Joseph Wirth (Zentrum)

Reichstagsrede vom 25. Juni 1922

"Meine Damen und Herren! Trotz der Leere des Hauses oder geradedeswegen will ich eine ruhige Minute benutzen, um Ihre Aufmerksamkeit zuerbitten. Es war nicht möglich, gestern mittag und gestern abend denWerdegang des Herrn Ministers Rathenau und seine Verdienste um das deutscheVolk, den deutschen Staat und die deutsche Republik ausgiebig zu würdigen.Es war auch nicht möglich, in Ihrer Mitte -- und ich persönlichmüßte als sein Freund das mit besonderer Bewegung tun --, überdie großen Entwürfe seiner Seele zu sprechen. Allein, meineDamen und Herren, eins will ich in Ihrer Mitte doch sagen. Wenn Sie inDeutschland auf einen Mann, auf seine glänzenden Ideen und auf seinWort hätten bauen können, in einer Frage die Initiative zu ergreifenim Interesse unseres deutschen Volkes, dann wäre es die Weiterarbeitdes Herrn Dr. Rathenau bezüglich der großen Schicksalsfrageder Alleinschuld Deutschlands am Kriege gewesen.

(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten)

Hier sind die großen Entwicklungen jäh unterbrochen, unddie Herren, die die Verantwortung dafür tragen, können das niemalsmehr vor ihrem Volke wieder gutmachen.

Aber, meine Damen und Herren, ich bin der Rede des Herrn AbgeordnetenDr. Hergt mit steigender Enttäuschung gefolgt. Ich habe erwartet,daß heute nicht nur eine Verurteilung des Mordes an sich erfolgt,sondern daß diese Gelegenheit benützt wird, einen Schnitt zumachen gegenüber denen, gegen die sich die leidenschaftlichen Anlagendes Volkes durch ganz Deutschland erheben. Ich habe erwartet, daßvon dieser Seite heute ein Wörtchen falle, um einmal auch die in Ihreneignen Reihen zu einer gewissen Ordnung zu rufen, die an der Entwicklungeiner Mordatmosphäre in Deutschland zweifellos persönlich Schuldtragen.

(Sehr richtig! links und im Zentrum!)

Was Sie zum Beispiel, Herr Abgeordneter Körner, persönlichin Ihren Zeitungen im Schwabenland geschrieben haben, das können Sienicht wieder gutmachen.

(Zurufe und Unruhe.)

Wie weit die Vergiftung in Deutschland geht, will ich einmal an einemBeispiel zeigen. Ich verstehe, daß man an der Politik der Regierung,an unserem Verhalten persönlicher und politischer Art Kritik übenkann. Warum nicht? Ich verstehe auch ein scharftes Wort, verstehe auchHohn und Spott im politischen Kampf, verstehe die Verzerrung zur Karikatur.Ziel und Richtung unserer Politik -- das ist, glaube ich, oder sollte eswenigstens sein, Gemeingut des ganzen Hauses -- Ziel und Richtung unsererPolitik ist die Rettung der deutschen Nation.

(Lebhafte Zustimmung.)

Die Methode, meine Damen und Herren, die ist strittig. In Fragen derMethode aber sollten sich Söhne des deutschen Volkes mindestens immermit der Hochachtung begegnen, die es uns ermöglicht, vor dem Auslandals eine einheitliche Nation überhaupt aufzutreten.

(Stürmischer Beifall links und in der Mitte.)

Wenn wir nun die Politik der letzten Jahre überschauen, so hates, wie ich Ihnen sagen darf, herbe Enttäuschungen gegeben, tiefsterSchmerz hat sich in unsere Seele dann und wann gesenkt, und wir haben dasZittern des deutschen Volkskörpers in seiner Arbeiter- und Beamtenschafterlebt. Meine Damen und Herren, da glaubt nun ein Reichstagskollege folgendesschreiben zu können:

(Zuruf von links: Namen nennen!)

-- Der Name kommt noch. -- Er spricht in seinem Blatte von Forderungenüber neue Verträge, die notwendig sind, um die Arbeiter und Beamtenin ihren Bezügen aufzubessern. Dann fährt der betreffende Kollegefort:

»Die jetzige Regierung ist in Wirklichkeit nur eine, vom DeutschenReich zwar bezahlte, Angestellte, der Entente, die ihre Forderungen undVorschriften einfach zu erfüllen hat; sonst wird sie einfach auf dieStraße gesetzt und ist brotlos.«

(Stürmische Rufe: Hört! Hört! und erregte Pfuirufe.-- Große Unruhe.)

Können Sie sich eine größere Entwürdigung von Menschendenken, die, wie wir, seit Jahresfrist an dieser Stelle stehen? SteigtIhnen (zu den Deutschnationalen) da nicht auch die Schamröte ins Gesicht?!

(Anhaltende Rufe links: Wer ist das? -- Unruhe.)

-- Das Deutsche Tageblatt, Herausgeber Reinhold Wulle. Aber,meine Damen und Herren, die Sache hat noch eine größere Bedeutung!Hier liegt nicht nur eine redaktionelle Verantwortung vor, sondern dieserArtikel mit den schmählichsten Beleidigungen ist ausdrücklichgeschrieben von Reinhold Wulle, Mitglied des Reichstags.

(Erneute erregte Pfuirufe.)

Das ist Ihr Kollege (zu den Deutschnationalen).

(Anhaltende große Unruhe und erregte Zurufe links.)

Ich darf fortfahren. Nun kommt er zum Schluß und sagt von uns,die wir hier seien, um unser Brot zu verdienen, die wir Ententeknechteseien, die wir deshalb die Politik machen, damit wir der Entente gefallenund dadurch eine Anstellung haben:

»... nur daß diese Kreise von der Arbeiterschaft nicht zudem Schluß kommen, daß das ganze System zum Teufel gejagt werdenmuß, weil wir in Berlin eine deutsche Regierung, aber keine Ententekommissionbrauchen.«

(Lebhafte Rufe: Hört! Hört! -- Große Unruhe.)

Meine Damen und Herren! Wo ist ein Wort gefallen im Laufe des Jahresvon Ihrer Seite gegen das Treiben derjenigen, die die Mordatmosphärein Deutschland tatsächlich geschaffen haben?!

(Lebhafter Beifall und Zurufe.)

Da wundern Sie sich über die Verwilderung der Sitten, die damiteingetreten ist?

(Erneute stürmische Zustimmung.)

Wir habe in Deutschland geradezu eine politische Vertiertheit.

(Sehr wahr! sehr wahr!)

Ich habe die Briefe gelesen, die die unglückliche Frau Erzbergerbekommen hat. Wenn Sie, meine Herren, diese Briefe gesehen hätten-- die Frau lehnt es ab, sie der Öffentlichkeit preiszugeben --, wennSie wüßten, wie man diese Frau, die den Mann verloren hat, derenSohn rasch dahingestorben ist, deren eine Tochter sich dem religiösenDienst gewidmet hat, gemartert hat, wie man in diesem Briefen der Fraumitteilt, daß man die Grabstätte des Mannes beschmutzen will,nur um Rache zu üben -- --

(andauernde steigende Erregung auf der Linken. Unruhe und erregteZurufe: Schufte!)

-- Meine Herren (nach links), halten Sie doch ein wenig ein.

(Andauernde Erregung und Rufe. -- Glocke des Präsidenten.)

Ich bitte die Vertreter der äußersten Linken, bei den kommendenAusführungen, die ich zu machen habe, sich etwas zurückzuhalten!-- Wundern Sie (nach rechts) sich, wenn unter dem Einfluß der ErzeugnisseIhrer Presse der letzten Tage Briefe an mich kommen, wie ich hier einenvon gestern in der Hand habe, der die Überschrift trägt: »AmTage der Hinrichtung Dr. Rathenaus! «

(lebhafte Rufe: Hört! Hört!)

-- wundern Sie sich dann, meine Herren, wenn eine Atmosphäre geschaffenist, in der auch der letzte Funke politischer Vernunft erloschen ist?

(Lebhafte Zustimmung.)

Ich will mich mit dem Briefe sonst nicht weiter beschäftigen undnur den Schlußsatz vorlesen: » Im guten habt ihr Männerdes Erfüllungswahnsinns auf die Stimme derer nicht hören wollen,die von der Fortsetzung der Wahnsinnspolitik abrieten. So nehme denn dasharte Verhängnis seinen Lauf, auf daß das Vaterland gedeihe!«

(Andauernde stürmische Rufe: Hört! Hört! Erregte Pfuirufe.Große Erregung und wiederholte Rufe von der äußerstenLinken: Dieser Verbrecher Wulle!)

Wollen wir aus dieser Atmosphäre -- und das ist es doch, woraufes allein ankommt -- wieder heraus, wollen wir gesunden, wollen wir ausdiesem Elend herauskommen, dann muß das System des politischen Mordesendlich enden, das die politische Ohnmacht eines Volkes offenbart.

(Lebhafte Zustimmung.)

Und wie kann sie entgiftet werden? Meine Damen und Herren! Sie könnenmir gewiß zurufen: Das ist eine Frage, die man zunächst an dieAlliierten zu stellen hat! Nun, ich war Zeuge bedeutsamer Unterhaltungenunseres ermordeten Freundes in Genua vor den mächtigsten der alliiertenStaatsmänner. Einen beredteren Anwalt in kleinen, intimen Gesprächen-- ernsthaften Gesprächen! --, einen beredteren Anwalt für dieFreiheit des deutschen Volkes als Herrn Dr. Rathenau hätten Sie inganz Deutschland nicht finden können! Seine Art, die Atmosphärevorzubereiten, sie zu gestalten, die Behandlung der Probleme aus der Atmosphäreder Leidenschaft hinüber zu führen in ruhigere Erwägungund vornehmere Gesinnung, das hat keiner so verstanden wir Dr. Rathenau.Ich war Teilnehmer und Zeuge eines Gespräches mit dem ersten englischenMinister Lloyd George, in dessen Verlauf Dr. Rathenau ganz klar und ernsthaftsagte: »unter dem System, unter dem uns zurzeit die Alliierten halten,kann das deutsche Volk nicht leben!«

(Stürmische Rufe: Hört! Hört!)

Niemals habe ich einen Mann edlere vaterländische Arbeit verrichtensehen als Dr. Rathenau. Was aber war nach der rechtsvölkischen Pressesein Motiv? Ja, meine Damen und Herren, wenn ich in diesem Briefe lese,daß natürlich die Verträge alle nur abgeschlossen sind,damit er und seine Judensippschaft sich bereichern können,

(stürmische Pfuirufe, andauernde wachsende Erregung; -- Rufelinks: Lump! Schurke!)

dann können Sie wohl verstehen, daß unter dieser völkischenVerheerung, unter der wir leiden, unser deutsches Vaterland rettungslosdem Untergang entgegentreiben muß. Ich war vorhin beim KirchgangZeuge des Aufmarsches der großen Massen zur Demonstration im Lustgarten.Da war Ordnung, da war Disziplin. Es war eine Ruhe; aber mögen sichdie Kreise in Deutschland durch diese äußere Ruhe nicht täuschenlassen.

(Sehr richtig! links.)

In der Tiefe droht ein Vulkan!

(Stürmischer Beifall und Händeklatschen im Hause und aufden Tribünen.)

Ich muß hier das Wort wiederholen, das ich seinerzeit gesprochenhabe, daß in einem so wahnwitzigen Entscheidungskampf, den vielevon Ihnen gewissenlos herbeiführen, uns unsere Pflicht dahin führt,wo die großen Scharen des arbeitenden Volkes stehen.

(Erneuter lebhafter Beifall.)

Meine Damen und Herren! Die Frage ist ernsthaft, sie muß hierin Ruhe erörtert werden. Gewiß können wir aus eigener Kraftohne Einsicht der alliierten Staatsmänner Ruhe und Ordnung in Deutschlandund ein Wiedererwachen des deutschen wirtschaftlichen Lebens nicht herbeiführen.Es ist ganz klar -- und darüber soll kein Zweifel gelassen werden--; Abgesehen von dem oder jenem Zeichen des Verständnisses habendie alliierten Regierungen dem demokratischen Deutschland im Laufe einesJahres nur Demütigungen zugefügt.

(Lebhafte Zustimmung.)

Das spreche ich offen aus: Der Wahn, der durch die Welt ging, als obder Ausgang des Krieges eine Sicherung demokratischer Freiheit sei, daswar eben nur ein Wahn und eine schmerzliche Enttäuschung fürdas deutsche Volk und auch die größte Enttäuschung fürdie deutsche, auch die radikal gesinnte Arbeiterschaft.

(Sehr richtig.)

Die Entscheidung über Oberschlesien lag nicht in unserer Macht.Ich kenne die Angriffe gegen die Männer, die trotz Oberschlesien diePolitik weitergeführt haben, weil es eben keinen anderen Weg gibt.Die Entscheidung in Oberschlesien war das größte, das himmelschreiendsteUnrecht, daß dem deutschen Volke durch den Bruch des Versailler Vertagesangetan werden konnte.

(Stürmische Zustimmung.)

Ich bin von einem alliierten Staatsmanne -- es war Lloyd George -- gefragtworden: Herr Reichskanzler, wie stellen Sie sich zum Völkerbund! Ichhabe ihm folgende Antwort gegeben: Ich bin ein Freund eines Völkerbundes,und ich würde den Tag begrüßen, wo die großen Organisationder Völker geschaffen werden könnte, um allem, was Menschenantlitzträgt, den Frieden auf der Welt zu bewahren. Aber -- so habe ich weitergesagt -- will man dem Völkerbunde dienen in Deutschland, so mußman zurzeit -- ich unterstreiche das »zurzeit«, es war gesternvor Wochen in Genua, vielleicht ist heute die Situation schon anders --,will man diesem Völkerbunde einen Nutzen bringen, so muß mannach der Entscheidung über Oberschlesien von diesem Völkerbundeschweigen.

(Lebhafter Beifall.)

Ich will dann einen zweiten Punkt anführen. Ich erinnere an dasSchicksal der fünf Weichseldörfer, das heute noch nicht entschiedenist, an die Leiden der Saarbevölkerung, an die großen Schmerzender rheinischen Bevölkerung, an diese kleinlichen Schikanen, die dortauf unseren Volksgenossen lasten und die eine Schande sind für dasgesittete Europa.

(Stürmischer Beifall.)

Wie oft haben wir mahnend und flehend gerade nach dem Auslande hin dieHände erhoben und haben gesagt: Gebt dem demokratischen Deutschlandjene Freiheit, deren das demokratische Deutschland bedarf, um im HerzenEuropas eine Staatsform zu schaffen, die eine Gewähr des Friedensbietet. Unsere Mahnungen sind verhallt. Erst in dem Augenblick, wo mangesehen hat, daß die ganze Welt leidet, wenn das deutsche Volk zugrundegeht, ist allmählich erst durch writschaftliche Erwägungen derHaß etwas zurückgetreten. Aber die politischen Folgerungen ausdieser veränderten Atmosphäre sind bis zur Stunde noch nichtgezogen.

(Sehr richtig.)

Darüber besteht kein Zweifel. Es ist für ein Sechzig-millionen-Volkauf die Dauer unmöglich, unter der Herrschaft von fremden Kommissionen,und wenn es die Herren noch so gut meinen sollten, ein demokratisches Deutschlandüberhaupt lebensfähig zu machen.

(Lebhafte Zustimmung.)

Da wundert es mich nicht mehr, daß diese Erkenntnis den GeneralLudendorff veranlaßt hat, in einer englischen Zeitschrift einen Artikelzu schreiben und für Deutschland die Diktatur zu empfehlen, die monarchistischeDiktatur. Dieser Artikel ist eines deutschen Generals unwürdig.

(Lebhafte Zustimmung in der Mitte und links.)

Er ist es um so mehr, als auch auf dieser Seite (nach rechts) wiederholtdie Bereitwilligkeit ausgesprochen worden ist, sich, wenn auch nicht imRahmen der Linien unserer heutigen Politik, an der Gesetzgebung praktischzu betätigen. Wenn Sie einen Mann als Ihren großen Gott verehren,der dieses Ziel, die Diktatur für Deutschland, gerade in einem Augenblickin England proklamiert, wo die Herzen, die in Eis gepanzert waren, auswirtschaftlichen Erwägungen heraus zu schmelzen begannen, so zeigendiese Träger des alten Systems, daß sie für die politischeAtmosphäre der Welt weder Vernunft noch Fingerspitzengefühl besitzen.

Ich glaube, ich war es Dr. Rathenau schuldig, noch einige Worte hierin die Debatte einzuflechten. Ich bedaure nicht nur als Freund seinen grausamengroßen Mitarbeiter verloren zu haben. Ich würde mich freuen,wenn gerade in den Kreisen, die bisher unserer Politik feindlich gegenüberstanden,ein Verständnis dafür vorhanden wäre, daß gewissenLinien unserer Politik unter keinen Umständen verlassen werden dürfen.Aber, meine Damen und Herren, die viel geschmähte Erfüllungspolitikist nach außen sabotiert, wenn wir nach innen nicht zu einer einheitlichen,festgefügten Auffassung unserer Politik kommen.

(Sehr richtig! in der Mitte und links.)

Es geht nicht an, Divergenzen zwischen Kanzler und Ministern zu konstruieren;und wenn sie vorhanden sein sollten, dann muß gerade aus außenpolitischenGründen nach einer einheitlichen Linie der inneren Politik so schnellwie möglich gesucht werden.

Minister Dr. Rathenau hat am Abend vor seinem Tode mit einem Herrn ausIhrer Fraktion, meine Herrn von der Deutschen Volkspartei, bei einem Diplomatenbis 1 Uhr nachts zugebracht, nicht etwa, wie man da und dort vermuten könnte,um sich zu ergötzen. Das Gespräch war ein ernstes, großespolitisches Gespräch um die Reparationsfrage. Die größtenGedankengänge beschäftigten diesen Minister Tag und Nacht inder Reparationsfrage wie in der Schuldfrage. Nachdem der Herr Kollege Hergtjetzt in den Saal gekommen ist, darf ich sagen: wir haben gerade fürdie Förderung dieser Frage durch seinen Tod unendlich viel verloren.Wir sind nicht untätig, meine Herren, und das Geschrei was draußengeübt wird, ist das törichtste, was es gegeben hat.

(Sehr richtig! in der Mitte und links.)

Man darf aber, wenn man Politik treibt und wenn man auf Jahre hinausschauen muß, nicht alles an die große Glocke hängen, undvor allem darf man jene Glocke nicht läuten, für die man in meinerHeimat ein sehr böses Wort geprägt hat. In diesem Gesprächgerade mit einem Industriellen, einem hervorragenden Mitglied der DeutschenVolkspartei, hat sich gezeigt, daß man das Problem der Reparation,auch wenn man sonst verschiedener Auffassung ist, doch in starker Formfördernd in gemeinsamen Besprechungen verschiedenster Parteien behandelnkann.

(Sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei.)

Das, was in der Welt geschehen ist, was die englische Bank uns im Dezembergeantwortet hat, was jetzt das Komitee der Anleihefachverständigenausgesprochen hat, ist eine Basis, auf der alle, die in Deutschland gutenWillens sind, die auswärtige Politik und die große Frage derKontribution, um dieses Wort zu gebrauchen, förderlich behandeln könnten.

(Sehr richtig! in der Mitte und links.)

Wir wären ja töricht, wenn wir dieses Instrument nicht inunsere Hand nehmen würden. Es ist deshalb geradezu eine Sinnlosigkeit,wenn sich in Deutschland die Menschen die Köpfe darüber zerschlagen,ob eine kleine, eine mittlere oder eine große Anleihe notwendig ist.,

(Sehr richtig! links und in der Mitte.)

Und ein Zweites ist notwendig; darüber ist sich heute die Welteinig. Das politische Diktat heilt weder das deutsche Volk noch Europa,noch die Menschheit. Die Politik, die wir im letzten Jahr wie in diesemJahr erstrebt haben, zielt auf eine vernünftige Lösung des ganzenReparationsproblems auf wirtschaftlicher Basis. Wir wollen uns nicht entziehen,wir wollen nicht davonlaufen. In keinem Augenblick, auch nicht bei derschrecklichen Entscheidung über Oberschlesien, haben wir die Geduldverloren, am Rettungswerk des deutschen Volkes mitzuarbeiten. Wer, wieich das von rechts immer höre, wie es mir aus den Zeitungen entgegentönt,mit Faust sagt: »Fluch vor allem der Geduld«, der hat sichaus der politischen Arbeit, aus der Rettungsarbeit für unser Vaterlandausgeschaltet.

(Sehr richtig! links und in der Mitte.)

Geduld gehört dazu. Gewiß, meine Damen und Herren, mit nationalistischenKundgebungen lösen Sie kein Problem in Deutschland.

(Sehr richtig! links und in der Mitte.)

Ist es denn eine Schande, wenn jemand von uns, von der äußerstenLinken bis zur äußersten Rechten, in idealem Schwung die Fädender Verständigung mit allen Nationen anzuknüpfen versucht? Istes eine Schande, wenn wir mit jenem gemäßigten Teil des französischenVolkes, der die Probleme nicht nur unter dem Gesichtspunkt sieht: »Wirsind die Sieger, wir treten die Boches nieder, heraus mit dem Säbel,Einmarsch ins Ruhrgebiet«, wenn wir durch persönliche Beziehungenmit allen Teilen der benachbarten Nationen zu einer Besprechung der großenProbleme zu kommen suchen? Dr. Rathenau war wie kaum einer zu dieser Aufgabeberufen.

(Sehr richtig! links.)

Seine Sprachkenntnisse, die formvollendete Art seiner Darstellung machtenihn in ersten Linie geeignet, an dieser Anknüpfung von Fädenzwischen den Völkern erfolgreich zu arbeiten.

(Zustimmung links.)

Wenn dann ein Mann wie Rathenau über trennende Grenzpfählehinaus bei aller Betonung des Deutschen, seines Wertes für die Geschichte,seiner kulturellen Taten, seines Forschungstriebes, seines Wahrheitssuchensdie großen Probleme der Kulturentwicklung Europas und der Wirtschaftorganisatorisch durch seine Arbeiten in allen Ländern, dann als Staatsmannim Auswärtigen Amt mit den reichen Gaben seines Geistes die ihm jadas Judentum in der ganzen Welt, das kulturell und politisch bedeutsamist, gewährt hat, dann hat er damit dem deutschen Volke einen großenDienst erwiesen. Ziehen Sie auch andere Vertreter zur Arbeit heran -- jedemist die Tür geöffnet --, solche, die kirchlichen Organisationenangehören, sei es der evangelischen, sei es der katholischen Kirche,aus den Arbeiterorganisationen, allen ist die Tür für die Anknüpfunginternationaler Beziehungen geöffnet. Es ist notwendig, daßjeder Faden geflochten wird, der die zerrissenen Völker einander wiedernäherbringt.

(Lebhafte Zustimmung links und in der Mitte.)

Dabei geben wir nichts auf, was unser eigenes Volk angeht. Glaubt dennjemand in der Welt, daß es in Deutschland Toren gibt, die meinen,daß, wenn sie die eigene Wirtschaft zu einem Friedhof eingeebnethaben, dann die Tage des Sozialismus kämen? Daran glaubt niemand.

(Sehr richtig! im Zentrum.)

Dieses Phantom, als ob wir die Nation zerstören wollten, um dannerst wieder Politik zu machen, ist doch das törichste, was es in derWelt gibt.

(Sehr gut! bei den Deutschen Demokraten.)

Geduld, meine Damen und Herren, wieder Geduld und nochmals Geduld unddie Nerven angespannt und zusammengehalten auch in den Stunden, wo es persönlichund parteipolitisch angenehmer wäre, sich in die Büsche zu drücken.

(Sehr gut! links.)

In jeder Stunde, meine Damen und Herren, Demokratie! Aber nicht Demokratie,die auf den Tisch schlägt uns sagt: wir sind an der Macht! -- nein,sondern jene Demokratie, die geduldig in jeder Lage für das eigeneunglückliche Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht! Indiesem Sinne, meine Damen und Herren, Mitarbeit! In diesem Sinne müssenalle Hände, muß jeder Mund sich regen, um endlich in Deutschlanddiese Atmosphäre des Mordes, des Zankes, der Vergiftung zu zerstören!

Da steht (nach rechts) der Feind, der sein Gift in die Wunden einesVolkes träufelt. -- Da steht der Feind -- und darüber ist keinZweifel: dieser Feind steht rechts!"

(Stürmischer langanhaltender Beifall und Händeklatschenin der Mitte und links und auf sämtlichen Tribünen. -- Großelangandauernde Bewegung.)

Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. I. Wahlperiode1920. Bd. 356. 236. Sitzung. Berlin 1922, S. 8054 - 8058.

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