Die Westgoten

 

 
 

Der Kern der gotischen Stammesgruppe war ursprünglich in Südskandinavien beheimatet und wanderte dann über die Ostsee in das Weichselbecken aus – so berichtet es auch der Geschichtsschreiber der Goten, Jordanes, im 6. Jahrhundert –, wo er sich um die Zeitenwende mit der ansässigen eisenzeitlichen Bevölkerung vermischte. 

Ein großer Teil dieses neu entstandenen Stammesgefüges wanderte ab der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts in Richtung Schwarzmeerküste ab; dort kam es erneut zu einer Vermischung mit anderen germanischen sowie einheimischen Ethnien. Von Südrussland aus fielen die Goten ab 238 auf dem Balkan und in Kleinasien wiederholt ins Römische Reich ein und und besetzten 270 die ehemals römische Provinz Dakien. Ende des 3. Jahrhunderts teilten sich die Goten in zwei Gruppen auf: Westlich des Dnjestr, zwischen Dnjestr und Donau, siedelten die Westgoten (Wisigoten, Wesegoten, Terwingen; lateinisch Visigothae, Vesegothae), östlich des Dnjestr bis jenseits des Don herrschten die Ostgoten (Ostrogoten, Greutungen). Ab der Mitte des 4. Jahrhunderts bekannten sich die Goten, vor allem die Westgoten, zunehmend zum arianischen Christentum, zu dessen Verbreitung insbesondere der Bischof der Goten Wulfilas, der auch die Bibel ins Gotische übersetzt hatte, beitrug. Diese Christianisierung brachte später die Goten in Gegensatz zu den "katholischen" Römern und den "katholischen" Franken. 


376 suchten die Westgoten unter Fritigern vor der Bedrohung durch die Hunnen Schutz beim römischen Kaiser Valens und baten um Aufnahme ins Römische Reich. Valens gestattete ihnen, sich in der römischen Provinz Moesien südlich der Donau anzusiedeln. Wenig später erhoben sich die Westgoten gegen die Römer; der Konflikt erreichte 378 seinen Höhepunkt in der Schlacht bei Adrianopel (heute Edirne), in der die Westgoten siegten und Valens ums Leben kam. Theodosius I., der Große, der Nachfolger von Valens als Kaiser im Osten, schloss 382 schließlich Frieden mit den Goten, siedelte sie als Foederaten in Moesien und Thrakien an und zog sie zum Dienst im römischen Heer heran. Seit diesem Zeitpunkt spielten die Westgoten eine wichtige Rolle im Römischen Reich.


Als Theodosius 395 starb, kündigten die Westgoten ihr Bündnis mit dem Römischen Reich auf und erhoben Alarich zu ihrem Führer. Unter Alarich, der den Königstitel annahm, zogen sie in den folgenden Jahren plündernd durch den Balkan und die Peloponnes und fielen schließlich in Italien ein. Dort wurden sie zunächst von Stilicho zurückgeschlagen; nach dessen Tod eroberten und plünderten sie 410 die Stadt Rom, zogen dann weiter nach Süditalien, wo Alarich kurz vor der geplanten Überfahrt nach Nordafrika starb (Sein Grab liegt am Busento). Unter Alarichs Nachfolger Athaulf zogen sie wieder nach Norden, nach Südgallien, und anschließend nach Spanien, wo sie im Auftrag Westroms gegen die Wandalen kämpften. Unter Athaulfs Bruder und Nachfolger Wallia erhielten die Westgoten 416 als römische Föderaten in Aquitanien Land zur Ansiedelung und begründeten dort um ihre Hauptstadt Toulouse das Tolosanische Reich, das sie in der Folge sukzessive ausweiteten.


451 waren die Westgoten als Verbündete Roms an der entscheidenden Schlacht auf den Katalaunischen Feldern gegen die Hunnen und die Ostgoten beteiligt. Unter Eurich, einem Sohn des Theoderich, erlebte das Tolosanische Reich den Höhepunkt seiner Macht und seine größte Ausdehnung: Es erstreckte sich bis zur Loire im Norden und zur Rhône im Osten und über fast ganz Spanien im Süden, und mit dem Untergang des Weströmischen Reiches 476 erreichte das Tolosanische Reich seine Unabhängigkeit. Eurich übernahm viele Errungenschaften der römischen Zivilisation und ließ eine Gesetzessammlung (den Codex Euricianus) erstellen, die römische mit germanischen Elementen kombinierte. Alarich II., der Sohn und Nachfolger Eurichs, führte 506 ein neues Gesetzbuch ein, das so genannte Breviarium Alaricianum, das weitgehend römische Rechtsquelllen übernahm und vor allem die Vielzahl der römischen Untertanen im Westgotenreich stärker an den König binden sollte. 507 wurden die Westgoten bei Vouillé von den Franken unter Chlodwig I. geschlagen; Alarich II. fiel in dieser Schlacht, und die Westgoten verloren fast ganz Aquitanien.


Das nun auf Spanien beschränkte Westgotenreich mit der Hauptstadt Toledo hatte sich mit Kämpfen zwischen König und Adel im Inneren und Bedrohungen von außen auseinander zu setzen. Mitte des 6. Jahrhunderts eroberten die Byzantiner den Süden, konnten jedoch wenig später wieder verdrängt werden, und 585 eroberten die Westgoten das Swebenreich im Nordwesten der Iberischen Halbinsel. 587 trat der westgotische König Rekkared I. vom Arianismus zum Katholizismus über und leitete damit sowie mit der Zulassung von Mischehen zwischen Westgoten und Romanen eine rasche Romanisierung der Westgoten ein. Mitte des 7. Jahrhunderts erließ schließlich König Rekkeswind mit dem Liber Iudicourum oder Lex Visigothorum ein einheitliches Recht für Westgoten und Romanen. 711 besiegten die Mauren den letzten westgotischen König Roderich in der Schlacht am Río Barbate und besiegelten damit das Ende des Westgotenreiches in Spanien.