Heeres- und Verfassungskonflikt

 
 

Wenn sich um 1860 eine gewisse Bindung eines großen Teils der national und liberal Gesinnten an Preußen ergeben hatte, so trat bald ein Wandel ein, der hauptsächlich auf den preußischen »Heereskonflikt« zurückging. Eine Reform der bewaffneten Macht betrachtete Wilhelm I., der 1861 (nach dem Tode Friedrich Wilhelms IV.) in Königsberg zum König gekrönt worden war, als persönliche und höchst wichtige Aufgabe, um so mehr, als die 1859 durchgeführte Mobilmachung schwerwiegende Mängel der Heeresverfassung hatte offenbar werden lassen.

Das von Wilhelm I. so nachdrücklich geforderte Reformgesetz entwarf Kriegsminister Albrecht Graf von Roon, der es 1860 dem Abgeordnetenhaus vorlegte. Er war neben dem Generaladjutanten Gustav von Alvensleben und dem Chef des Militärkabinetts, Edwin von Manteuffel, der wichtigste Mitarbeiter des Regenten auf militärischem Gebiet. Zunächst war geplant, die bereits seit 1856 wieder gültige dreijährige Dienstzeit erneut gesetzlich zu fixieren. Da die Einwohnerzahl des Landes im Zeitraum von 1817 bis 1857 von 11 auf 18 Millionen angestiegen war, sollte das Feldheer von 40.000 auf 63.000 Mann vermehrt werden. Gleichzeitig war ein zahlenmäßiger Abbau der Landwehr beabsichtigt, vor allem dadurch, daß ihre drei jüngsten Jahrgänge der Reserve der Linientruppen zugeschlagen wurden.

Die Sonderstellung der Landwehr war damit beseitigt, was rein militärtechnisch gewiß vertretbar erschien, aber auch eine politische Konsequenz hatte, denn dies bedeutete einen Bruch mit dem Wehrgesetz von 1814, das der damalige Kriegsminister Boyen aus dem Geist der »Stein-Hardenbergschen Reformen« und der »Befreiungskriege« geschaffen hatte. Im Offizierskorps der Linienregimenter dominierte nämlich eindeutig der Adel, während die Landwehr eine große Zahl bürgerlicher Offiziere aufwies. Die Durchführung der Reform hätte also die soziale Geltung des Bürgertums im Heere nachhaltig getroffen. Der Krone und ihren wichtigsten militärischen Ratgebern kam es nicht zuletzt darauf an, aus der Armee eine wirksame Waffe gegen den politischen Umsturz zu schmieden, indem man sie parlamentarisch- konstitutionellen Einflüssen und Kontrollen entzog und sie soweit wie möglich an die Person des Herrschers band.

 Solche politisch-sozialen Erwägungen erklären die Erbitterung, mit der die liberalen Kräfte in Parlament und Presse gegen die Pläne der Regierung Sturm liefen, wobei sich der Streit mehr und mehr auf die dreijährige Dienstzeit zuspitzte. Die Entscheidung hierüber wurde für beide Seiten allmählich zur Prestigefrage.

Zahlreiche altliberale Abgeordnete waren bereit, eine engere Verbindung von Linientruppen und Landwehr zu akzeptieren, um auf diese Weise Armee und Nation in engere Berührung zu bringen, sollte doch der preußischen Militärmacht bei der Förderung der deutschen Einheit gegebenenfalls eine bedeutende Rolle zufallen; sie verlangten aber den Übergang zur zweijährigen Dienstzeit. Eine Verständigung schien unmöglich, weshalb die Regierung ihren Reformentwurf zurückzog und beim Landtag lediglich die Bewilligung der Kosten für die Neuorganisation beantragte, um die Kampfbereitschaft aufrechtzuerhalten. Dieses »Provisorium«, das bis 1. 7. 1861 befristet war, wurde vom Abgeordnetenhaus fast einstimmig gebilligt und im Frühjahr 1861 verlängert.

Der König und seine militärischen Ratgeber beriefen sich mehr und mehr auf den Vorrang des Monarchen in Fragen der militärischen Organisation, auf die dem Abgeordnetenhaus kein Einfluß zustehe. Dem Parlament sollte also lediglich die Genehmigung der notwendigen Finanzmittel zufallen, während die liberale Kammermehrheit darauf beharrte, gerade über die Länge der Dienstzeit mitzuentscheiden, da sie tief in das Leben der Bürger eingreife und deshalb einer gesetzlichen Regelung unter Mitwirkung des Parlaments bedürfe. So wurde aus der Heeresreform eine grundsätzliche Verfassungsfrage, in der beide Seiten glaubten, keinerlei Konzessionen machen zu können. Während die »Fortschrittspartei« ein parlamentarisches Regierungssystem anstrebte, lehnte es der König nachdrücklich ab, sich zum »Sklaven des Parlaments« machen zu lassen. 
Die unverändert vorgelegte Heeresreform wies das Abgeordnetenhaus zurück. Ein deutliches Signal für die verschärfte Situation war der Rücktritt der liberalen Kabinettsmitglieder im März 1862. Auch die Auflösung der Kammer und die daraufhin durchgeführten Neuwahlen brachten keine Lösung im Sinne des Monarchen, da die Mandate der »Fortschrittspartei« — trotz massiver Wahlbeeinflussung durch die Regierung - weiter zunahmen und die Konservativen nur noch über 11 Abgeordnete (von 352) verfügten.

So wurde der Staatshaushalt für 1863 vom Parlament nicht verabschiedet, weshalb man von konservativer Seite die Ansicht äußerte, daß die Regierung in diesem Falle die Geschäfte auf der Basis des letzten genehmigten Etats weiterzuführen habe. Es handelte sich um die sogenannte »Lückentheorie«, die auf die Staatslehre des hochkonservatiyen Juristen und Politikers J. Stahl zurückging. Sie besagt, die Verfassung weise eine Lücke in dem Falle auf, daß sich Krone, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus über das Budget nicht einigen könnten; dann liege die Entscheidungskompetenz beim Monarchen, da er die Konstitution erlassen habe. Wilhelm I. war entschlossen, abzudanken, falls er keinen Minister fand, der bereit war, sich die - juristisch gesehen recht kühne - »Lückentheorie« zu eigen zu machen. In dieser Lage war der Herrscher bereit den besonders von Roon geförderten Gesandten in Paris, Otto von Bismarck, zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Königin Augusta warnte vor seiner Ernennung. Wilhelm I. hatte sich nur schweren Herzens zu diesem Schritt entschlossen. Der neue Ministerpräsident trat sein Amt in der Absicht an, den Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus zu entschärfen; er versuchte, die Liberalen mit einem Appell an ihr Nationalgefühl zu gewinnen, und deutete Kompromißbereitschaft in der Frage der zweijährigen Dienstzeit an, doch konnte Bismarck die Kluft zwischen Krone und Parlament nicht überbrücken. Das Jahr 1863 war von harten Kampfmaßnahmen der Regierung gekennzeichnet: Das Parlament wurde erneut aufgelöst, und die Exekutive erhielt sehr weitreichende Rechte zur Pressezensur. Dieser rigorose Kurs kostete Preußen zweifellos viele Sympathien innerhalb der deutschen Nationalbewegung.