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Anweisung der US
 

Anweisung der US-Regierung an die US-Truppen in Deutschland

4. Grundlegende Ziele der Militärregierung in Deutschland:

a) Es muß den Deutschen klargemacht werden, daß Deutschlands rücksichtslose Kriegführung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht haben und daß sie nicht der Verantwortung für das entgehen können, was sie selbst auf sich geladen haben.

b) Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat. Ihr Ziel ist nicht die Unterdrückung, sondern die Besetzung Deutschlands, um gewisse wichtige alliierte Absichten zu verwirklichen. Bei der Durchführung der Besetzung und Verwaltung müssen Sie gerecht, aber fest und unnahbar sein. Die Verbrüderung mit deutschen Beamten und der Bevölkerung werden Sie streng unterbinden.

c) Das Hauptziel der Alliierten ist es. Deutschland daran zu hindern, je wieder eine Bedrohung des Weltfriedens zu werden. [. . -|

 

und die Wirklichkeit?

 

20. Dezember

Später, nach Kriegsende, bezeichnete man jegliche unerwünschte Vertraulichkeit mit den Deutschen als "fraternisieren". Meistens ging es dabei um Frauengeschichten, deretwegen etliche Soldaten vor den Kadi gebracht wurden. Fraternisieren schien mir immer das falsche Wort dafür zu sein; mit "Verbrüderung" hatte es nicht viel zu tun. Zwischenmenschlicher Kontakt, das war es viel eher, was stattfand. An jenem Abend pflegten wir Kontakt mit dem Feind.

Miller, Shutzer und ich gehen zusammen an den Rand der Brücke. Da wir unten im Bachbett stehen, haben wir den Stamm des Christbaums in Augenhöhe. Die Gewehre tragen wir umgehängt, und ich habe sogar vergessen, eine Handgranate mitzunehmen.
Dann geht es los. Zuerst zaghaft, ein- oder zweistimmig, dann alle im Chor, stimmen sie ein Weihnachtslied an. Sie singen deutsch, aber das Lied kenne ich. Es ist "O Tannenbaum"; dieselbe Melodie wie "O Christmas Tree" auf Amerikanisch. Als die Deutschen aufhören zu singen, herrscht vollkommene Stille; die Kerzen brennen noch. Dann heben sie wieder an. Diesmal singen sie "Adeste Fideles". Miller beugt sich an mein Ohr.
"Da liegen Weihnachtsgeschenke unter dem Baum. Siehst du sie? Ein Laib Brot, eine Flasche Wein und irgendwas, das aussieht wie eine von Corrollos Würsten."
Diesmal tritt, als das Lied zu Ende ist, der Unteroffizier in die Mitte der Straße heraus und stellt sich neben den Baum. Er hebt Weinflasche und Brotlaib auf und hält sie uns hin. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich kann mich nicht dazu durchringen, einen forschen Klimmzug zu ihm hinauf zu machen und da oben vor den Augen der anderen Geschenke von einem Deutschen entgegenzunehmen. Er steht ganz alleine da, die Arme ausgestreckt, und blickt suchend in die Dunkelheit.
Just in diesem Augenblick kommt Father Mundy die Straße heruntergaloppiert, aus vollem Halse "Adeste Fideles" singend. Er hat Sachen in den Händen und sich auch noch irgendwelchen Krempel unter die Arme geklemmt. Sein Gewehr hat er vergessen. Er geht schnurstracks auf den Deutschen zu und überreicht ihm unsere letzte Flasche Wein, gleichzeitig nimmt er das Brot entgegen. Dann gibt er ihm noch allerlei kleine Päckchen und greift nach ihrer Flasche. Der Deutsche bückt sich, hebt die Wurst unter dem Weihnachtsbaum auf und reicht sie Mundy. Dabei quasseln beide pausenlos aufeinander ein und grinsen sich an.
Da greift der Deutsche plötzlich in seine Uniformjacke und zieht eine Luger hervor! Ich will mir das Gewehr von der Schulter reißen, aber zu spät. Der Deutsche übergibt Father die Luger, den Kolben voran, oder vielmehr will er sie ihm übergeben. Mundy schiebt sie weg! Ich höre ein lautes "No, Sir!"
Ob der Deutsche Englisch kann? Oder ob Mundy uns die ganze Zeit verheimlicht hat, daß er fließend Deutsch spricht? Vielleicht spricht er auch Jiddisch, ein irischer Jude, der die katholische Kirche unterwandert. Nein, das geht zu weit.
Jetzt klaubt Mundy eine der Handgranaten aus seiner Jackentasche. Manchmal verschwitzt er sogar, sie herauszunehmen, wenn er schlafen geht; das alles kümmert Mundy, wie gesagt, herzlich wenig. Bei Gott, er reicht dem Deutschen diese Granate. Der Deutsche dreht sich um und hängt sie an den Christbaum. Der Zweig biegt sich bis auf den Boden. Sie lachen beide.
Die übrigen Deutschen rühren sich nicht während dieser Zeremonie. Dann schmettern sie "Stille Nacht" auf deutsch. Miller, Mundy und ich fallen mit "Silent Night" auf englisch ein.
Danach schütteln Mundy und der Deutsche einander die Hände, und Mundy setzt mit einem Schrägsprung über die Mauer zu uns. Der Deutsche gesellt sich zu seinen Leuten auf der anderen Straßenseite; noch immer singen wir mit vereinten Kräften. Fehlte nur noch, daß Judy Garland uns im rosa Rüschenkleid ein Ständchen brächte oder Sonja Henie auf dem Bach Pirouetten drehte. Auf einmal höre ich hinter uns noch jemand singen; Gordon ist heruntergekommen. Mother Wilkins ist vermutlich noch immer oben auf Posten und gibt uns Deckung. Schließlich war niemand am Telefon, deshalb kann er auch nicht ahnen, was sich hier unten abspielt, aber er müßte den Gesang hören.

Die Kerzen an dem Baum haben angefangen zu spucken. Es bläst ein kräftiger Wind, und sie brennen rasch herunter; einige sind sogar schon ausgegangen. Ich blicke in die Kerzen und versinke in Gedanken. Ohne sichtbares Handzeichen verziehen sich die Deutschen langsam wieder in den Wald und rücken ab, den Hang hinauf.
Nur wenige Kerzen brennen noch. Wir machen kehrt, und Mundy, Mel und ich gehen zurück zum Schloß. Miller und Shutzer haben noch etwa eine halbe Stunde lang Wache. Wir reden kaum; es hat uns die Sprache verschlagen.
In unserem Salon angekommen, breitet Mundy die Geschenke der Deutschen auf einer Matratze aus. Gordon stellt sein Gewehr ab und läßt sich auf einer anderen Matratze nieder. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie aufgeregt ich war, aber jetzt stelle ich fest, daß ich zittere. Anscheinend kann ich solche Erlebnisse nicht so gut verkraften wie die anderen. Vielleicht sind Künstlertypen nicht fürs Kriegspielen geschaffen, oder vielleicht bin ich auch nur ein Feld-Wald-und-Wiesen-Angsthase.
Ich bin froh, drin zu sein und noch immer über zwei Stunden Freiwache vor mir zu haben. Ich hole tief Luft. Im Augenblick wäre es mir lieb, wenn Gordon draußen auf Posten wäre; ich könnte dringend eine Zigarette vertragen. Aber der zieht sich gerade die Stiefel aus und frotzelt Mundy.
"Jetzt mal raus mit der Sprache, Mundy. Wie ist das eigentlich, haben sie dir in der Seminarsschule Deutsch beigebracht, weil du als so 'ne Art Missionar den päpstlichen Nuntius nach Berlin begleiten und die Barbaren im rechten Glauben unterweisen solltest? Oder womöglich bist du ein deutscher Spion, der mitten unter uns sein Unwesen treibt, um mit dem ganzen christlichen Geschwafel unsere Kampfmoral zu untergraben? Was zum Teufel habt ihr beiden Kerle euch eigentlich die ganze Zeit erzählt da unten? Er hat doch nicht etwa englisch gesprochen, oder?"
Mundy nestelt an seinen Stiefeln. Er reckt sich, gähnt, lüftet seine Strickmütze ein paar Zentimeter und kratzt sich den Schädel.
"Tja, ich hab bloß immer wieder Merry Christmas und Happy New Year gesagt. Bestimmt an die fünfzig Mal. Merry Christmas, Happy New Year."
"Und was hat er zu dir gesagt? Was hat der Kerl denn gesagt?"
"Es klang so ähnlich wie Throw me a why not. Das hat er immer wieder gesagt. Und dann, als er mir das Brot gab, sagte er, Why not go shrink. So hat es sich jedenfalls angehört. Ich hab keinen blassen Dunst von diesem Kauderwelsch. Ich kann ein paar Worte Irisch und hab 'ne ganze Menge Latein auswendig gelernt, aber kein Deutsch."

Erst Jahre später, als ich Weihnachten mit meiner Familie am Starnberger See, in der Nähe von München, verbringe, geht mir auf, was Mundy damals gehört haben muß. Throw me a why not hieß `Fröhliche Weihnacht' und bedeutet Merry Christmas; why not go shrink hieß `Weihnachtsgeschenk' und ist das deutsche Wort für Christmas present. Es wäre nicht schwer zu erraten gewesen. Ich wüßte gern, was sich der Deutsche damals bei Mundys Worten dachte.

 


aus: Die Nacht in den Ardennen (A midnight clear) von William Wharton zitiert nach: 10. Dezember

 
 
 
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