Rudolf Breitscheid (SPD)

Ansprache für die SPD zur Reichstagswahl am 14. September 1930

"Wähler und Wählerinnen. Die Sozialdemokratie ist in der glücklichen Lage, daß ihr für den Wahlkampf wertvolle Parolen von Politikern aus dem Lager der bürgerlichen Parteien geliefert worden sind. Da ist zunächst der Ruf den der Demokratische Finanzminister Dietrich in einer der letzten Stunden des alten Reichstags ausstieß. Er lautete: "Es muß sich entscheiden, ob wir ein Staatsvolk oder ein Interessentenhaufen sind." Nie aber hat -- so stellen wir fest -- die Interessentenpolitik größere Triumphe gefeiert als unter der Regierung Brüning: Die Landwirtschaftspolitik wurde zum Schaden der Verbraucher, zum Schaden der kleinen Bauern und zum Nachteil unseres Handels mit dem Ausland, den Wünschen des Großgrundbesitzes angepaßt. Die Sozialpolitik entsprach den Forderungen der großen Unternehmerverbände. Bei den Steuern wurde den Ansprüchen rückständiger Mittelständier Rechnung getragen, und zugleich wurden den Königen der chemischen Industrie, den Braunkohlenbesitzern, den Zigarettenfabrikanten, den großen Bierbrauern unerhörte Profite zugeschanzt. [...] Gegen diese Regierung hat die Sozialdemokratie gekämpft und wird sie weiter streiten. Denn unsere Partei ist es, die das Allgemeinwohl und damit das Wohl des arbeitenden Volkes über die Interessen einzelner blicken läßt. Aber die Regierung Brüning mußte den Weg einer solchen Interessentenpolitik bestreiten, weil sie ohne die Sozialdemokratie regieren wollte. Dazu brauchte sie im Reichstag eine Mehrheit, die sich weit nach rechts hin ausdehnte. Sie mußte nun die Wünsche der Gruppen befriedigen, die hinter den bürgerlichen Parteien bis hin zu den Volkskonservativen stehen, und sie mußte darüber hinaus bemüht sein, durch Zugeständnisse und Versprechungen auch den größten Teil der Deutschnationalen zu gewinnen. Das zwang die Bürgerblockregierung dazu, nicht nur ohne die Sozialdemokratie, sondern auch gegen die Sozialdemokratie und damit gegen das arbeitende Volk zu regieren. Sie würde zu einer solchen Politik nicht den Mut gefunden haben, wenn die Arbeiterschaft einig wäre und nicht von kommunistischer und nationalsozialistischer Seite die Front derer, die von ihrer Arbeit leben, zersetzen würde. So aber konnte sie es wagen, nicht nur die Steuerlasten ungerecht zu verteilen, sondern auch Vorstöße gegen die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit zu unternehmen. Sie schränkte vor allem die Leistungen der Arbeitslosenversicherung ein und führte einen schweren Schlag gegen die Krankenversicherung. Da es ihr trotzdem nicht gelang, eine genügend große Zahl von Deutschnationalen zu sich herüberzuziehen, griff sie unter Verletzung der Verfassung zu der Waffe des Artikels 48, das heißt, sie erließ die Gesetze, die der Reichstag ablehnte, auf dem Wege der Verordnung und erschütterte damit die Grundlagen unseres Staatswesens. Als der Reichstag dann die Aufhebung der Verordnungen verlangte, löste die Regierung ihn auf. Und jetzt handelt es sich darum, ob bei der Wahl am 14. September aus der Minderheit, die bis dahin die Regierung unterstützte, eine Mehrheit werden soll. Gelänge das, so würden sich verhängnisvolle Folgen für das arbeitende Volk in Stadt und Land ergeben. Es ist nicht wahr, wenn behauptet wird, daß der Reichstag versagt habe. Gescheitert ist nur die Politik des Regierens gegen die Sozialdemokratie."

Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main

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