Thomas Mann
Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe
(September 1945)
Fern sei mir Selbstgerechtigkeit! Wir draußen hatten gut tugendhaft sein und
Hitlern die Meinung sagen. Ich hebe keinen Stein auf, gegen niemanden. Ich bin nur scheu
und fremdle", wie man von kleinen Kindern sagt. Ja, Deutschland ist mir in all
diesen Jahren doch recht fremd geworden. Es ist, das müssen Sie zugeben, ein
beängstigendes Land. Ich gestehe, daß ich mich vor den deutschen Trümmern fürchte -
den steinernen und den menschlichen. .... Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen
sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten,
weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande
haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden. .... Als eine Art von Trophäe
bekam ich kürzlich von amerikanischer Seite ein altes Heft einer deutschen Zeitschrift
zugeschickt: Volk im Werden", März 1937 (Hanseatische Verlagsanstalt Hamburg),
herausgegeben von einem hochgestellten Nazi-Professor und Dr. h. c. Er hieß nicht gerade
Krieg, sondern Krieck, mit ck. Es war eine bange Lektüre. Unter Leuten, sagte ich mir,
die zwölf Jahre lang mit diesen Drogen gefüttert worden sind, kann nicht gut leben sein.
Du hättest, sagte ich mir, zweifellos viele gute und treue Freunde dort, alte und junge;
aber auch viele lauernde Feinde - geschlagene Feinde wohl, aber das sind die schlimmsten
und giftigsten. - -
Vor einigen Wochen habe ich in der Library of Congress in Washington
einen Vortrag gehalten über das Thema: Germany and the Germans". ... Ich
erzählte in Kürze die Geschichte der deutschen Innerlichkeit". Die Theorie
von den beiden Deutschland, einem guten und einem bösen, lehnte ich ab. Das böse
Deutschland, erklärte ich, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in
Schuld und Untergang. Ich stände hier nicht, um mich, nach schlechter Gepflogenheit, der
Welt als das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid zu empfehlen.
Nichts von dem, was ich meinen Zuhörern über Deutschland zu sagen versucht hätte, sei
aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen gekommen; ich hätte es alles auch in mir; ich
hätte es alles am eigenen Leibe erfahren. Man höre doch auf, vom Ende der deutschen
Geschichte zu reden! Deutschland ist nicht
identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt.
.... Weltökonomie, die Bedeutungsminderung politischer Grenzen, eine gewisse
Entpolitisierung des Staatenlebens überhaupt, das Erwachen der Menschheit zum Bewußtsein
ihrer praktischen Einheit, ihr erstes Ins-Auge-Fassen des Weltstaates -wie sollte all
dieser über die bürgerliche Demokratie weit hinausgehende soziale Humanismus, um
den das große Ringen geht, dem deutschen Wesen fremd und zuwider sein?
(Thomas Mann, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, September
1945 Offener Brief an Walter Molo. In: Reden und Aufsätze II. Frankfurt 1965, S.
953-962). |