Material 7
Das Regierungssystem des Reichs
Nach Artikel I war das Deutsche Reich nunmehr eine »Republik«.
Damit hat der Verfassunggeber aus den Ereignissen des Novembers 1918 die
Konsequenz gezogen und einer jahrhundertelangen monarchischen Tradition
die Absage erteilt. Die Staatsgewalt ging, wie es in dem Artikel
ebenfalls heißt, »vom Volke« aus. Dementsprechend waren in der
Verfassung auch Volksentscheide aus unterschiedlichem Anlass und in
verschiedener Form vorgesehen. Die Einführung des Volksentscheides -
auch des Volksbegehrens - zum ersten Mal in einem Großstaat trug der
Verfassung den Ruf ein, die »demokratischste« der Welt zu sein. [...]
Sieht man von diesen Bestimmungen ab, die vornehmlich den
Konservativen zur Mobilisierung der Massen dienten, so weist die
Weimarer Verfassung die Züge eines strikt repräsentativen
Regierungssystems auf, in dem das Volk vor allem als Wählerschaft in
Erscheinung tritt. Laut Artikel 22 hatte das Volk in »allgemeinen und
gleichen« Wahlen den Reichstag zu wählen. Das entsprach der
Reichstradition. Anstelle des bisher geltenden Mehrheitswahlrechts
hatten aber schon die Volksbeauftragten im November 1918 die Verhältniswahl
gesetzt, die allgemein als das »gerechtere«, da die Stimmverteilung
unter den Wählern im Parlament genauer widerspiegelnde Wahlrecht galt.
Wahlberechtigt waren alle Bürger über 20 Jahre (also noch vor
Erreichung der Mündigkeit) inklusive - und das war ebenfalls revolutionär
- der Frauen.
Der Reichstag wurde auf vier Jahre gewählt. Die Abgeordneten besaßen
ein freies Mandat und genossen Immunität. [...]
Auch die Funktionen des Reichstags entsprachen den üblichen
parlamentarischen. Nach wie vor stand die Gesetzgebung im Mittelpunkt
(Art. 68 Abs. 2). Im Gegensatz zum Kaiserreich besaß das föderative
Organ des Reichs, der Reichsrat, der an die Stelle des alten Bundesrats
getreten war, gegenüber den Gesetzgebungsbeschlüssen der
Volksvertretung nur noch ein suspensives Veto (Art. 74). Beachtlich war
außerdem der Versuch, die parlamentarische Kontrolle zu stärken:
Anders als sein Vorgänger in der alten Reichsverfassung hatte nunmehr
der Reichstag über Krieg und Frieden zu beschließen (Art. 85 Abs. 1),
und er konnte Untersuchungsausschüsse einsetzen (Artikel 34). [...]
Nach Artikel 54 war die Reichsregierung vom Vertrauen des Reichstags
abhängig - eine Neuerung, die schon die Reform der alten
Reichsverfassung noch vor dem Kriegsende im Oktober 1918 eingeführt und
die die Nationalversammlung auch für die vorläufige Regierung im
Februar 1918 übernommen hatte. Welche Bedeutung man ihr zumaß, zeigt,
dass die Verfassung in Artikel 18 eine entsprechende Regelung ausdrücklich
auch für die Länder vorschrieb.
Überblickt man die den Reichstag betreffenden Bestimmungen, so erhält
man den Eindruck, dass er das zentrale, die grundsätzlichen
Entscheidungen im Reich fällende Organ sein sollte - im Gegensatz zur
alten Reichsverfassung, die die Funktion des Bundesrats betont hatte. Um
so merkwürdiger mutet es daher aus heutiger Sicht an, dass die
Verfassung dem Reichstag im folgenden dritten Abschnitt einen Reichspräsidenten
gegenüberstellte, welcher - anders als der Bundespräsident nach dem
Grundgesetz - nicht nur repräsentative Aufgaben zugeteilt erhielt,
sondern von Anfang an bewusst als »Gegengewicht« zum Parlament
konstruiert war. Auch er wurde vom Volk gewählt ( Art. 41), und zwar
auf sieben Jahre. Außer den mehr repräsentativen Aufgaben eines
Staatsoberhauptes besaß er eine starke Position dadurch, dass ihn die
Verfassung zum Herrn der Exekutive gemacht hatte: Ihm oblag die
Ernennung und Entlassung der Reichsregierung (Art. 53) ebenso wie die
der Reichsbeamten und der Offiziere (Art. 46). Er übte den militärischen
Oberbefehl über die Wehrmacht aus (Art. 47) und vertrat das Reich nach
außen (Art. 45). Schließlich war der Reichspräsident auch der Herr über
den Ausnahmezustand: Bei einer erheblichen Störung oder Gefährdung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung hatte er die zu ihrer
Wiederherstellung nötigen Maßnahmen zu treffen; so konnte er bestimmte
Grundrechte außer Kraft setzen, Notverordnungen mit Gesetzescharakter
erlassen und mit militärischer Gewalt einschreiten (vgl. Art. 48 Abs. 2
- sogenannte Diktaturgewalt). Gegenüber dem Reichstag stand dem
Reichspräsidenten das Recht zur Parlamentsauflösung zu (Art. 25 - wenn
auch nur »einmal aus dem gleichen Anlass«); Gesetze des Reichstags
konnte er sistieren und dem Volk zur Entscheidung vorlegen (Art. 73 Abs.
1).
Das war eine erstaunliche Fülle von Befugnissen, die aber wiederum
in eigenartiger Weise mit den Rechten anderer Verfassungsorgane verschränkt
waren. [...]
Man hat den Reichspräsidenten zwar oft geringer eingestuft als den
Präsidenten der USA, weil er nicht frei über seine Mitarbeiter verfügen
konnte, doch gilt es zu bedenken, dass - anders als der US-Präsident -
der Reichspräsident das Recht zur Parlamentsauflösung und die
Diktaturgewalt des Artikels 48 besaß - zwei wichtige Befugnisse, die
dem amerikanischen Präsidenten fehlen. Mit dem Recht, die Regierung zu
ernennen und zu entlassen (Art. 53), mit der Diktaturgewalt (Art. 48)
und der Befugnis zur Parlamentsauflösung (Art. 25), mit der er dem
Misstrauensvotum des Reichstags gegen eine Regierung zuvorkommen und das
parlamentarische Verlangen nach einer Aufhebung seiner Diktaturmaßnahmen
(vgl. Art. 48 Abs. 3) parieren konnte, verfügte er über eine
Kombination von Befugnissen, die sich zu einer Präsidialregierung
eigener Art ausbauen ließ, wie die Zukunft lehren sollte.
[...] - am Ende standen sich in der Verfassung Reichspräsident und
Reichstag gegenüber, beide vom Volk gewählt und damit von gleicher
demokratischer Dignität(1). Zwischen ihnen stand die Reichsregierung
als »Bindeglied«, wie Preuß sagte, abhängig von beiden Seiten, ein
kollegiales Organ mit einem Reichskanzler an der Spitze, der insofern
die Bismarcksche Tradition fortsetzte, als er die »Richtlinien der
Politik« bestimmen sollte, in deren Rahmen die Reichsminister ihre
Ressorts jetzt aber unter eigener Verantwortung verwalteten (Art. 56).
Das Ganze war ein duales System, in dem bewusst Präsident und
Parlament, aber auch Präsident und Kanzler in eigenartiger Weise
aufeinander bezogen und zugleich gegenübergesetzt waren, vergleichbar
am ehesten der Konstruktion des Regierungssystems in der V. Französischen
Republik.
(1) Amtswürde
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