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Zum 9. November 1938,
sollte der schon zur Tradition gewordene Rummel zum Gedenken an die Toten des
9. November 1923, mit dem inzwischen feststehenden Ritual an neu errichteten
sogenannten Ehrentempeln am Königsplatz begangen werden. Da verbreitete der
Reichsrundfunk eine Meldung aus Paris, dass dort
ein deutscher Diplomat von einem Juden ermordet worden sei.
Am selben Abend forderte Goebbels
in München zu härtestem Vorgehen gegen alle Juden auf, und von München aus
wurde für die Nacht vom 9. zum 10. November ein Pogrom im ganzen Reich
organisiert.
In vielen Städten wurden die
deutschen Synagogen - mit zum Teil tausendjähriger Tradition - angezündet
(in München war bereits im Jahr zuvor die Hauptsynagoge aus angeblich
stadtplanerischen Gründen abgerissen worden). Viele jüdische Warenhäuser
gingen in Flammen auf oder wurden geplündert. Auch Menschen wurden ermordet,
und viele Deutsche, die sich dagegen auflehnen wollten, wurden verhaftet.
Mancher Polizeibeamte versteckte sich schamhaft mit schlechtem Gewissen, um
nicht gegen die Räuber und Mörder einschreiten zu müssen.
Die ganze verbrecherische Aktion,
die sich über mehrere Tage im deutschen Reichsgebiet, vor allem in den von
Juden besonders zahlreich besiedelten neu eingegliederten Gebieten Österreich
und Sudetenland, hinzog, muss in der
Reichszentrale der NSDAP in München am 9. November sehr sorgfältig geplant
worden sein. Sicher sind auch bürokratisch sorgfältige Pläne mit
Richtlinien usw. angelegt worden. Nur haben die führenden Parteibeamten in
den letzten Tagen vor dem Einrücken der US-Army Ende April 1945, gemäß dem
Befehl des letzten Gauleiters Giesler, alle Akten verbrannt.
In den Bunkern unter dem
ehemaligen Parteiarchiv im Bereich Brienner und Arcisstraße sowie Königsplatz,
sind in Treppen und Gängen noch immer die tiefschwarzen Brandspuren aus den
letzten Kriegstagen zu sehen. Ein Hausmeister des inzwischen
staatlich-bayerischen Eigentums erzählte vor kurzem auf Anfrage, die vielen
Brandspuren würden von Brandbomben des Zweiten Weltkriegs stammen.
Augenzeugen aus der Zeit 1945 erzählten aber, dass tagelang aus Straßenschächten
und Gebäuden an der Briennerstraße Rauchwolken aufgestiegen seien. Auch die
Pläne zum Pogrom vom 9./10. November 1938 müssen dieser
Archiv-Vernichtungsaktion zum Opfer gefallen sein.
Bekanntermaßen wurden SA- und
SS-Trupps in Zivil, zum Teil maskiert, von einem Stadtteil in den anderen oder
in entfernte Orte dirigiert, um dort ihr verbrecherisches Handwerk auszuüben.
Am Morgen überließ man die zertrümmerten jüdischen Geschäfte und
Synagogen dem Zugriff ganz gewöhnlicher Räuber. Zum Beispiel wurde in München-Pasing
(einer gerade eingemeindeten Stadt im Westen Münchens) die Auslage eines
kleinen jüdischen Geschäftes am Morgen auf die Straße geworfen. Augenzeugen
können heute noch berichten, dass zu diesem
Zeitpunkt Hunderte von Schülern der bekannten Pasinger Gymnasien (bzw.
Oberschulen) vom Bahnhof her zu ihren Schulen strömten. Wer kann es den
Kindern verdenken, dass sie aufhoben, was als
vermeintlich herrenloses Gut auf der Straße lag. Die Dreisteren gingen auch
in das Innere des Ladens, um sich aus dem wüsten Durcheinander Brauchbares
herauszusuchen und mitzunehmen. Gelegentlich griff Polizei gegen Räubereien
ein und nahm den Dieben das Diebesgut ab.
Auch das Anzünden von Häusern, vor allem von
Synagogen, wurde mancherorts durch die Ortspolizeibehörden unterbunden, wobei
sich zuständige Bürgermeister und Polizei auf die Gefahr für benachbarte Häuser
hinausredeten. Besonders bekannt wurde der Fall Bayreuth. Der Oberbürgermeister
wies entschieden auf die Gefahr für die ganze Altstadt hin. Als die SS-Leute
nun den Versuch machten, die altehrwürdige Synagoge einfach einzureißen,
verhinderte der OB Dr. Kempfler auch dies, mit der Begründung, daß durch
unsachgemäße Abbrucharbeiten sich Unfälle ereignen könnten. Schließlich
wollten die Rechtsbrecher Einrichtungsgegenstände demolieren oder
verschleppen. Auch dies konnte er durch einen verstärkten Polizeieinsatz
verhindern.*)
Frau S., die Besitzerin des kleinen
Papierwarengeschäfts in Pasing, sah ich zum letzten Mal, als sie aus Anlaß
ihrer Deportation von der SS abgeholt wurde. Es war am Morgen des Karfreitags
1942. Vor dem Hause Bürkleinstraße 16 stand ein mit einer Plane bedeckter
Lastwagen, auf dem sich eine größere Anzahl von Zivilisten drängte. Zwei
SS-Männer standen auf dem Bürgersteig, während zwei andere, die Stahlhelme
trugen und Maschinenpistolen in Händen hielten, die Insassen des Wagens
bewachten. Ich stand im Hause auf der Treppe und wollte gerade in ein oberes
Stockwerk gehen, als ein SS-Mann von der Straße hereinkam. Mit einem hässlichen
Geschrei trommelte er mit den Fäusten auf die Wohnungstüre der Frau Silber.
Sie öffnete und rief begütigend: ,,Was ist denn, was ist denn. Ich will mir
ja doch nur noch einen Kuchen für die Reise backen."
Der SS-Scherge brüllte: ,,Sie hatten Befehl, um
8 Uhr reisefertig zu sein." Dabei schlug er der alten Frau eine Emailschüssel
mit Kuchenteig brutal aus der Hand. Sie kullerte durch das breite Treppenhaus
auf das Pflaster. Der schreiende Polterer packte die Frau, die an den Füßen
nur Pantoffeln trug und über ihr Kleid eine Küchenschürze gebunden hatte,
an der Schulter und stieß sie brutal zu dem Lastauto. Dabei schrie er:
,,Kuchen backen, Kuchen backen, Saumensch, dreckiges." Ich sah noch, wie
der Mann in die Wohnung hineinging und mit einem verschnürten Paket und einer
Schlafdecke herauskam. Den tragischen Zweck meines damaligen Besuches in der Bürkleinstraße
möchte ich in einem anderen Abschnitt dieses Bandes schildern.
Nach Karl Wieninger:
In München erlebte Geschichte
1985 - Verlag E. Strumberger, München - ISBN 3-921193-21-4
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