Die neue politische Kraft - die Arbeiterbewegung


Arbeits- und Lebensbedingungen
Organisationsgeschichte
Arbeiter und Staat

Bergleute im Streckenvortrieb - Bau der Abstützung
Arbeits- und Lebensbedingungen
In dem Zeitraum zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung entwickelte sich die Industrie vor allem in Preußen dank der Liberalisierung der Wirtschaftspolitik glänzend. Aufgrund eines neuen Aktienrechts konnten Großbanken als Aktiengesellschaften gegründet werden, und im Bergbau wurde von einer staatlichen Lenkung zur völlig freien Kapitalisierung übergegangen. Trotz aller Ausbeutung entwickelten sich unter diesen Umständen die Löhne im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten positiv. Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen muss berücksichtigt werden, dass alle Arbeiten ungleich schwerer, kräftezehrender und anstrengender waren als heute, die Temperatur- und Feuchtigkeitsgrade an den Arbeitsplätzen sehr viel schädlicher und größeren Schwankungen ausgesetzt, gab es doch weder arbeitserleichternde Geräte und Technik noch etwa beheizte oder gar klimatisierte Fabrikhallen. Fabrikarbeit war zwar oft stumpfsinnige, nichtsdestoweniger aber schwerste körperliche Arbeit. Eine dramatische Wende trat mit der Gründerkrise ab 1873 ein, da die allgemeine Absatzkrise, die weltweit seit etwa 1870 zu beobachten war, in Deutschland noch dadurch verschärft wurde, dass in den Jahren zuvor mit Hilfe der französischen Kriegsentschädigungen ein überschäumendes Wirtschaftswachstum auf unsolider Basis stattgefunden hatte. Jetzt trafen dafür umso mehr Pleiten und Stillegungen die deutsche Wirtschaft und umso härter.

Der Schlepper auf dem Weg vom Abbauort zur "Strecke"
Natürlich versuchten die Unternehmer, die Kosten zu senken. Das taten sie durch drastische Lohnsenkungen einerseits und ständig weitergehende Verlängerung der Arbeitszeit andererseits. Dies führte vor allem unter den Ruhrbergarbeitern zu extremen Gesundheitsschäden und hohen Invalidenzahlen durch Krankheit oder Unfall. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle je 1000 Bergarbeiter war im Ruhrbergbau die höchste der Welt, was einen Eindruck vom Grad der Ausbeutung vermittelt. Wenn auch Kinderarbeit generell seit den 60er Jahren deutlich zurückgegangen war, wurden unter Tage gern noch Kinder wegen ihrer geringeren Größe eingesetzt (etwa als Pferdejungen oder Schlepper). Auch die Frauenarbeit in Bergbau und Industrie nahm wieder deutlich zu.
Das Sozialistengesetz verbot den Arbeitern, sich zu organisieren, so dass sie den Unternehmern isoliert und vereinzelt ausgeliefert und auf Gedeih und Verderb von ihnen abhängig waren. Dieses auf den jeweils individuellen Arbeitsvertrag gegründete Verhältnis wollten die Unternehmer auch um jeden Preis aufrecht erhalten und lehnten deshalb sowohl jede staatliche Sozialpolitik als auch jede Verhandlung mit Belegschaftsvertretern kategorisch ab. Lohnerhöhungen, Krankengeld, Altersvorsorge oder Mietzuschuss waren ihrer Meinung nach Belohnungen, die sich die Arbeiter durch Wohlverhalten verdienen mussten und deren Gewährung völlig dem Ermessen (= der Willkür) der Unternehmer überlassen sein sollte. Auf der anderen Seite beanspruchten sie bei spontanen Arbeitsniederlegungen selbstverständlich die Hilfe des Staates in Gestalt der Polizei gegen ihre ungezogenen Arbeiter.
Frauenarbeit in einer belgischen Zeche, 1900/1905
Diese Missachtung ihrer Würde durch die Zechenbarone kränkte die Arbeiter am meisten, sie empfanden dies noch schlimmer als die niedrigen Löhne und die unerträglichen Arbeitsbedingungen. Die Situation spitzte sich zu und führte zu den ersten großen Streiks, als sich die wirtschaftliche Lage zur Mitte der 80er Jahre wieder entspannte, ohne dass die Arbeiter in den Genuss höherer Löhne oder kürzerer Arbeitszeiten gekommen wären. Zum Teil wurden die Löhne nicht einmal direkt ausgezahlt, sondern mit den Einkäufen in den überteuerten Läden der Fabrikbesitzer verrechnet (= Truck-System), so dass die Arbeiter sich immer mehr beim Unternehmer verschuldeten und durch ihre Schulden an die Fabrik gebunden waren.
In vielen Streiks, aus denen die Bergarbeiterstreiks von 1889, 1905 und 1912 und der Textilarbeiterstreik von Crimmitschau 1903 hervorstechen, versuchten die Arbeiter, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen und Löhne zu erreichen, die es ihnen und ihren Familien ermöglichen sollten, ihre Gesundheit zu erhalten und gleichzeitig ein bescheidenes Auskommen zu haben. Dabei wurden sie von den staatlichen Behörden, vor allem Polizei und Militär, allezeit kritisch beobachtet, die sich nur zu bereitwillig vor den Karren der Unternehmer spannen ließen und nicht selten Streiks blutig niederschlugen. Das wiederum bestätigte die Arbeiter in ihrer Haltung gegenüber dem Staat. Nach dem Streik von 1889 gründeten sie erste Gewerkschaften zur kollektiven Vertretung ihrer Interessen, die wohl vom Staat als Ansprechpartner, nicht jedoch von den Unternehmern als Verhandlungspartner anerkannt wurden (bis 1918). Auch der Normalarbeitstag von 8 Stunden konnte erst 1918 durchgesetzt werden.
Hinzu kam, dass viele Arbeiter der Industriegebiete aus den ländlichen preußischen Ostprovinzen kamen, eigentlich polnischer Nationalität, wenn auch deutsche Staatsbürger waren und kaum über Deutschkenntnisse verfügten. Von der Polizei wurden sie als Ausländer und Arbeiter doppelt argwöhnisch betrachtet, von den Unternehmern als Bauern durch scharfe Disziplinarmaßnahmen, wie etwa in vielen Fabrikordnungen ersichtlich, zur kontinuierlichen Arbeit an den Maschinen gezwungen.

Sie wohnten zunächst als Junggesellen in Wohnheimen oder als Schlafgänger bei einer Familie, bis sie genug Geld zum Heiraten hatten, dann in eilig aus dem Boden gestampften Zechenkolonien unter sich und in äußerst beengten Verhältnmissen, oft zu 6 - 7 Personen in
1 1/2 bis 2 Zimmer-Wohnungen und mussten oft zusätzlich Kost- oder Schlafgänger zur Untermiete annehmen, die die aufgrund der Arbeit in Wechselschicht freien Betten benutzten. Unter diesen ungesunden und unhygienischen Verhältnissen war die weite Verbreitung von Ansteckungskrankheiten kein Wunder.
   
Die aktuelle Frage: Was bedeutet eigentlich "Aktienbesitz in Arbeitnehmerhand"? Das heißt, dass die Beschäftigten in dem Irrglauben, sie würden dadurch selbst zu Unternehmern, diesen freiwillig einen Teil ihrer Löhne und Gehälter wieder zur Verfügung stellen, damit die damit entweder ihre Arbeitsplätze wegrationalisieren oder den Betrieb in den Sand setzen können. Dadurch verantworten sie ihre Kündigung zu einem gewissen Teil selber, können dafür dann aber auch im günstigsten Falle die entsprechenden Kursgewinne und Dividendenerhöhungen einstecken.
 
Organisationsgeschichte
Nachdem sich die deutsche Arbeiterbewegung in der Zeit der Metternichschen Reaktion überwiegend im ausländischen Exil (in Belgien, Frankreich, der Schweiz und Großbritannien) hatte äußern müssen, bildete die Revolution von 1848 den ersten Höhepunkt ihres Wirkens in Deutschland. Gerade die Menschen aus den unteren Bevölkerungsschichten, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter, waren neben den Studenten und Vertretern des Bildungsbürgertums oft die entschiedendsten Verfechter freiheitlicher, aber auch - in Verbindung damit - sozialer Forderungen. Mit dem Kommunistischen Manifest und den Forderungen der Kommunisten in Deutschland gab es auch programmatische Vorstellungen, um die sich Aktivitäten entfalten konnten. Nach der Niederlage der Revolution traf die Vergeltung der Sieger zwar alle Liberalen und Demokraten, die Arbeiter aber in ganz besonderem Maße (Kölner Kommunistenprozess 1852). Zwar verboten der Deutsche Bund in seinem Bundesreaktionsbeschluss 1850 und das preußische Vereinsgesetz von 1854 alle politischen Vereine, den Arbeitern jedoch wurde die Bildung jeglicher Organisation, gleich welcher Art, untersagt.
Erst in der Zeit der "Neuen Ära" in Preußen kam es 1861 während des Heeres- und Verfassungskonfliktes zur Neugründung einer politischen Arbeiterorganisation auf breiterer Basis, des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins (ADAV) Ferdinand Lassalles. Kurz vor der Reichsgründung wurde 1869 in Eisenach von Wilhelm Liebknecht und August Bebel die Social-demokratische Arbeiterpartei (SDAP) gegründet. Beide trennten erhebliche Differenzen in entscheidenden Fragen, etwa der des Kampfes um Lohnerhöhungen, der Rolle und Bedeutung des Staates für die Arbeiter und der des politischen Zieles der Arbeiterbewegung. Die Eisenacher sahen sich als deutschen Zweig der internationalen Arbeiterbewegung und tendierten zu den Vorstellungen von Karl Marx und Friedrich Engels, während die Lassalleaner eher im nationalen Maßstab dachten. Vertreter beider Richtungen waren Mitglieder des Reichstages, zunächst des Norddeutschen Bundes, dann des Deutschen Reiches. Vor allem Bebel wurde durch seine kompromisslosen Reden im Reichstag bekannt und populär. Er übernahm die Funktion eines prinzipiellen Kritikers des Regierungshandelns vom Standpunkt der Freiheit und Demokratie her, wie es in den Zeiten zuvor die linken Altliberalen des Fortschritts (Johann Jacobi) getan hatten.
Nach Einsetzen der Wirtschaftskrise mit dem Gründerkrach schlossen sich beide Richtungen 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) zusammen. Das Gothaer Parteiprogramm trägt deutliche Spuren dieses historischen Kompromisses. Diese Vereinigung war Bismarck ein Dorn im Auge, vor allem wegen des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung, die eine Integration der Arbeiter in das Kaiserreich in seinen Augen beeinträchtigte oder sogar verhinderte. Er nutzte die erste Gelegenheit, die neue einheitliche Organisation der Arbeiter zu verbieten und mit dem Sozialistengesetz ihre Funktionäre und deren Familien zu verfolgen sowie ihre politische Tätigkeit soweit möglich zu unterdrücken. Durch seine gleichzeitige Sozialgesetzgebung (Arbeitslosen-, Kranken- und Invalidenversicherung) versuchte er die Arbeiter an den Staat zu binden und von ihrer Partei zu trennen. Trotz aller Verfolgung ging die Partei aus dieser Zeit unter dem Sozialistengesetz jedoch gestärkt hervor. 1890 - nach der Aufhebung des Gesetzes und der Entlassung Bismarcks - gründete sie sich als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) neu und gab sich ein Jahr später in Erfurt ein revolutionäres Parteiprogramm, das die aus der Verfolgung der vergangenen Jahre genährte Ablehnung des Staates und die Forderung nach seiner revolutionären Beseitigung deutlichst zum Ausdruck brachte.
Seit Mitte der 90er Jahre gab es innerhalb der SPD eine Auseinandersetzung um ihr Selbstverständnis: war die Partei eine revolutionäre Kampfpartei oder eine demokratische Reformpartei? Vor allem Eduard Bernstein forderte die Abkehr von revolutionären Vorstellungen und eine entsprechende Überarbeitung (=Revision) des Parteiprogramms. Zwar wurde der Revisionismus immer wieder in Parteitagsbeschlüssen abgelehnt, seine Vertreter aber in ihren einflussreichen Parteiämtern belassen, so dass die Partei in den Jahren vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges in sich gespalten war in einen revisionistischen und einen revolutionären Flügel sowie eine Gruppe, die zwischen beiden zu vermitteln suchte (Zentristen). Diese innere Zerrissenheit schwächte die SPD in einer Zeit, in der es auf ihre Geschlossenheit besonders angekommen wäre.
Arbeiter und Staat im Kaiserreich
Gab es anfänglich noch bei den Arbeitern die Hoffnung auf staatliche Hilfen, wurden diese durch das Verhalten des Staates ihnen gegenüber schnell und gründlich zerstört. Die Arbeiter erlebten im Kaiserreich den Staat als eine Organisation, die sie selbst verfolgte und unterdrückte und den Unternehmern half, ihre berechtigten Forderungen zu missachten.
Das seit 1879 für 12 Jahre geltende Sozialistengesetz verbot jede organisierende Tätigkeit unter den Artbeitern und stellte Zuwiderhandlungen unter Strafe, besonders scharf aber die Übernahme von Funktionen innerhalb der Arbeiterbewegung. Jede Zusammenkunft von Arbeitern musste vorher angemeldet und genehmigt werden und stand unter direkter polizeilicher Überwachung, was durch den anwesenden uniformierten Schutzmann für alle sinnfällig wurde. Wenn der Polizist den Raum verließ, war die Versammlung aufgelöst, ein weiteres Verbleiben strafbar. Sozialdemokraten konnten darüber hinaus der Stadt, des Bezirkes oder des Landes verwiesen werden, was sie von ihrer Familie trennte und diese ihres Ernährers beraubte. Damit verlor sie über kurz oder lang auch ihre Wohnung, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Selbstverständlich waren alle sozialdemokratischen Druckerzeugnisse verboten, ihre Verteilung und ihr Besitz strafbar. Lediglich zu den Reichstagswahlen durften Wahlvereine für bestimmte Kandidaten gebildet werden. Die Äußerungen der Abgeordneten im Reichstag waren strafrechtlich nicht zu verfolgen und durften auch unzensiert im Druck verbreitet werden. Es ist verständlich, dass viele Arbeiter unter diesen Umständen einen Hass auf den Staat entwickelten und ihn möglichst schnell durch eine Revolution zu beseitigen trachteten.

Puttkamer: Der Reichstag bewilligt leider nur diese
kurze Verlängerung.
Sozialdemokrat: Bei einigem guten Willen aber immerhin
lange genug, um meine gänzliche Befreiung vorzubereiten.
Auch nach dem Ende des Sozialistengesetzes gab der Staat seine negative Einstellung gegenüber den Arbeitern und ihre Verfolgung nicht auf. Immmer wieder versuchte er, durch gesetzliche Maßnahmen das Erstarken der Sozialdemokratie zu behindern und ihren Einfluß einzudämmen.. Die "Umsturzvorlage" von 1894 stellte öffentliche Äußerungen gegen die Monarchie, die Religion oder das Eigentum sowie Aufreizung zum Klassenhass unter Strafe. Die "Zuchthausvorlage" von 1899 wollte die Verabredung zum Streik als Erpressung unter Strafe stellen, ganz besonders scharf aber die Tätigkeit als Streikposten. Beide Gesetze wurden jedoch dank einer breiten Protestbewegung nicht in Kraft gesetzt. Alle diese Verfolgungsmaßnahen konnten jedoch noicht verhindern, dass die SPD sowohl an Mitgliedern als auch an Wählerstimmen und sogar an Reichstagsmandaten ständig zunahm.
Alle diese Maßnahmen zeigen auf Seiten des Staates ein tiefes Misstrauen gegenüber den Arbeitern, die wegen ihrer großen Masse als bedrohlich und als ein Hort ständiger Unruhe gesehen wurden. Dieses Misstrauen wurde dadurch genährt, dass sich die Sozialisten als Untergliederung der Internationalen Arbeiterbewegung verstanden, die mit ihren englischen, französischen oder belgischen Klassengenossen größere Gemeinsamkeiten sahen als mit ihren deutschen Ausbeutern. Das trug ihnen vom Kaiser den Schimpfnamen "Vaterlandslose Gesellen" ein. Die Arbeiter wurden also nicht nur gefürchtet, sondern auch verachtet, auch und gerade wegen ihrer Rohheit und ihrer mangelnden Bildung.

Haussuchung während des Sozialistengesetzes
   

Beschlagnahme einer illegalen Druckerei
Andererseits hatte bereits Bismarck versucht, nicht nur die Organisation der SPD durch das Sozialistengesetz zu zerschlagen, sondern auch durch sozialpolitische Maßnahmen die Arbeiter von ihrer Partei zu trennen und für den Staat zu gewinnen, sie zu integrieren. Auch dabei stand allerdings das Motiv der Schädigung der SPD im Vordergrund, nicht die Hilfe für die Arbeiter. Diese bismarcksche Sozialpolitik, die sich in einer ausgedehnten Versicherungsgesetzgebung niederschlug (Krankenversicherung 1883, Unfallversicherung 1884, Alters- und Invalidenversicherung 1889), wurde von den Unternehmern heftig abgelehnt, von den Arbeitern letztlich auch nicht akzeptiert, weil sie selbst keinen Einfluss auf die Versicherungen hatten und dem Staat misstrauten und weil die Versicherungen nicht ausreichten, tatsächliche Hilfen gegen die Risiken des Arbeiterlebens zu garantieren. So hat die bismarcksche Sozialpolitik weder aus Sicht der Regierung noch aus der der Arbeiter ihren Zweck erreicht.

Obdachlos