Matthias Erzberger (Zentrum), Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission, in seinen vertraulichen Aufzeichnungen vom 1. Juni 1919:

   

I. Wenn der Friede unterzeichnet wird.
Ungeheuer schwere Lasten ruhen auf dem deutschen Volk.
1. Außenpolitische Folgen:
Der Kriegszustand hört auf. Die Blockade wird beseitigt. Die Grenzen öffnen sich, es kommen wieder Lebensmittel und Rohstoffe ins Land, der deutsche Kaufmann kann auf Privatkredit Waren kaufen. Der Export kann wieder beginnen. Die Kriegsgefangenen kommen in die Heimat zurück. Polen wird gezwungen, seine Angriffsabsichten aufzugeben. Die Einheit des Reichs bleibt bestehen.
2. Innenpolitische Folgen:
Die Steuerlasten werden außerordentlich drückend sein, aber durch die vermehrte Einfuhr von Lebensmitteln, Waren und Rohstoffen wird eine Beruhigung und ein gewisser Ausgleich geschaffen. Die Arbeit wird in steigendem Umfang wieder aufgenommen werden können. Neben der Befriedigung der Inlandsbedürfnisse kommt der Außenhandel wieder in Gang. Der Bolschewismus verliert an Werbekraft. [...]
II. Wenn der Friede nicht unterzeichnet wird.
I. Außenpolitische Folgen:
Der Kriegszustand wird wieder aufgenommen, und zwar wahrscheinlich sofort mit dreitägiger Kündigung des Waffenstillstandes. Die Alliierten, und zwar sämtliche, auch die Amerikaner, rücken in breiter Front vor, wie weit ist nicht bekannt, aber mindestens bis zu einer Linie, die durch Kassel parallel des Rheines läuft. Insbesondere wird das Ruhrgebiet besetzt. Außerdem liegen Nachrichten vor, nach denen die Alliierten einen Korridor von Frankfurt bis Prag bilden wollen um Norddeutschland von Süddeutschland zu trennen. Die Blockade wird verschärft. [...]
2. Innenpolitische Folgen:
Allgemeine Lebensmittel-, Waren- und Rohstoffnot in Deutschland. Von den Grenzen werden die Bevölkerungen von Osten und Westen nach dem Innern Deutschlands zusammenströmen und die Lebensmittelnot ins Ungeheuere steigrn. Durch die Besetzung des Ruhrgebiets fällt der Nachschub an Kohlen fort, daher ist allgemeiner Zusammenbruch des Verkehrs und Hungersnot in den großen Städten in einigen Wochen zu erwarten. Überhandnehmen des Bolschewismus, der seine Zeit gekommen sieht. Plünderung, Mord, Todschlag wird an der Tagesordnung sein. [...]
Das Deutsche Reich fällt auseinander. Die einzelnen Freistaaten werden dem Anerbieten und Druck der Alliierten, mit ihnen Frieden zu schließen, nicht widerstehen können. Dieser Zustand der Ohnmacht Deutschlands wäre einer mächtigen Strömung innerhalb der 'Alliierten (Frankreich und England) erwünscht. Die Alliierten würden Deutschland daher auflösen und die einzelnen Teile sich selbst überlassen.
(aus: H. Michaelis/E. Schraepter [Hg.]: Ursachen und Folgen. Bd.3, Berlin 1958, S.360ff.)