Abitur 1999
Geschichte
als Leistungsfach
Arbeitszeit: 270 Minuten, Hilfsmittel: keine
Der Prüfungsteilnehmer wählt von den Aufgaben 1, 2 und 3 eine zur
Bearbeitung aus.
Aufgabe 1
Die Revolution von 1848/49 und ihre Bedeutung für die deutsche Geschichte
1 Geben Sie einen Überblick über die geistigen Voraussetzungen sowie die
politischen und sozialen Ursachen der Revolution von 1848/49 in Deutschland!
Beziehen Sie auch Material 1 in Ihre Überlegungen ein!
Material 1
Rudolf Stadelmann zur Revolution von 1848
Man wird aber zum Schluß noch einmal unterstreichen müssen, daß nur
auf dem Umweg über die Ideologie die sozialen Ursachen der Revolution
von Gewicht geworden sind. Nicht der gesellschaftliche Notstand an sich,
wohl aber das Durchdrungensein von dem Bestehen eines Notstandes hat
revolutionierend gewirkt. Und dieses Aufmerksamwerden auf ein soziales
Problem hat sich nicht zuerst bei den Betroffenen, sondern bei den
Betrachtenden gerührt. Wo immer in Handwerker- und Gesellenvereinen, in
Turnvereinen und Lesezirkeln während der vierziger Jahre ein
politisch-radikaler Einschlag zu spüren ist, da sind es bürgerliche
Intellektuelle, Journalisten und Advokaten, abgesprungene Theologen und
Buchhändler, die das Feuer entzünden. Die Demokratie ist nicht eine
Forderung des Arbeiterstandes gewesen, sondern die soziale Frage war ein
Bestandteil der bürgerlichen Demokratie. Die Zahl der Gesellen und
Handwerksmeister oder gar der Arbeiter in der Fabrik und Landwirtschaft,
welche eine aktive Kritik an den herrschenden Zuständen entwickelten,
ist sehr beschränkt gewesen. Wir kennen sie beinahe alle mit Namen oder
finden doch ihre Spur in den Listen der vormärzlichen Polizei, welche
sich sogar die Bestellerlisten der anrüchigen Zeitungen von kleinen
Postämtern melden ließ und daraus über die verborgensten Zellen der
Opposition Bescheid wußte. Wenn man im Zeitraum von 1815 und 1848 nach
anonymen Massen Ausschau hält, die das Geschehen unterirdisch bestimmt
haben, so muß man sie weniger in gewerblichen Kreisen als vielmehr im
Bauernstand suchen. Dort ist in der Tat ein sozialer Gärungsstoff angehäuft,
der in spezifisch deutschen Verhältnissen seinen Ursprung hat und auf
verjährte Mißstände zurückgeht, mit denen auch der aufgeklärte bürgerliche
Obrigkeitsstaat ... nicht fertig geworden ist.
Aus: Stadelmann, R., Soziale und politische Geschichte der
Revolution von 1848, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt,
Darmstadt 1962, S. 3
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2 Otto von Bismarck äußerte sich in seinen Memoiren "Gedanken und
Erinnerungen" auch zur Revolution von 1848/49.
Stellen Sie dar, wie Bismarck rückblickend die Beteiligten und die
revolutionäre Entwicklung von 1848/49 beurteilt (Material 2)!
Material 2
Otto von Bismarck zur Revolution von 1848/49
Diese Hoffnung oder Erwartung [daß Preußen ohne Krieg und in einer mit
legitimistischen Vorstellungen verträglichen Weise das Vorgewicht in
Deutschland zufallen würde], die bis in die 'Neue Aera' hinein in
Phrasen von dem deutschen Berufe Preußens und von moralischen
Eroberungen einen schüchternen Ausdruck fand, beruhte auf dem doppelten
Irrthum, der vom März 1848 bis zum Frühjahr des folgenden Jahres in
Sanssouci wie in der Paulskirche bestimmend war: einer Unterschätzung
der Lebenskraft der deutschen Dynastien und ihrer Staaten, und einer
Ueberschätzung der Kräfte, die man unter dem Wort Barrikade
zusammenfassen kann, so daß darunter alle die Barrikade vorbereitenden
Momente, Agitation und Drohung mit dem Straßenkampfe, begriffen sind.
Nicht in diesem selbst lag die Gefahr des Umsturzes, sondern in der
Furcht davor. Die mehr oder weniger phäakischen(1) Regierungen waren im
März, ehe sie den Degen gezogen hatten, geschlagen, theils durch die
Furcht vor dem Feinde, theils durch die innre Sympathie ihrer Beamten
mit demselben. Immerhin wäre es für den König von Preußen an der
Spitze der Fürsten leichter gewesen, durch Ausnutzung des Sieges der
Truppen in Berlin ein deutsches Einheitsgebilde herzustellen, als es
nachher in der Paulskirche geworden ist [...].
Die Frankfurter Versammlung, in demselben doppelten Irrthum befangen,
behandelte die dynastischen Fragen als überwundenen Standpunkt, und mit
der theoretischen Energie, welche dem Deutschen eigen ist, auch in
Betreff Preußens und Oestreichs; [...] die Versammlung täuschte sich
[...] über die Thatsache, daß im Falle eines Widerspruchs zwischen
einem Frankfurter Reichstagsbeschluß und einem preußischen Königsbefehl
der erstere bei sieben Achtel der preußischen Bevölkerung leichter
oder garnicht in's Gewicht fiel. [...]
Und nicht nur in Preußen, sondern auch in den großen Mittelstaaten hätte
damals ein monarchischer Befehl, der die Masse der Fäuste dem Fürsten
zu Hülfe aufrief, falls er erfolgte eine ausreichende Wirkung gehabt;
nicht überall in dem Maße, wie es in Preußen der Fall war, aber doch
in einem Maße, welches überall dem Bedürfniß materieller
Polizeigewalt genügt haben würde, wenn die Fürsten den Muth gehabt hätten,
Minister anzustellen, die ihre Sache fest und offen vertraten.
(1) Phäake: Angehöriger eines glücklichen, Genuss liebenden
Seefahrervolkes der griechischen Sage, übertragen: sorgloser Genießer
Aus: Bismarck, O. von, Gedanken und Erinnerungen, Wissenschaftliche
Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 1998, S. 59 f. |
3 Erläutern Sie, wie Georg Herwegh (Material 3) die Rolle der
Nationalversammlung einschätzt und vergleichen Sie Bismarcks Urteil mit dem des
Dichters!
Material 3
Georg Herwegh: Das Reden nimmt kein End
Zu Frankfurt an dem Main-
Sucht man des Weisen Stein.
Sie sind gar sehr in Nöten,
Moses und die Propheten,
Präsident und Sekretäre,
wie er zu finden wäre-
Im Parla - Parla - Parlament
Das Reden nimmt kein End.
In Frankfurt an dem Main-
Ist alles Trug und Schein.
Alt Deutschland bleibt zersplittert
das Kapitol erzittert,
Umringt von Feindeslagern,
Die Gänse giga - gagern
Im Parla - Parla - Parlament
Das Reden nimmt kein End.
Zu Frankfurt an dem Main-
Die Wäsche wird nicht rein,
Sie bürsten und sie bürsten
Die Fürsten bleiben Fürsten,
Die Mohren bleiben Mohren
Trotz aller Professoren
Im Parla - Parla - Parlament
Das Reden nimmt kein End.
Aus: Hildebrandt, G., Die Paulskirche,
Verlag der Nation, Berlin 1986, S. 165f. |
4 Erörtern Sie, ob sich mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 die
Hoffnungen der liberalen, demokratischen und nationalen Kräfte auf einen
freiheitlichen und parlamentarischen Nationalstaat erfüllt haben!
5 John Heartfields Kupfertiefdruck ”Das tote Parlament” (Material 4)
mit dem Untertitel ”Das blieb vom Jahre 1848 übrig!” erschien 1930.
Interpretieren Sie diese Darstellung und beurteilen Sie, inwiefern der Künstler
damit die politische Situation seiner Zeit treffend charakterisiert!
Material 4
Das tote Parlament
Das blieb vom Jahre 1848 übrig!
So sieht der Reichstag aus, der am 13. Oktober eröffnet wird.
Aus: 1848 Aufbruch zur Freiheit, Ausstellungskatalog der
Schirnkunsthalle Frankfurt 1998, S. 273 |
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