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Ich besuchte das Orakel von Delphi
Ich bin ein treuer Soldat eines mächtigen Königs. Dieser König regiert über
Phrygien. Vor einiger Zeit drohte Krieg zwischen unserem und unserem
Nachbarreich, dem Reich der Perser. Der König wusste, dass der Kampf bald
beginnen würde und beschloss mich mit einem Freund zu dem berühmten Orakel
von Delphi zu schicken, um zu fragen, wie der Krieg ausgehen würde. Wir
machten uns also auf den Weg. Dieser war lang und beschwerlich, denn wir
waren nur zu Fuß eine Woche und dann mit dem Schiff sechs Tage unterwegs.
Nach ungefähr zweiwöchiger Reise waren wir am Ziel. Delphi ist eine schöne
und große Tempelanlage. Wir brauchten nicht lange zu fragen, bis uns jemand
den Weg zum Tempel des Apoll mit dem Orakel beschreiben konnte. Wir gingen
vorbei an den Häusern, in denen die Weihegeschenke für Apoll standen. Dann
um die nächste Ecke standen wir vor dem großen Heiligtum. Es war ein schöner
Tempel auf einer großen Terrasse am Hang mit Säulen rundherum, verziert und
verschnörkelt. Mein Freund wollte sich um eine Bleibe kümmern. Ich dagegen
begab mich sofort in den Tempel. Innen roch es nach Weihrauch und anderen
teueren Gewürzen. Nachdem ich mich angemeldet hatte, wartete ich geduldig im
Vorraum, bis ich dran kam. Als es soweit war, betrat ich den eigentlichen
Tempel. Hier herrschte gedämpftes Licht und es war sehr nebelig. Ein
Priester kam aus dem geheimnisvollen Dämmerlicht auf mich zu und ich trug
ihm mein Anliegen vor. Er murmelte ein heilige Formel und versprach, meine
Frage der Orakelpriesterin vorzulegen. Vom Eingang zur inneren Tempelkammer
sah ich, wie er auf die berühmte Pythia zutrat und ihr flüsternd meine Frage
vorlegte. Als Sterblicher durfte ich diesen allerheiligsten bereich nicht
betreten. Selbst die Priester mussten sich speziellen Reinigungsritualen
unterwerfen, damit sie von Apoll im Innersten geduldet wurden. Pythia saß
auf einem hohen Hocker und wurde von Nebelfetzen, die aus Ritzen im Boden
aufstiegen, umweht. Ich sah, dass sie dem Priester etwas sagte. Der Priester
trat mit freundlichen Gesicht auf mich zu und gratulierte mir und meinem
König, dass wir durch unseren Krieg ein großes Reich zerstören würden. Nun
waren wir sicher, dass wir die Perser besiegen würden. Unsere Spende an
Apoll wurde noch einmal aufgestockt und wir verließen Delphi, um unserem
König die gute Botschaft zu bringen.
Sechs Monate später kam ich nach Delphi zurück. Mein
Freund konnte nicht mitkommen. Er war tot. So wie viele andere Krieger, denn
wir hatten den Krieg verloren und unser Königreich war vernichtet. Die
Perser hatten uns besiegt und aus dem freien Land eine persische Provinz
gemacht. In Delphi wurden unsere Beschwerden, dass das Orakel sich geirrt
habe, zurückgewiesen. Der Priester sagte, das Orakel habe Recht gehabt, ein
großes Reich sei zerstört worden. Nichts anderes hat Pythia gesagt! Auch
unsere Spenden, die wir als Flüchtlinge dringend gebraucht hätten, bekamen
wir nicht mehr zurück. Ein Gott behält was er hat. |
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