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... Eine wellige
Ebene, oder eher eine Anhäufung kleiner Hügel. Am Fuß dieser Hügel
ein nicht sehr breiter Fluss (der Irwall), der langsam zum Irländischen
Meer hinfließt. Zwei Bäche (der Medlok und der Irk), die überall
zwischen den Bodenerhebungen hindurchlaufen und sich nach tausend
Umwegen in den Fluss ergießen. Drei Kanäle, von Menschenhand gemacht,
die an genau der gleichen Stelle ihre stillen, trägen Fluten
zusammenströmen lassen. Über dieses wasserreiche Gebiet, zu dessen
Bewässerung Natur und Kunst gemeinsam beigetragen haben, sind wie durch
Zufall Paläste und Hütten verstreut. In der äußeren Erscheinung der
Stadt zeugt alles von der persönlichen Macht des einzelnen Menschen,
nichts von der geregelten Gewalt der Gesellschaft. Die menschliche
Freiheit enthüllt auf Schritt und Tritt ihre eigenwillige und
schöpferische Kraft. Nirgends erweist sich die langsame und beständige
Tätigkeit der Regierung.
... Auf dem
Gipfel der Hügel, die ich eben beschrieben habe, erheben sich dreißig
oder vierzig Fabriken. Mit ihren sechs Stockwerken ragen sie hoch in die
Luft. Ihr unabsehbarer Bereich kündet weithin von der Zentralisation
der Industrie. Um sie herum sind gleichsam willkürlich die
erbärmlichen Behausungen der Armen verteilt; auf unzähligen gewundenen
schmalen Pfaden gelangt man dorthin. Zwischen ihnen liegt unbebautes
Land, das nicht mehr den Reiz ländlicher Natur hat, ohne schon die
Annehmlichkeiten der Stadt zu bieten. Der Boden dort ist schon
aufgewühlt, an tausend Stellen aufgerissen; aber er ist noch nicht von
menschlichen Siedlungen bedeckt. Dies sind die Steppen der Industrie.
Die Straßen, welche die einzelnen, noch schlecht zusammengefügten
Teile der großen Stadt miteinander verbinden, bieten wie alles andere
das Bild eines hastigen und noch nicht vollendeten Werkes: die rasche
Leistung einer gewinnsüchtigen Bevölkerung, die Gold anzuhäufen
versucht, um dann mit einem Schlag auch alles andere zu haben, und bis
dahin die Bequemlichkeit des Lebens verschmäht. Einige dieser Straßen
sind gepflastert, aber die Mehrzahl besteht aus Buckeln und schlammigem
Boden, in dem der Fuß des Passanten oder der Wagen der Reisenden
einsinkt. Kehrichthaufen, Trümmer von Häusern, Lachen mit fauligem
Wasser erscheinen da und dort vor allen Häusern der Einwohner oder auf
den mit Höckern und Löchern durchsetzten Flächen der öffentlichen
Plätze. Nirgendwo haben die Grundwaage des Geometers und das Band des
Feldmessers ihre Arbeit verrichtet.
Aus diesem übel
riechenden Labyrinth, inmitten dieses unermesslichen und düsteren
Ziegelhaufens ragen hin und wieder herrliche Steinpaläste auf, deren
kannelierte Säulen das Auge des Fremden überraschen. Man denkt an eine
mittelalterliche Stadt, in der sich die Wunderwerke des 19. Jahrhunderts
hinbreiten. Wer aber vermöchte das Innere jener abseits gelegenen
Viertel zu beschreiben, der Schlupfwinkel von Laster und Elend, welche
die gewaltigen Paläste des Reichtums mit ihren abscheulichen Windungen
umfangen und erdrücken? Über dem Landstreifen, der tiefer liegt als
der Flussspiegel und überall von gewaltigen Werkstätten beherrscht
wird, erstreckt sich ein Sumpfgebiet, das durch die in großen
Abständen angelegten Gräben weder trocken gelegt noch saniert werden
konnte. Dort enden gewundene und enge Gässchen, gesäumt von
einstöckigen Häusern, deren schlecht zusammen gefügte Bretter und
zerbrochene Scheiben schon von weitem eine Art letzten Asyls ankünden,
das der Mensch zwischen Elend und Tod bewohnen kann.
Unter diesen
elenden Behausungen befindet sich eine Reihe von Kellern, zu der ein
halb unterirdischer Gang hinführt. In jedem dieser feuchten und
abstoßenden Räume sind zwölf bis fünfzehn menschliche Wesen wahllos
zusammengestopft ...
Um dieses
Elendsquartier herum schleppt einer der Bäche, die ich vorhin
beschrieben habe, langsam sein stinkendes Wasser, das von den
Industriearbeiten eine schwärzliche Farbe erhält. Er wird in seinem
Lauf nicht durch Kaimauern eingeschlossen. Die Häuser sind willkürlich
an seinen Ufern errichtet worden. Von der Höhe seiner abschüssigen
Ufer sieht man, wie er sich mühselig zwischen Erdbrocken, halbfertigen
Wohnstätten oder frischen Ruinen seinen Weg bahnt. Das ist der Styx
dieser modernen Unterwelt.
Wer jedoch den
Kopf hebt, wird sehen, wie sich rings um diesen Ort die ungeheuren
Paläste der Industrie erheben. Er wird den Lärm der Öfen, das Pfeifen
des Dampfes hören ...
Hier ist der
Sklave, dort der Herr; dort findet sich Reichtum einiger weniger, hier
das Elend der großen Zahl; dort bringen die organisierten Kräfte der
Menge zum Nutzen eines Einzelnen hervor, das die Gesellschaft zu leisten
noch nicht vermocht hat. Hier zeigt sich die Schwäche des Individuums
gebrechlicher und hilfloser als mitten in der Wüste.
Ein dichter,
schwarzer Qualm liegt über der Stadt. Durch ihn hindurch scheint die
Sonne als Scheibe ohne Strahlen. In diesem verschleierten Licht bewegen
sich unablässig dreihunderttausend menschliche Wesen. Tausend
Geräusche ertönen unablässig in diesem feuchten und finsteren
Labyrinth. Aber es sind nicht die gewohnten Geräusche, die sonst aus
den Mauern großer Städte aufsteigen.
Die Schritte
einer geschäftigen Menge, das Knarren der Räder, die ihre gezahnten
Ränder gegeneinander reiben, das Zischen des Dampfes, der dem Kessel
entweicht, das gleichmäßige Hämmern des Webstuhles, das schwere
Rollen der sich begegnenden Wagen - dies sind die einzelnen Geräusche,
die das Ohr unentwegt treffen. Nirgends ist der Hufschlag von Pferden zu
hören, die den reichen Bewohner zu seiner Wohnung oder zu seinen
Vergnügungen tragen. Nirgends der Ausbruch von Freude, fröhliche Rufe,
der Zusammenklang von Instrumenten, die einen Festtag ankünden.
Nirgends begegnet das Auge der glücklichen Behäbigkeit, die ihre Muße
in den Straßen der Stadt spazieren führt oder auf dem nahen Land
einfache Freuden sucht. Ständig drängt sich die Menge in dieser Stadt,
aber ihre Schritte sind hart, ihre Blicke zerstreut, ihr Ausdruck ist
finster und roh ...
Inmitten dieser
stinkenden Kloake hat der große Strom der menschlichen Industrie seine
Quelle, von hier aus wird er die Welt befruchten. Aus diesem schmutzigen
Pfuhl fließt das reine Gold. Hier erreicht der menschliche Geist seine
Vollendung und hier seine Erniedrigung; hier vollbringt die Zivilisation
ihre Wunder, und hier wird der zivilisierte Mensch fast wieder zum
Wilden.
(Treue-Pönicke-Manegold,
Quellen zur Geschichte der industriellen Revolution, Göttingen 1966, S.
126 ff.; zit. nach: Ripper, W., Kaier, E., Langenbeck,W., Von der
bürgerlichen Revolution bis zum Imperialismus (= Weltgeschichte im
Aufriss, Bd. II), S. 115-117)
Lebensdaten: 1805-1859;
Französischer Politiker und Geschichtsschreiber. Verfasste ein
wichtiges Werk über die "Demokratie in Amerika" und über
"Das Ancien-Régime und die Revolution". Tocqueville bereiste
u.a. bewusst die englischen Industriereviere und war einer der ersten,
die scharfsinnig und schonungslos eine Bestandsaufnahme der Folgen der
Industrialisierung machten |