DER SPIEGEL 6/1999
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Das Jahrhundert der Kriege
 
Vietnam und der Kalte Krieg

Vier Jahrzehnte lang rangen die USA und die Sowjetunion mit allen Mitteln um die Macht über die Welt. In Indochina kostete der "Feldzug für die Freiheit" über drei Millionen Menschen das Leben, Amerika verlor ­ aber der Kommunismus auch.

 


Showdown im Dschungel

Von Cordt Schnibben

 
Cordt Schnibben

46, bekam für seine Reportage über das Massaker von My Lai den Kisch-Preis, ist Autor des Buches "Saigon export" und hat für den SPIEGEL häufig aus Indochina berichtet.

Da sitzt der junge Manager, sieben Wochen nachdem er Boß der Ford-Werke geworden ist, in seinem Büro in Dearborn bei Detroit, die Tür geht auf, und ein Gesandter John F. Kennedys betritt den Raum. "Der designierte Präsident hat mich angewiesen, Ihnen den Posten des Finanzministers anzubieten."

Er sei ja wohl nicht bei Sinnen, antwortete der umworbene Robert McNamara, "ich bin dafür nicht qualifiziert".

Wenn er dieser Ansicht sei, konterte der Gesandte, "soll ich Ihnen sagen, daß Jack Kennedy Sie als Verteidigungsminister wünscht".

Das sei absurd, stöhnte McNamara, tauschte dann doch sein 400 000-Dollar-Gehalt gegen einen Jahreslohn von 25 ooo Dollar ­ und sah sich unversehens konfrontiert mit Entscheidungen über einen Krieg irgendwo in Südostasien. Ohne "Vietnam" und die Vietnamesen, ohne ihre Kultur und ihre Geschichte zu kennen.

"Noch schlimmer war", merkte der frisch vereidigte Verteidigungsminister, "daß unsere Regierung keine Fachleute zur Hand hatte, die uns beraten und unsere Unkenntnis hätten ausgleichen können."


Da hatte sich rund um den US-Präsidenten eine Truppe junger, mutiger, intelligenter Minister versammelt, die nur das Beste für die Vereinigten Staaten und die Welt wollte, eine Gang pragmatischer Visionäre, die versprochen hatte, "jeden Preis zu zahlen, jede Last auf uns zu nehmen, uns jeder schweren Lage zu stellen, jeden Freund zu unterstützen und uns jedem Feind zu widersetzen, um das Überleben und den Erfolg der Freiheit sicherzustellen" ­ da saß also dieses Kabinett von John F. Kennedy und sollte kurz nach der Amtsübernahme 1961 entscheiden, wie es weitergehen sollte im Kalten Krieg: mit Konfrontation oder mit Rückzug?

McNamara gehörte zur Generation jener damals jungen Amerikaner, die im Zweiten Weltkrieg nach Europa gezogen waren, um den fernen Kontinent von den Nazis zu befreien, und die nun, 15 Jahre nach Kriegsende, wütend mitansahen, wie die Sowjets halb Europa im Griff hatten und sich in der Welt breitmachten.

"Wie die meisten Amerikaner hielt auch ich den Kommunismus für einen monolithischen Block", erinnert sich McNamara in seinem Buch "Vietnam ­ das Trauma einer Weltmacht". Durch eine Eindämmungspolitik müsse sich der Westen unter Führung der USA, so die Strategie der US-Regierungen seit Truman, vor der kommunistischen Expansion schützen: Die Sowjetunion hatte die Westgrenze ihrer Einflußsphäre bis an die Elbe geschoben; Mao Tse-tung und seine Anhänger beherrschten China seit 1949; nordkoreanische Truppen waren 1950 über den Süden Koreas hergefallen und konnten erst durch amerikanische Streitkräfte und von der Uno gesandte Truppen zurückgeschlagen werden; beim Arbeiteraufstand in der DDR 1953 und in Ungarn 1956 hatten russische Panzer den Volkswillen überrollt; 1957 piepste plötzlich der russische "Sputnik" aus dem All; 1959 verwandelten Fidel Castro und Ché Guevara die Vergnügungsinsel vor den Küsten der USA in einen kommunistischen Brückenkopf; 1961 ließ die ostdeutsche SED die Grenzen zum Kapitalismus betonieren.

 

Und dann waren da die Dschungelkämpfer in Pyjamas, die in Südvietnam den treuen Bündnispartner der Amerikaner attackierten. "Wir fühlten uns eingekreist und gefährdet", bilanziert McNamara, "diese Angst lag auch unserer Einmischung in den Vietnamkonflikt zugrunde."

Das schmale Land, seit 1954 geteilt, wurde zum Schlachtfeld eines Systemkampfes, der von der einen Seite, sinnentstellend, "Kalter Krieg" genannt wurde und von der anderen Seite, sinnentstellend, zur "friedlichen Koexistenz" verklärt wurde.

In den schließlich über 40 Jahren, die dieser angeblich friedliche Krieg dauern sollte, kam es nie zum großen Krieg zwischen den beiden Supermächten, aber in diesen vier Jahrzehnten waren viele blutige und unblutige Konflikte auf dieser Welt Unterkriege des Systemkriegs.

Bis Ende der fünfziger Jahre hatte die US-Regierung ihre Einflußsphäre ausgebaut, hatte in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und danach ein amerikanisches Weltreich aufgebaut, das auf allen Kontinenten Militärstützpunkte und mit rund 50 Ländern Bündnisverträge besaß. Der Gegenspieler, Sowjetführer Nikita Chruschtschow, hatte den Sieg des Kommunismus durch "die nationalen Befreiungskriege in der Dritten Welt" prophezeit und dem Westen angekündigt: "Wir werden euch beerdigen."

Spätestens nach der Kubakrise 1962 war klar, daß die amerikanischen und russischen Führer einander keine unmittelbaren Kriegsabsichten zutrauten; dennoch beäugten sie einander voller Mißtrauen, schürten Stellvertreterkriege und rangen darum, die Zweiteilung der Welt in eine amerikanische und eine sowjetische Machtsphäre zu zementieren ­ mit immer weniger Erfolg. Die Sowjets mußten die chinesischen Kulturrevolutionäre fürchten und später die osteuropäischen Dissidenten; die kommunistischen Parteien in Westeuropa stagnierten oder wurden moskaukritischer; und die Revolutionäre in Afrika, Asien und Lateinamerika orientierten sich mehr an den wortradikaleren Maoisten.

 
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Auch die andere Supermacht verlor an Einfluß in der Welt: Der American Way of Life bröckelte, in Südamerika wuchs die Kritik am "Kulturimperialismus", die ökonomische Abhängigkeit von der amerikanischen Führungsmacht schrumpfte mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas.

Kennedy war angetreten, die USA zur unumstrittenen moralischen und kulturellen Führungsnation zu machen, und hatte von seinem Vorgänger die "Domino-Theorie" geerbt: Wenn eines der Länder in Südostasien in die Hände der Kommunisten gerate, würden alle Staaten der Region wie umstürzende Dominosteine bald ebenfalls den Kommunisten zufallen.

Kennedy erklärte zwar, Vietnam stelle den Eckstein der freien Welt dar, man dürfe es nicht aufgeben, wie aber eine korrupte, im Volk verhaßte südvietnamesische Regierung gegen eine starke Befreiungsfront gestützt werde könne, konnte er auch nicht präzisieren.

Weder er noch sein Außenminister Dean Rusk kannte sich in diesem Teil der Welt aus, und die wichtigsten Ostasien-Experten im Außenministerium waren während der antikommunistischen Hoch-Zeit der fünfziger Jahre "den hysterischen Säuberungsaktionen unter McCarthy zum Opfer gefallen", wie McNamara bald feststellen mußte. Ob es in den folgenden Monaten und Jahren um den von der CIA gelenkten Putsch gegen Südvietnams Staatschef Diem ging oder um die Entsendung von immer mehr Militärberatern oder um die Bombardierung Nordvietnams oder schließlich um die Entsendung amerikanischer Bodentruppen ­ stets hatte Verteidigungsminister McNamara das schlechte Gefühl von "verzweifelter Tatkraft", es herrschte "eine solche Entschlossenheit, irgend etwas gegen die weitere Ausbreitung des Kommunismus zu unternehmen, daß entmutigende Berichte oft gar nicht wahrgenommen wurden".

Nach McNamaras heutiger Einschätzung wurden dabei vor allem drei Dinge übersehen: Die US-Regierung begriff nicht, daß der Kampf des Vietcong nicht so sehr ein sozialistischer, sondern "seinem Wesen nach ein nationaler war"; daß China und die Sowjetunion unterschiedliche Interessen in Vietnam verfolgten und gegeneinander auszuspielen waren; und daß es "ein schwerer Fehler" war, "die Möglichkeit einer Neutralität" des Landes, wie vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle vorgeschlagen, "nicht einmal in Erwägung zu ziehen". So wurden die USA immer tiefer in einen unübersichtlichen Dschungelkrieg hineingezogen.

Glaubt man den Militärexperten beider Seiten, dann war der Ho-Tschi-minh-Pfad die Wunderwaffe, welche die Führungsmacht des Westens im längsten Krieg ihrer Geschichte schließlich in die Knie gehen ließ. Major Vo Kim Cuong hört solches Lob gern, denn der Pfad ist ein Unternehmen seiner Familie: sein Vater, der nordvietnamesische Brigadegeneral Vo Bam, begann mit dem Ausbau dieses Wunderweges, und er war der Ingenieur, der schwierige Brükken, geschickte Tarnkonstruktionen und komplizierte Dschungelpassagen baute.

Bereits Anfang 1959, so erzählt Major Vo, habe das nordvietnamesische Politbüro in Hanoi beschlossen, eine militärische Versorgungslinie vom kommunistischen Norden in den von Amerikanern beschützten Süden aufzubauen, um den Revolutionären Waffen zukommen und Soldaten einsickern zu lassen. Diese waren zumeist ursprünglich im Süden beheimatete Vietminh, die sich 1954, nach dem Waffenstillstand mit den Franzosen und der Teilung des Landes, in den Norden abgesetzt hatten. Zu dieser Zeit hatten die Kommunisten die Hoffnung aufgeben müssen, durch politische Aktionen doch noch zu den im Genfer Abkommen von 1954 vereinbarten allgemeinen Wahlen in ganz Vietnam zu gelangen. Immer mehr Kommunisten und Oppositionelle fielen den Säuberungsaktionen des Diem-Regimes in Saigon zum Opfer.

440 Soldaten begannen, zunächst in Vinh bis zum Fluß Ben Hai in der Nähe des 17. Breitengrades, der den Norden vom Süden trennte, den Pfad anzulegen, und trieben ihn Meter um Meter voran, immer tiefer in den südlichen Teil hinein. Anfang 1961 hatten die Waffentransporte bereits einen solchen Umfang angenommen, daß es zu riskant war, sie weiterhin durch das von südvietnamesischen Truppen bewachte Gebiet südlich des 17. Breitengrades zu schleusen. General Vo Bam entschied, auf die westliche Seite des mächtigen Truong-Son-Gebirges auszuweichen, den Ho-Tschi-minh-Pfad also auf laotischem Gebiet fortzuführen.

Selbst zwei Zentner schwere Kanonenrohre wandern auf Schultern in den Süden, schwerere Teile auf Fahrrädern oder auf Elefanten. Das Heer der Träger war bis Anfang 1963 auf 10 000 angewachsen.

Bei Luftangriffen krochen die Partisanen in dreieckige Tunnel. Major Vo hatte sie mittels doppelter Bambusrohrwände so konstruiert, daß selbst in unmittelbarer Nähe explodierende Bomben wirkungslos blieben.

Anfang 1964 hatten die Amerikaner Abschnitte des Ho-Tschi-minh-Pfades entdeckt, die sofort bombardiert wurden. Vergebens. Die 1960 im Süden gebildete Nationale Befreiungsfront, besser bekannt als "Vietcong", und ihre bewaffneten Streitkräfte kontrollierten bereits weite Teile des Landes und trieben die Regierungstruppen in die Enge. Daraufhin entschloß sich die US-Regierung, Südvietnam nicht länger nur mit 23 000 Militärberatern, sondern mit eigenen Truppen zu unterstützen.

Im März 1965 landeten die ersten Marineinfanteristen am Strand von Da Nang; bis Ende des Jahres war die Zahl der GIs in Vietnam auf 185 000 angewachsen ­ für die vietnamesischen Kommunisten war das Eingreifen der Amerikaner ein Schock. Den GIs ging der Ruf der Unbesiegbarkeit voraus.

Die Sowjetunion, bis zum Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 kein großer Freund militärischer Aktionen in Vietnam, begann, ihre Waffenlieferungen nach Vietnam immens zu steigern.

Der Vietcong und seine Genossen im Norden reagierten auf das Eingreifen der Amerikaner zunächst mit dem generalstabsmäßigen Ausbau des Ho-Tschi-minh-Pfades. Große Teile der nordvietnamesischen Armee eilten an diese "Front", der Dschungelpfad wurde zu einer breiten Chaussee ausgewalzt. Es begann die, wie die Vietnamesen sagen, "motorisierte Phase"; Schultern und Fahrräder hatten ihre Schuldigkeit getan. Zunächst auf klapprigen sowjetischen Lastern, die schon 1954 in der Entscheidungsschlacht gegen die Franzosen bei Dien Bien Phu dabeigewesen waren, dann auf modernen chinesischen und russischen Transportern rollten leichtes und schweres Kriegsgerät sowie Munition in Richtung Süden.

Vo Chinh Vu fuhr in dieser Zeit regelmäßig auf einem 300 Kilometer langen Abschnitt in Laos und Kambodscha, bei Nacht und ohne Licht. "Das war ganz einfach. Die Amis machten alles hell mit ihrer Leuchtspurmunition." Was genau er transportierte, wußte er nie, es war wasserdicht verpackt. Nur aus dem jeweils anzufahrenden Zwischenlager konnte er Rückschlüsse auf die Art seiner Ladung ziehen. Im Depot wurde sein Frachtgut auf einen anderen Lkw umgepackt und weitertransportiert. Er fuhr zurück, um neue Kisten zu holen. Bis zu drei Monate brauchte er für seine 300 Kilometer; denn die Amerikaner schütteten Splitter- und Napalmbomben auf ihn und seine Kollegen, insgesamt fast zwei Millionen Tonnen.

Vor allem aus der Luft versuchten die Amerikaner, den stetigen Waffenstrom von Nord nach Süd zu unterbinden. Spezialflugzeuge vom Typ AC-130, ausgerüstet mit Nachtsicht-Zielgerät, zerstörten rund 1500 Lkw und brachten den Nachschub zeitweise fast zum Erliegen. Doch in aller Eile legten die Vietnamesen eine neue 500 Kilometer lange Trasse, die gänzlich mit Laub abgedeckt wurde und für die AC-130 unsichtbar blieb ­ am Tage war der Wundervogel blind.

Der Ho-Tschi-minh-Pfad wuchs allmählich zu einem Netzwerk von Haupt-, Parallel- und Querwegen, gespickt mit Reparaturwerkstätten und Sanitätsstationen, verbunden durch versenkbare Brücken, geschützt durch moderne Luftabwehrbatterien und primitive Gewehre. Die Bergstämme, die entlang dem Pfad lebten, waren von Trägern zu Flakhelfern befördert worden, die losschossen, sobald sich am Himmel etwas regte.

Jahrelang rollte der Nachschub, bereitete sich die Befreiungsfront auf den großen Schlag vor, drei Jahre lang hatten die GIs mühsam einige Höhen gewonnen und Gebietsfetzen erobert, verloren und zurückerobert ­ da begann am 31. Januar 1968 die kriegsentscheidende Tet-Offensive des Vietcong. Die Partisanen krochen überall im Lande aus ihren Erdlöchern; die Stadtguerrilleros stürmten Regierungsgebäude und drangen sogar in die US-Botschaft in Saigon ein; 80 000 Vietcong attackierten 24 amerikanische Stützpunkte und 36 der 44 Provinzhauptstädte, eroberten die alte Kaiserstadt Hue (für fast vier Wochen) und wichtige Landstriche.

Auch wenn dieser Ansturm letztlich in einem blutigen militärischen Debakel endete, so war es doch eine Niederlage, die den Sieg vorbereitete. Die amerikanische Öffentlichkeit, drei Jahre lang durch die euphorische Zuversicht der Militärs getäuscht, war über das Ausmaß des vietnamesischen Untergrunds entsetzt. Mit jedem GI, der fortan im Leichensack heimkehrte, wurde die Antikriegsbewegung stärker. Der Vietnamkrieg wurde nicht länger nur in Indochina ausgefochten, sondern auch auf den Straßen Amerikas.

Verteidigungsminister McNamara war schon im Mai 1967, nach Auswertung von Botschafter-Papieren, Militäranalysen, CIA-Einschätzungen und nach der Beurteilung der innenpolitischen Situation der USA, zu der Überzeugung gelangt, es sei höchste Zeit, Vietnam sich selbst zu überlassen. In einem Memorandum an Lyndon B. Johnson, der nach Kennedys Tod US-Präsident geworden war, schrieb er: "Die meisten Amerikaner wissen nicht, wie wir in diese Lage geraten sind. Alle wollen den Krieg beenden und erwarten von ihrem Präsidenten, daß er es tut. Erfolgreich. Oder auch nicht."

Im Spätsommer 1967 kamen die Analytiker der CIA zu der Einschätzung, daß die USA sich "ohne weitreichenden Nachteil für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und des Westens aus Vietnam zurückziehen können". Anfang November machte McNamara dem US-Präsidenten deutlich, "daß unser Ziel in Vietnam durch vernünftige militärische Mittel nicht zu erreichen sei". Die Folge: Es kam zum Bruch zwischen Johnson und McNamara. Der Verteidigungsminister sei selbstmordgefährdet, vertraute der US-Präsident seinen Mitarbeitern an; Zeitungen schrieben, McNamara sei schwer krank. Davon stimme nichts, stellte McNamara klar; aber er legte sein Amt nieder ­ ohne zu wissen, "ob ich von mir aus gegangen bin oder gefeuert wurde".

Die amerikanischen Militärs antworteten auf die Tet-Offensive mit einem neuen Oberbefehlshaber, einer neuen Strategie und Operationen, denen sie siegesgewisse Namen gaben wie "Certain Victory" und "Complete Victory".

Mit "Säuberungsaktionen" in den Dörfern und Wäldern versuchte die militärische Übermacht, die Partisanen aufzustöbern. Mit geringem Erfolg. Warum?

Die Region Cu Chi, nur 30 Kilometer von Saigon entfernt, war immer wieder Ausgangsbasis für Angriffe der Partisanen auf die Hauptstadt. 3500 Bewaffnete konnten sich in den 70 großen Versammlungshallen des unterirdischen Labyrinths verbergen ­ tagsüber war von ihnen nichts zu sehen, nachts schlugen sie los. Die Vietcong sickerten einzeln nach Saigon ein und fanden dort Unterschlupf bei den "roten Adressen", den unverdächtigen Bürgern, die die Partisanen für einige Tage versteckten, ernährten und an die nächste Adresse weiterreichten.

Do Thi Huu Bich war eine "rote Adresse". 1944 schloß sich die damals 19jährige in Saigon der Widerstandsbewegung Vietminh an. "Aus Liebe zum Vaterland", wie sie sagt. "Damals hielten die Japaner unser Land besetzt, und nach ihnen fielen die Franzosen ein. Ich verstand von Politik nicht viel, aber in der Zigarettenfabrik, die einem Franzosen gehörte, haben sie uns wie Arbeitstiere gehalten." Als die Franzosen 1954 schließlich militärisch und politisch am Ende waren, stand schon die nächste fremde Macht Gewehr bei Fuß.

Do Thi Huu Bich baute in ihrem Saigoner Stadtteil die Nationale Befreiungsfront mit auf, ein Widerstandsbündnis, dem neben den Kommunisten auch Bauernverbände, Gewerkschaften und religiöse Gruppen angehörten. Nur die wachsende Zahl amerikanischer Soldaten konnte das Regime des Präsidenten Nguyen Van Thieu an der Macht halten ­ immer mehr Boys stolperten aus den Transportmaschinen der Air Force in den Dschungel.

Für viele der insgesamt drei Millionen US-Soldaten war Vietnam ein gutbewachsenes Niemandsland. Sie wußten nur, daß es dort jede Menge Rote gab und ein Volk von gelben Teufeln, denen man die Grundregeln von Freiheit und Zivilisation beizubringen hatte. "Wir können das ganze Land asphaltieren und Parkplätze darauf anlegen und immer noch bis Weihnachten wieder zu Hause sein", hatte ein aufstrebender kalifornischer Politiker namens Ronald Reagan erklärt.

"Sie haben in uns nicht Menschen gesehen, sondern verkommene Wilde", sagt Do Thi Huu Bich, "sie haben nicht begriffen, daß wir für unsere Ideale kämpften, für Unabhängigkeit und Frieden. Sie haben nur an Urlaub in Bangkok gedacht, wir an den Sieg."

Nach Sonnenaufgang schwebten gewöhnlich die Hubschrauber in die Dörfer, und die großen weißen Männer durchwühlten die Hütten nach Partisanen oder verteilten Kaugummi; sie zerstörten die Reisfelder oder schleppten Reissäcke heran, auf denen stand: "Donated by the people of the United States"; sie legten ihre dicken Arme um die Hüften der Mädchen und ließen sich fotografieren; sie zündeten eine Hütte an oder verbanden einem kleinen Jungen den Fuß ­ je nachdem, wie die Nacht davor gewesen war oder wer die Truppe kommandierte oder welche Post sie aus der Heimat bekommen hatten.

Und dann stiegen sie wieder in ihre Vögel und flogen zurück in ihre Lager, und unterwegs überlegten sie, welcher Vietcong ihnen wohl heute durch die Lappen gegangen war. Das süße Zigarettenmädchen? Der bettelnde Greis? Der schnelle Schuhputzer? Der kleine Junge mit den Bums-Fotos?

In ihrer Festung hörten sie über American Forces Vietnam Network Songs von Jimi Hendrix, den Doors, Wilson Pickett und den Mothers, spielten Gitarre und Karten, rauchten Cambodian Red oder Lao Green und zeigten sich ihre Alben mit den immer gleichen Fotos, mit den Tote-Vietcongmädchen-ohne-Pyjama-Fotos.

Und während sie dann für ihren Oberbefehlshaber zusammenlogen, wie viele Schlitzaugen sie am heutigen Tag getötet hatten, damit dessen Presseleute aus dem beeindruckenden "body count" wieder einen erfolgreichen Tag im Kampf gegen die kommunistische Bedrohung machen konnten, krochen die Vietcong in den Dörfern aus ihren Erdlöchern, sammelten die Reisportionen ein, die die GIs verteilt hatten, ohrfeigten die Mädchen, die sich von den Eindringlingen hatten umarmen lassen, verteilten Medikamente und Waffen und Weisheiten, versprachen den Frieden, die Einheit und die Freiheit und verprügelten diejenigen, die sie verdächtigten, die Prügel der Amerikaner nicht stumm überstanden zu haben, oder sie ertränkten sie kurzerhand ­ je nachdem, wie ihr Tag unter der Erde gewesen war.

Die Fernsehbilder waren es, die aus diesem alltäglichen Krieg in den Dschungeldörfern Indochinas einen globalen Krieg machten, der weder Madrid noch Paris, noch Mexiko-Stadt verschonte, schon gar nicht die Großstädte der Vereinigten Staaten. Die Abendnachrichten trugen die Gewalt so lange in die Wohnzimmer der Amerikaner, bis es auf manchen ihrer Straßen ähnlich zuging wie in Saigon während der Tet-Offensive. Vor dem Pentagon verbrannte sich ein Vietnamkriegsgegner; in Kent (Ohio) wurden vier Protestierer von der Nationalgarde erschossen.

Auch die Deutschen ließ der Krieg kämpfen: Die Freiheit Berlins werde in Saigon verteidigt, sagten die einen; sie wollten deutsche Soldaten hinüberjagen und Kampfhubschrauber, aber dann begnügten sie sich damit, den südvietnamesischen Soldaten Schäferhunde zu schicken und den Witwen amerikanischer Soldaten kleine Kopien der Berliner Freiheitsglocke.

Die Würde aller Menschen werde in Vietnam zertreten, sagten die anderen; sie veranstalteten Protestmärsche und Tribunale, sie ließen Scheiben klirren und Molotowcocktails fliegen, sie verbrannten Sternenbanner und bastelten Puddingbomben.

Der Vietnamkrieg veränderte Deutschland: Er schürte Zweifel am American Way of Life und an dem, was von vielen Empörten nun "Weltimperialismus" genannt wurde; er politisierte Schriftsteller, Künstler und Filmemacher; er machte aus einem bis dahin bloß antiautoritären Generationenaufstand das, was heute "die Revolte der 68er" heißt; und er ließ eine kleine radikale Minderheit den ersten Terrorakt begehen ­ Andreas Baader und seine Freunde steckten ein Frankfurter Kaufhaus in Brand, "aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen".

Im März 1972 startete Nordvietnam, ermutigt durch die weltweite Solidaritätsbewegung, eine neue Offensive mit dem Ziel, Amerika bei den schleppenden Pariser Friedensgesprächen unter Druck zu setzen. Präsident Nixon, der seit 1969 die Zahl der amerikanischen Divisionen schrittweise reduziert und sich auf die "Vietnamisierung" des Krieges verlassen hatte, antwortete mit mehreren Bombenoffensiven gegen Nordvietnam, die Weihnachten 1972 ihren Höhepunkt erreichten ­ ohne den Kriegswillen der Nordvietnamesen endgültig brechen zu können.

Kurz darauf, am 27. Januar 1973, wurde das Pariser Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet und der endgültige Abzug der US-Truppen innerhalb von 60 Tagen vereinbart. Schon am nächsten Tag begann das Oberkommando in Hanoi mit den Planungen für den Sturm auf Saigon.

Bis Anfang 1975 war der Ho-Tschi-minh-Pfad, nun unbedroht durch Bombardierungen, von den Nordvietnamesen und den Vietcong zu einem System von fünf parallelen Autochausseen mit einer Länge von 5500 Kilometern ausgebaut worden. Zusammen mit den Seitenstraßen und Ausweichstrecken war ein Netzwerk von insgesamt 16 000 Kilometern entstanden.

Die weltpolitische Lage wurde von Hanoi als günstig eingeschätzt: Amerika war noch mit dem Watergate-Skandal und dem Nahen Osten beschäftigt, China mit der "Viererbande". Der Sturm auf die Provinzhauptstadt Phuoc Binh wurde zum Test: Würden die amerikanischen Militärs den frechen Bruch des Waffenstillstands hinnehmen oder nochmals mit eigenen Streitkräften eingreifen? "Als sich nichts rührte, war es für uns das Zeichen: Wir haben freie Fahrt", sagt Generaloberst Bang. Nach jedem Schritt vorwärts wurde allerdings kontrolliert: Wohin bewegt sich die Siebente Flotte der Amerikaner, welche amerikanischen Generäle landen in Saigon?

Am 28. Februar 1975 kreuzte zum erstenmal seit 1961 wieder eine chinesische Militärdelegation in Hanoi auf. China zeigte sich über die Offensive beunruhigt und riet zur Mäßigung. "Wir ließen die Chinesen darüber im unklaren, daß wir zwei Wochen später das Zentrale Hochland einnehmen und dann den entscheidenden Vorstoß auf Saigon wagen wollten", erzählt Generaloberst Bang.

Wenige Tage danach besuchte der stellvertretende sowjetische Außenminister Hanoi. Auch die Sowjetunion fürchtete, daß die Amerikaner doch noch zu einem großen Gegenschlag ausholen könnten, wenn ein Zusammenbruch der mit amerikanischen Waffen hochgerüsteten Saigoner Armee abzusehen sei. Die Sowjets favorisierten eine politische Lösung. Darum bremsten sie ihre Waffen- und Munitionslieferungen seit Anfang 1973.

Am 10. März überrannten die Nordvietnamesen die Stadt Ban Me Thuot und vertrieben die Thieu-Truppen aus dem gesamten Hochland. Auch bei Hue und Da Nang gelang ihnen der Durchbruch; in Panik flüchteten die südvietnamesischen Regierungstruppen. Der Generalstab in Hanoi ließ nun weitere vietnamesische Divisionen über die offene Grenze am 17. Breitengrad einmarschieren. Auf dem Ho-Tschi-minh-Pfad, nun eine Autobahn, rollten sie zum Sieg.

Als "töricht" wertet der Mann, der das US-Engagement in Indochina sieben Jahre lang zu verantworten hatte, heute den Vietnamkrieg. McNamara bezweifelt, ob "sich die Sowjetunion und China in den siebziger und achtziger Jahren wesentlich anders verhalten und mehr Einfluß gewonnen hätten, wenn die Vereinigten Staaten nicht in den Indochina-Krieg eingetreten wären".

Daß dieser Krieg zwischen der mächtigsten Militärmaschine des Westens und einer Armee von Kämpfern mit Kinderärmchen, daß diese große Schlacht zwischen Ost und West und Arm und Reich, die über drei Millionen Menschen getötet hat und Abermillionen Menschen an ihrem Weltbild zweifeln ließ, daß dieser Krieg, wie sein Architekt nun in seinen Memoiren ausplaudert, nicht mehr war als das langanhaltende Irren eines Haufens ahnungsloser Minister, Präsidentenberater und Militärs ­ ist das letzte Massaker, das dieser Krieg in den Hirnen der Überlebenden anrichtet.

Die siebeneinhalb Millionen Tonnen Bomben, die auf Indochina gefallen waren (mehr als zweimal soviel wie auf alle Länder im Zweiten Weltkrieg), hatten das Verkehrssystem und viele Deiche und damit den Reisanbau zerstört. Ein Drittel der Südvietnamesen war aus ihren Dörfern geflüchtet, 900 000 waren Waisen geworden, eine halbe Million Krüppel.

Fast 170 Milliarden Dollar hatten sich die Vereinigten Staaten die Fehlkalkulation in Indochina kosten lassen; Wiederaufbauhilfe erhielt das Land, obwohl in einem geheimen Zusatzprotokoll des Waffenstillstandsabkommens zugesagt, in den Nachkriegsjahren weder von den Amerikanern noch von anderen westlichen Staaten. Nur Schweden gab Hunderte Millionen Dollar, und auch die sozialistischen Staaten halfen, aber die schickten mit dem Geld auch militärische und politische Berater. Dem zerstörten Agrarland wurde nun auch im Süden ein Sozialismusmodell aufgezwungen, mit all dem, was die sowjetischen Vertreter seinerzeit im Angebot hatten: Verstaatlichung, Zentralismus, Schwerindustrie, Bürokratie.

Die Niederlage der USA in Vietnam stellt sich aus heutiger Sicht als seltsame Sackgasse der Geschichte dar. Ein gutes Jahrzehnt später begannen die Länder des Sozialismus wie Dominosteine umzufallen und reihten sich offen oder verdeckt in das Imperium des Kapitalismus ein. Auch Vietnam ist heute auf dem Weg zur Marktwirtschaft, regiert von den Kadern, die im Dschungel gekämpft hatten, um die Kapitalisten aus dem Land zu jagen. Inzwischen schicken die USA ihre Wirtschaftsvertreter, während Vietnam dem Kriegsgegner militärische Nachhilfe gewähren will ­ im Dschungelkampf.

Im Kalten Krieg war die jahrzehntelange Dschungelschlacht die heißeste Zone des Systemkampfes und gleichzeitig ein Schlachtfeld der Besinnung. Nachdem die Amerikaner ihre Truppen aus Vietnam zurückgezogen hatten, begann die große Zeit der Rüstungsbegrenzung: Nixon und Breschnew unterzeichneten das Salt-1-Abkommen, ein wichtiger Schritt, um den Rüstungswettlauf der beiden Supermächte einzuschränken.

Wer mehr und bessere Waffen habe, bestimmte seit Ende des Zweiten Weltkriegs das Drohritual und die Spionagearbeit zwischen den Kalten Kriegern. Auch Kennedy hatte 1960 in seinem Präsidentenwahlkampf erfolgreich mit der "Raketenlücke" um Wählerstimmen geworben. Er hatte seinem Gegner Eisenhower vorgeworfen, die nukleare Rüstung vernachlässigt und dadurch zugelassen zu haben, daß die Sowjetunion im Kriegsfall erheblich mehr Interkontinentalraketen einsetzen könne. Als sich Kennedys Verteidigungsminister McNamara kurz nach der gewonnenen Wahl daranmachte, die Größe der Raketenlücke zu bestimmen, entdeckten die Experten bei genauem Zählen, daß es tatsächlich eine Lücke gab ­ auf seiten der Sowjets.

Das Wettrüsten schien durch die Entspannungspolitik der siebziger Jahre gestoppt werden zu können, zudem garantierte Breschnew auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit 1975 in Helsinki den Gewaltverzicht in Europa.

Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan ging allerdings die kurze Zeit der Entspannung zu Ende; die Sowjets stürzten sich in ein militärisches Abenteuer, das über 1,5 Millionen Menschen den Tod brachte.

Durch die Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten begab sich auch die andere Supermacht wieder auf den Kalten Kriegspfad: Die Sowjetunion war das "Reich des Bösen", das "Zentrum allen Übels", das durch "die Position militärischer Überlegenheit" totzurüsten sei, am schlagkräftigsten durch die Ausdehnung des Wettrüstens in den Weltall ­ der "Krieg der Sterne" war geboren, die letzte Erfindung des Kalten Krieges, die nicht mehr in die Welt gesetzt wurde, weil der Sozialismus sich zu Tode gerüstet hatte und zusammenbrach.

Für Robert McNamara, der eigentlich nur in aller Ruhe möglichst viele Autos verkaufen wollte und dann zur tragischen Figur des Kalten Krieges wurde, sind mit dem Ende des Kampfes zwischen Weltkapitalismus und Weltsozialismus nicht die möglichen Ursachen für einen Dritten Weltkrieg erledigt. Aber die Lehren des Vietnamkriegs nähren für ihn die Hoffnung, "daß das 21. Jahrhundert, wenn nicht ein friedliches, so doch ein Jahrhundert wird, in dem nicht erneut 160 Millionen Menschen umkommen".