und wie zur Bestätigung
Goldhagens findet man ebenda im Evangelium nach Matthäus unter 27,24-26
jene Stelle, an der Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht, und das
ganze jüdische Volk ruft: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!"
Der auf der selben Seite mitgelieferte Kommentar dazu lautet: "Das Volk
gibt durch die Selbstverwünschung indirekt seine Verantwortung zu." –
Was liegt nach dieser Erläuterung näher als die Annahme: 'Irgendwie sind
also doch die Juden schuld!'? Auch zu anderen antisemitischen Passagen,
von denen Goldhagen einige in seinem Buch zitiert, findet sich in dieser
Schulbibel kein erhellender Kommentar. Kann oder besser darf man
sich allein darauf verlassen, dass progressive Religionslehrer diese
unhistorischen Falschdarstellungen eines ganzen Volkes durch eigene
Kommentare oder Sekundärliteratur korrigieren? Diese Schulbibeln –
zugelassen 17 Jahre nach dem zweiten vatikanischen Konzil und seit mehr
als 20 Jahren nicht überarbeitet – werden bis heute an allen deutschen
Schulen benutzt; angesichts dieser Tatsache kann man sich nur wundern,
woher einige der Kirchenvertreter die Selbstgewissheit nehmen, Goldhagen
vorzuwerfen, er sei nicht auf dem neusten Stand. Ist es nicht überaus
berechtigt, auf die schwerwiegende Problematik dieser tatsächlich
verleumderischen Bibelstellen hinzuweisen? Oder gelten die Regeln des
katholischen Katechismus – den Ruf dessen wiederherstellen, den man
verleumdet hat – nur dann, wenn die Geschädigten Katholiken sind?
Erinnert sei zum Beispiel an das Foto mit
der falschen Bildunterschrift. Der hohe katholische Würdenträger, der
auf besagtem Bild durch ein Spalier von SA-Leuten schreitet, ist nicht
Kardinal Faulhaber, wie es in der Bildlegende zunächst hieß, und so
erwirkte das erzbischöfliche Ordinariat München umgehend eine
gerichtliche Verfügung, die den Vertrieb des Goldhagen-Buches
solange unterbinden sollte, bis die strittige Zeile korrigiert wäre.
Kardinal Lehmann erklärte in einem kurzen Fernseh-Statement: "(...) es
ist natürlich misslich, wenn so etwas dann ausgerechnet einem Mann wie
dem Kardinal Faulhaber angelastet wird, der einer der mutigsten Leute
war in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus." (12.10.2002,
3sat, Kulturzeit extra) – Über die Rolle Kardinal Faulhabers während der
NS-Zeit gehen die Meinungen weit auseinander, aber nehmen wir zu seinen
Gunsten einmal das beste an und sagen, er wäre tatsächlich der mutige
Mann gewesen, den Kardinal Lehmann in ihm sieht.
Dass sich in Bildlegenden mitunter Fehler einschleichen, ist nicht neu
und menschlich verständlich. Ebenso verständlich ist andererseits, dass
die Kirche einen vermeintlich aufrichtigen Kardinal nicht in die Nähe
der Nazis gerückt sehen will. Dies, so die Kirche, sei eine Verleumdung
und damit eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts, das auch noch für
Verstorbene gelte. Wie gesagt: ein solcher Einwand ist grundsätzlich
berechtigt und verständlich. – Dennoch, mit Blick auf die erwähnten
Schulbibeln erscheint die zur Schau getragene Empörung, mit der das
Münchner Erzbistum sein Recht einklagte, reichlich scheinheilig, und es
drängt sich mit Matthäus 7,3 die Frage auf: "Warum siehst du den
Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem [eigenen]
Auge bemerkst Du nicht?"
Warum tritt die Kirche für das
Persönlichkeitsrecht der Juden, für deren unbestreitbares Recht, in der
christlichen Bibel nicht länger falsch und verleumderisch dargestellt zu
werden, nicht mindestens mit dem selben Engagement ein, wie andererseits
für das Persönlichkeitsrecht ihrer eigenen Glaubensbrüder?
Die Bildunterschrift in Daniel Goldhagens
Buch wurde korrigiert. Das ist ein relativ einfacher Vorgang bei einem
herkömmlichen Buch. Schließlich ist es nicht das Wort Gottes
– Allerdings: das war das Neue Testament seinem Ursprung nach auch
nicht. Die Autoren dieser Schriften waren Menschen, und wie alle
Menschen waren sie nicht frei von Fehlern und Irrtümern. Dies zuzugeben
und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, ist nur für die ein
Problem, die unbeirrbar an ihrer eigenen Unfehlbarkeit festhalten, und
das trifft insbesondere auf die katholische Kirche und ihr
traditionelles Selbstverständnis zu.
So gesehen erscheint die eingangs
erwähnte Vehemenz, mit der vor allem katholische Kirchenvertreter und
Historiker Autor und Buch attackieren, zumindest psychologisch
nachvollziehbar. Die interessierte Öffentlichkeit steht dieser Art von
Kritik jedoch eher skeptisch gegenüber, und in Erinnerung an ähnliche
Töne in den Debatten über Hitlers willige Vollstrecker dürfte
sich mancher sagen: Selber lesen wäre auch eine Möglichkeit. Selbst wenn
die eine oder andere Detailkritik berechtigt sein mag, und auch wenn man
Goldhagens Überlegungen nicht in jeder Hinsicht folgen will oder kann,
bleibt festzuhalten, dass die überaus berechtigten Fragen nach Schuld
und moralischer Wiedergutmachung bisher wohl selten so deutlich und
radikal formuliert wurden wie von Daniel Goldhagen. Die Antworten,
besonders jene der katholischen Kirche, stehen in vielen Fällen noch
aus.
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