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Hitler will Frieden. Seine Reden und
Interviews über dieses Thema sind auf einem Schema aufgebaut, das nicht
neu ist: Der Krieg sei außerstande, auch nur eine Frage zu lösen, der
Krieg bedrohe die besten Rassen mit Vernichtung, Krieg bedeute den
Untergang der Kultur. Die klassische Argumentation des Pazifismus, die
jahrhundertealt ist. Umso erfreulicher, wenn es dem Reichskanzler so
rasch gelungen ist, einige ausländische Journalisten von seiner
unbedingten Aufrichtigkeit zu überzeugen. Zwar könnte ein anderer
Pazifist, an dessen Aufrichtigkeit es jedenfalls keinen Zweifel geben
kann, Carl v. Ossietzky, fragen, warum man ihn eigentlich weiter im
Konzentrationslager hält, wo doch sein Grundgedanke eifrig, wenn auch
nicht sehr talentvoll, vom heutigen Regierungsoberhaupt entwickelt wird?
Aber Ossietzky ist ja deswegen isoliert worden, damit er keine
unbequemen Fragen stellt.
Die Überzeugungskraft der Argumente Hitlers liegt
in ihrer Massivität. Alle Minister, alle Redner, alle Zeitungen
beteuern, das Dritte Reich sei ausersehen, die Völkerverbrüderung zu
verwirklichen. Wenn das gesamte nationalsozialistische Deutschland
lernt, die Waffe zu handhaben, so geschieht das nur dazu, um seinen Haß
gegen den Krieg zu schüren. Sogar v. Papen, der noch am 3. Mai dieses
Jahres predigte, für den echten Deutschen zieme es sich, jung auf dem
Schlachtfeld und nicht an Alterssklerose zu sterben, wird heute nicht müde
zu wiederholen, nichts sei würdiger, als seinen Atem friedlich inmitten
von Enkeln und Urenkeln aufzugeben.
Europas Völker wollen leidenschaftlich die
Wahrung des Friedens. Kein Wunder, wenn sie den Versuch machen, der
massiven Argumentation Berlins hoffnungsvoll zu lauschen. Die Zweifel zu
ersticken fällt jedoch nicht leicht. Viele fragen: Wie verhält es sich
dann aber zum Beispiel mit Hitlers Autobiographie, die doch ganz auf dem
Gedanken von der Unversöhnlichkeit der Interessen Deutschlands und
Frankreichs aufgebaut ist? Die beruhigende Erklärung lautet: Die
Autobiographie wurde im Gefängnis geschrieben, als die Nerven des
Verfassers nicht in Ordnung waren, und offenbar nur durch die Nachlässigkeit
des Propagandaministers hat das unausgewogene Buch bis zu diesem Tag als
Grundlage der nationalen Erziehung gedient. Sobald die Frage der
„Gleichberechtigung“ zugunsten des Dritten Reiches gelöst ist, wird
Hitler eine neue, befriedigendere Ausgabe in Druck geben. Nannte sich
das Buch bis jetzt Mein Kampf, wobei der
Hauptgegenstand von Mein Kampf der Versailler Vertrag
war, so wird die Autobiographie in Zukunft offenbar Mein Frieden
heißen und als Beigabe ein Gutachten nationalsozialistischer Ärzte
erhalten, daß Hitlers Nerven nun vollständig in Ordnung sind. Und der
Leipziger Prozeß zeigt, daß gerichtsmedizinische Gutachten im Dritten
Reich Anspruch auf uneingeschränktes Vertrauen haben.
Gäbees auf der Welt bloß Aufrichtigkeit und
Friedensliebe, sowäre das Leben vermutlich eine ewige Freude. Zum Unglückleben
neben diesen Tugenden auch Dummheit und Vertrauensseligkeit. Und liest
man die internationale Tagespresse, so sagt man sich zuweilen: Das Übergewichtbeginnt
sich anscheinend auf die Seite der vertrauensseligen Dummheit zu neigen.
Wer wird dafür zahlen müssen?
Der Verfasser hat schon einmal in der Neuen
Weltbühne versucht, die Aufmerksamkeit der Leser auf ein
bemerkenswertes politisches Dokument zu lenken, nämlich Hitlers Offenen
Brief an den Reichskanzler v. Papen. Leider scheint unsere
schwache Stimme ihr Ziel nicht erreicht zu haben. Der Offene
Brief wurde nicht, wie wir hofften, zum Handbuch jeder
Redaktion und jeder diplomatischen Kanzlei. Aber er hätte das vollauf
verdient. Die kürzlich veröffentlichten geheimen Dokumente der
deutschen Propaganda sind auch sehr lehrreich, ohne Zweifel; doch sie
haben den Nachteil, geheim zu sein. Stets können sie als Fälschungen
verdächtigt werden. Der Offene Brief ist kein
Geheimdokument. Es ist das eine Broschüre, die offiziell von der
Nazipartei am 16. Oktober 1932 herausgegeben wurde, drei Monate vor
Hitlers Machtantritt. Sein Nervensystem war zu jener Zeit, so ist
anzunehmen, nach den Prüfungen von 1923 wiederhergestellt. Hitler fühlte
sich schon fast am Ruder. Es blieb ihm nur noch übrig, das letzte
Hindernis aus dem Weg zu räumen: Die herrschenden Klassen blickten auf
ihn voll Hoffnung, doch nicht ohne Beklemmung. Am meisten fürchteten
sie ein Abenteuer des romantischen Chauvinismus. Zweck des „Offenen
Briefes“ war, den Spitzen der besitzenden Klassen, der Bürokratie,
der Generalität, der engeren Umgebung Hindenburgs zu versichern, daß
er, Hitler, im Gegensatz zu dem leichtsinnigen Revancheritter Papen, auf
sein Ziel mit der größten Behutsamkeit zugehen werde. Der Offene
Brief enthielt ein vollendetes System der Außenpolitik, das
erst heute seine volle Bedeutung gewinnt.
Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund wurde in
der ganzen Welt als eine unerwartete und unvernünftige Improvisation
aufgefaßt; doch im Offenen Brief ist genau gesagt,
warum Deutschland Genf würde verlassen müssen und wie dieser Bruch zu
inszenieren sei. Der außerordentliche Wert des Briefes besteht darin,
daß Hitler – in jenen Tagen noch gezwungen zu kämpfen und zu
polemisieren – unvorsichtig die geheimen Triebfedern seiner künftigen
Außenpolitik bloßlegte. Der Ausgangspunkt des Briefes ist derselbe wie
in der Autobiographie: Deutschlands und Frankreichs Interessen sind
vollständig unversöhnbar, Frankreich kann nicht freiwillig in die Veränderung
des Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands einwilligen,
Deutschland kann die „Gleichberechtigung“ nicht durch Diskussion auf
den internationalen Konferenzen erreichen; damit die internationale
Diplomatie Deutschlands Recht auf Aufrüstung anerkenne, ist es nötig,
daß die Deutschen vorher aufgerüstet haben. Aber gerade darum darf man
nicht wie Papen – laut die Aufrüstung Deutschlands fordern. Das ist
eine Losung für eine „Volksbewegung“, aber keinesfalls für die
Diplomatie. Eine verantwortungsbewußte Regierung – das heißt die
Regierung Hitler und nicht Papen – soll nur die Abrüstung Frankreichs
fordern. Da aber Frankreich auf keinen Fall darauf eingehen kann, so
wird Deutschland den Völkerbund verlassen müssen, um eben dadurch
freie Hand zu bekommen. Für den Krieg? Nein. Deutschland ist bis jetzt
noch zu schwach, als daß seine Regierung in der nächsten Zeit eine
andere Sprache als die des Pazifismus reden könnte. Indem es sich auf
die „Gefahr“ beruft, die vom Osten droht, und den Antagonismus
zwischen den Weststaaten ausnutzt, muß Deutschland die Basis seines
Militarismus allmählich wieder aufbauen, vom Allgemeinen übergehend
zum Besonderen und Speziellen. Für dieses Werk bedarf es eines
nationalen Schweigekomplotts: Vor allem die Ossietzkys hinter Schloß
und Riegel! Das Instrument des Pazifismus muß die verantwortliche
Regierung selbst in die Hand nehmen. Auf diesem Wege wird es im Verlauf
von einigen Jahren gelingen, eine gründliche Änderung des Kräfteverhältnisses
zuwege zu bringen. Danach wird man von Mein Frieden
wieder übergehen können zu Mein Kampf und sogar zu Mein
Krieg.
Dasist Hitlers Plan. Dieser Plan entspringt der
ganzen Lage, der internationalen wie der inneren. Hitler selbst hat dafür
gesorgt, der Menschheit den Schlüssel – oder, um einen passenderen
Ausdruck zu gebrauchen, den Dietrich – zu seiner künftigen
internationalen Politik zu liefern. Bei aller Bedeutung der
Zeugenaussagen zweier gerührter Journalisten ziehen wir vor, uns auf
Hitlers eigene Aussage zu stützen, die durch ein eindrucksvolles System
direkter und indirekter Beweise erhärtet wird.
Aus Tatsachen, selbst wenn sie unerschütterlich
feststehen, kann man verschiedene praktische Schlüsse ziehen. Hitlers
Politik kann man verschieden beantworten. In der Absicht des
vorliegenden Aufsatzes liegt es am allerwenigsten, denen, die Europas
Schicksal fabrizieren, irgendwelche Ratschläge zu erteilen; sie wissen
vermutlich selbst, was sie zu tun haben. Doch Voraussetzung einer
realistischen Politik, was immer ihre Ziele und Methoden sein mögen,
ist ein klares Verständnis der Lage und ihrer treibenden Kräfte. Man
muß sehen, was ist. Hitler verließ Genf nicht infolge einer nervösen
Improvisation, sondern gemäß einem exakt kalkulierten Plan. Hitler hat
sich das nationale Schweigekomplott gesichert. Er arbeitet auf eine gründliche
Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses hin. Gerade jetzt,
wo diese Arbeit schon begonnen ist, aber bei weitem noch nicht
entscheidende Ergebnisse erzielt hat, braucht Hitler größte
Behutsamkeit in der europäischen Arena. Niemanden schrecken, niemanden
reizen; im Gegenteil: Weit die Arme öffnen! Hitler ist bereit, alle Zäune
aller Kriegsfabriken mit pazifistischen Reden und Nichtangriffspakten zu
bekleben. Paris ist eine Messe wert! Bedarf es einer klaren, einfachen,
nicht diplomatischen Formel für die pazifistische Offensive der
deutschen Regierung, so lautet sie: In den nächsten zwei, drei Jahren
muß Hitler, koste es was es wolle, einen Präventivkrieg von seiten
seiner Gegner verhindern. In diesem Rahmen ist sein Pazifismus durchaus
aufrichtig. Aber auch nur in diesem Rahmen.
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