Bericht des amerikanischen Botschaftsrats in Moskau George F. Kennan vom 22. Februar 1946


"Angesichts der jüngsten Ereignisse werden die folgenden Anmerkungen für das Ministerium von Interesse sein:
I. Grundzüge sowjetischen Verhaltens seit Kriegsende (wie aus der offiziellen Propaganda zu entnehmen)
A. Die UdSSR lebt immer noch inmitten feindseliger ‘Kapitalistischer Einkreisung’, mit der es auf die Dauer keine friedliche Koexistenz geben kann. Wie Stalin 1927 vor einer Delegation amerikanischer Arbeiter erklärte:
‘Im weiteren Verlauf der internationalen Revolution werden zwei Zentren von weltweiter Bedeutung entstehen: ein sozialistisches Zentrum, das die zum Sozialismus neigenden Länder an sich zieht, und ein kapitalistisches Zentrum, das die zum Kapitalismus neigenden Länder an sich zieht. Im Kampf dieser beiden Zentren um die Beherrschung der Weltwirtschaft wird das Schicksal des Kapitalismus und des Kommunismus in der ganzen Welt entschieden.’
B. Die kapitalistische Welt ist voll innerer Konflikte, die im Wesen des Kapitalismus liegen. Diese Konflikte sind durch friedlichen Ausgleich nicht lösbar. Der größte von ihnen ist der zwischen England und den US.
C. Die inneren Konflikte des Kapitalismus führen unvermeidlich zu Kriegen. Solche Kriege können von zweierlei Art sein: innerkapitalistische Kriege zwischen zwei kapitalistischen Staaten und Interventionskriege gegen die sozialistische Welt. Schlaue Kapitalisten neigen bei ihrem vergeblichen Bemühen um einen Ausweg aus den inneren Konflikten des Kapitalismus zu letzteren.
D. Intervention gegen die UdSSR würde zwar für ihre Urheber verhängnisvoll sein, würde aber Fortschritte des sowjetischen Sozialismus erneut verzögern und muß deshalb um jeden Preis verhindert werden.
E. Konflikte zwischen kapitalistischen Staaten bergen zwar ebenfalls Gefahren für die UdSSR, bieten jedoch der Sache des Sozialismus auch große Chancen, besonders wenn die UdSSR militärisch mächtig, ideologisch ungespalten und ihrer jetzigen genialen Führung ergeben bleibt.
F. Es darf nicht übersehen werden, daß die kapitalistische Welt nicht durch und durch schlecht ist. Abgesehen von den hoffnungslos reaktionären und bourgeoisen Elementen enthält sie 1. bestimmte wirklich aufgeklärte und positive Elemente, die in annehmbaren kommunistischen Parteien vereinigt sind, und 2. gewisse andere Elemente (zur Zeit aus taktischen Gründen fortschrittlich oder demokratisch genannt), deren Reaktionen, Hoffnungen und Betätigungen die Interessen der UdSSR ‘objektiv’ unterstützen. Letztere müssen ermutigt und für sowjetische Zwecke benutzt werden.
G. Unter den negativen Elementen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sind die gefährlichsten die, die Lenin die falschen Freunde des Volkes nannte, nämlich gemäßigt-sozialistische oder sozialdemokratische Führer (in anderen Worten, die nichtkommunistische Linke). Sie sind gefährlicher als die Erzreaktionäre, denn diese segeln wenigstens unter der eigenen Flagge, während gemäßigte Führer der Linken das Volk verwirren, indem sie sich der Instrumente des Sozialismus zur Förderung der Interessen des reaktionären Kapitals bedienen.
Soweit die Voraussetzungen. Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die sowjetische Politik? Die folgenden:
A. Es muß alles getan werden, um die relative Stärke der UdSSR in der internationalen Gesellschaft zu vergrößern. Umgekehrt darf keine Gelegenheit versäumt werden, die Stärke und den Einfluß der kapitalistischen Mächte einzeln oder in ihrer Gesamtheit zu verringern.
B. Die Bemühungen der Sowjetunion und ihrer Freunde im Ausland müssen sich darauf ausrichten, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte zwischen kapitalistischen Mächten zu verschärfen und auszubeuten. Wenn sie sich irgendwann zu einem ‘imperialistischen’ Krieg ausweiten, muß dieser Krieg in den verschiedenen kapitalistischen Ländern in revolutionäre Erhebungen umgewandelt werden.
C. ‘Demokratisch-fortschrittliche’ Elemente im Ausland sind zu benutzen, um auf kapitalistische Regierungen in Richtung der sowjetischen Interessen Druck auszuüben.
Sozialistische und sozialdemokratische Führer im Ausland müssen rücksichtslos bekämpft werden. ...
III. Auswirkung der sowjetischen Betrachtungsweise auf die amtliche Politik...
B. Wo es angezeigt und erfolgversprechend scheint, wird man versuchen, die äußeren Grenzen der Sowjetmacht zu erweitern. Im Augenblick beschränken diese Bemühungen sich auf gewisse Punkte in der Nachbarschaft, die man hier für strategisch notwendig hält, z. B. Nordpersien, die Türkei, möglicherweise Bornholm...
D. Gegenüber Kolonialgebieten und rückständigen oder abhängigen Völkern wird die sowjetische Politik sogar auf amtlicher Ebene das Ziel verfolgen, Macht, Einfluß und Kontakte der hochentwickelten westlichen Nationen zu schwächen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß bei einem Erfolg dieser Politik ein Vakuum entstünde, das sowjetisch-kommunistisches Eindringen erleichtern müßte...
V. Praktische Folgerungen für die amerikanische Politik
Alles in allem haben wir es mit einer politischen Kraft zu tun, die sich fanatisch zu dem Glauben bekennt, daß es mit Amerika keinen dauernden Modus vivendi geben kann, daß es wünschenswert und notwendig ist, die innere Harmonie unserer Gesellschaft, unsere traditionellen Lebensgewohnheiten und das internationale Ansehen unseres Staates zu zerstören, um der Sowjetmacht Sicherheit zu verschaffen. Diese politische Kraft kann uneingeschränkt über die Arbeitskraft eines der größten Völker der Erde und über die Rohstoffe des reichsten Staatsgebiets der Erde verfügen, und sie wird getragen von dem tiefen und machtvollen Strom des russischen Nationalismus. Außerdem steht ihr ein durchkonstruierter und weitverzweigter Apparat für die Ausübung ihres Einflusses in anderen Ländern zu Gebote, ein Apparat von erstaunlicher Flexibilität und Vielseitigkeit, der von Leuten mit einer in der Geschichte wahrscheinlich einmaligen Erfahrung in Untergrundmethoden bedient wird. Ferner ist sie im Kern realistischen Erwägungen offenbar unzugänglich. Für sie ist der reiche Schatz objektiver Erkenntnisse über die menschliche Gesellschaft nicht wie bei uns ein Maßstab, um daran die eigenen Anschauungen ständig zu überprüfen, sondern eine Wundertüte, aus der man nach Belieben das eine oder andere herausfischen kann, um damit eine bereits gefaßte Meinung zu belegen. Zugegebenermaßen sind das für uns keine erfreulichen Aussichten. Die Aufgabe, sich mit dieser Kraft auseinanderzusetzen, ist zweifellos die größte, die unserer Diplomatie je gestellt worden ist und vermutlich je gestellt werden wird. Unsere politische Generalstabsarbeit sollte sie zum Ausgangspunkt machen. Sie sollte mit derselben Gründlichkeit und Sorgfalt und nötigenfalls mit demselben Aufwand an Planung behandelt werden wie im Kriege ein großes strategisches Problem. Ich kann hier nicht einmal versuchen, die Antworten anzudeuten. Aber ich möchte meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß es in unserer Macht steht, das Problem zu lösen, und zwar ohne uns in einen großen militärischen Konflikt zu flüchten. Und um diese Überzeugung zu untermauern, möchte ich noch einige ermutigendere Bemerkungen machen:
Erstens. Im Gegensatz zu Hitler-Deutschland ist die Sowjetmacht weder schematisiert noch auf Abenteuer aus. Sie arbeitet nicht nach festgelegten Plänen. Sie geht keine unnötigen Risiken ein. Der Logik der Vernunft unzugänglich, ist sie der Logik der Macht in hohem Maße zugänglich. Daher kann sie sich ohne weiteres zurückziehen – und tut das im allgemeinen –, wenn sie irgendwo auf starken Widerstand stößt. Wenn also dem Gegner genügend Hilfsmittel zur Verfügung stehen und er die Bereitschaft zu erkennen gibt, sie auch einzusetzen, wird er das selten tun müssen. Wenn die Situation richtig gehandhabt wird, braucht es zu keiner das Prestige verletzenden Kraftprobe zu kommen.
Zweitens. Gemessen an der westlichen Welt insgesamt sind die Sowjets noch bei weitem schwächer. Ob sie Erfolg haben, hängt also wirklich von dem Maß an Zusammenhalt, Festigkeit und Kraft ab, das die westliche Welt aufbringen kann. Und das ist ein Faktor, den zu beeinflussen in unserer Macht steht.
Drittens. Der Erfolg des sowjetischen Systems als Form der Machtausübung nach innen ist noch nicht endgültig erwiesen. Es muß noch zeigen, daß es die schwerste Prüfung des wiederholten Machtübergangs von einer Person oder Gruppe auf die andere übersteht. Lenins Tod war der erste solche Übergang, und seine Folgen erschütterten den Sowjetstaat fünfzehn Jahre lang. Stalins Tod oder Rücktritt wird der zweite sein. Aber selbst das ist noch nicht der endgültige Test. Infolge seiner kürzlichen Territorialgewinne wird das sowjetische innere Gefüge sich einer Reihe zusätzlicher Belastungen ausgesetzt sehen, die einst für den Zarismus eine schwere Bürde waren. Wir hier sind überzeugt, daß seit dem Ende des Bürgerkriegs die Masse des russischen Volkes den Doktrinen der Kommunistischen Partei noch nie stärker entfremdet war als heute. In Rußland ist die Partei jetzt zu einem riesigen und im Augenblick höchst erfolgreichen Apparat diktatorischer Verwaltung geworden, aber sie hat aufgehört, Begeisterung zu inspirieren. Die innere Stabilität und die Dauerhaftigkeit der Bewegung brauchen daher noch nicht als gesichert angesehen zu werden.
Viertens. Alle sowjetische Propaganda außerhalb des sowjetischen Sicherheitsbereichs ist grundsätzlich negativ und destruktiv. Es sollte daher verhältnismäßig leicht sein, sie durch ein intelligentes und wirklich konstruktives Programm zu bekämpfen.
Aus diesen Gründen meine ich, daß wir an das Problem des Umgangs mit Rußland gelassen und guten Mutes herangehen können. Darüber, wie das zu geschehen habe, möchte ich zum Schluß lediglich folgende Bemerkungen machen:
1. Als erstes müssen wir uns bemühen, das Wesen des Phänomens, mit dem wir zu tun haben, zu erfassen und es objektiv zu beurteilen. Wir müssen es mit demselben Mut und derselben Distanz studieren und dürfen uns von ihm so wenig provozieren oder aus der Fassung bringen lassen wie ein Arzt von aufsässigen und unvernünftigen Individuen.
2. Wir müssen dafür sorgen, daß unsere Öffentlichkeit darüber aufgeklärt wird, wie die Dinge in Rußland wirklich stehen. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig das ist. Die Presse allein kann es nicht. Es muß in der Hauptsache durch die Regierung geschehen, die notwendigerweise mehr Erfahrung hat und über die praktischen Probleme besser Bescheid weiß. Das Abschreckende des Bildes braucht uns nicht davon abzuhalten. Ich bin überzeugt, daß es in unserem Lande heute viel weniger antisowjetische Hysterie gäbe, wenn unser Volk mit der Situation besser vertraut wäre. Nichts ist so gefährlich oder so schrecklich wie das Unbekannte. Man könnte zwar behaupten, daß es die russisch-amerikanischen Beziehungen nachteilig beeinflussen würde, wenn wir offener über unsere Schwierigkeiten mit Rußland sprächen. Ich glaube aber, daß wir dieses Risiko, falls es eins ist, auf uns nehmen sollten, und zwar möglichst bald. Aber ich sehe nicht, was wir eigentlich riskieren. Denn selbst jetzt, nachdem wir unsere Freundschaft für das russische Volk so überwältigend demonstriert haben, verbinden uns mit dem Land bemerkenswert wenige Interessen. Wir haben keine Investitionen zu überwachen, keinen wirklichen Handel zu verlieren, praktisch keine Staatsangehörigen zu schützen, nur wenige kulturelle Kontakte zu erhalten. Unser Interesse liegt viel mehr in dem, was wir erhoffen, als in dem, was wir haben; und ich bin überzeugt, daß unsere Aussicht auf Verwirklichung dieser Hoffnungen steigt, wenn wir unser Volk aufklären und unsere Beziehungen zu den Russen auf eine realistische und rein sachliche Basis stellen.
3. Viel hängt von der Gesundheit und Kraft unserer eigenen Gesellschaft ab. Der Weltkommunismus ist wie ein bösartiger Parasit, der sich nur von erkranktem Gewebe nährt. Das ist der Punkt, in dem Innen- und Außenpolitik einander begegnen. Jede mutige und einschneidende Maßnahme zur Lösung der inneren Probleme unserer eigenen Gesellschaft, zur Hebung von Selbstvertrauen, Disziplin, Moral und Gemeinsinn in unserem Volk ist ein diplomatischer Sieg über Moskau, der tausend diplomatische Noten und gemeinschaftliche Kommuniqués aufwiegt. Wenn wir nicht den Fatalismus und die Indifferenz gegenüber Unvollkommenheiten unserer eigenen Gesellschaft abschütteln, wird Moskau profitieren – muß Moskau zwangsläufig davon in seiner Außenpolitik profitieren.
4. Wir müssen den anderen Nationen viel mehr als bisher die Welt, die uns vorschwebt, in positivem Licht zeigen. Es genügt nicht, die Leute aufzufordern, eine ähnliche Regierungsform zu entwickeln wie wir. Viele fremde Völker, zum mindesten in Europa, sind durch die erlittenen Erfahrungen ermüdet und verschreckt und interessieren sich weniger für abstrakte Freiheit als für Sicherheit. Sie suchen Führung eher als Verantwortung. Wir sollten besser befähigt sein als die Russen, sie ihnen zu geben. Und wenn wir es nicht tun, werden die Russen es bestimmt.
5. Endlich aber brauchen wir den Mut und das Selbstvertrauen, an unseren eigenen Methoden und unseren Vorstellungen von der menschlichen Gesellschaft festzuhalten. Alles in allem liegt bei der Auseinandersetzung mit dem Problem des sowjetischen Kommunismus die größte Gefahr für uns in der Versuchung, es denen gleichzutun, mit denen wir uns messen müssen."