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Max Eyth
Brief aus England an seine Eltern von
Was die Industrie Gutes und Böses leistet, lernt man
in Manchester kennen. Den Hauptreichtum des Bezirks erzeugen die Millionen
Spindeln seiner Baumwollindustrie. Reichtum! Nirgends in England habe ich
bis jetzt eine so bleiche, kranke, vom Elend und Unglück angefressene
Bevölkerung gesehen, wie sie hier aus den niedern, rauchigen Häusern
herausgrinst oder auf den engen, staubigen Gassen der ärmeren Viertel
herumliegt. Freilich ist das nur die Hefe des Volkes, aber die Hefe umfaßt
drei Viertel des Ganzen. Wenn die Engländer, selbst die ärmsten, nicht
jenen eigentümlichen Reinlichkeitssinn in betreff der Wohnungen hätten, der
nach unten hinsichtlich des Körpers und der Kleidung nur zu rasch
verschwindet: es wäre ein Bild bodenlosen "Fortschritts"! Töricht wäre es
trotzdem, der Industrie einen Vorwurf daraus zu machen. Sie ist und bleibt
das einzige Mittel, die 500000 Menschen hier, die Millionen in England auch
nur auf dieser Stufe des ' Lebens zu erhalten. Nicht die Industrie hat das
Häßliche geschaffen, das ihr anhaftet. Es ist eine Zukunft denkbar, in der
sie sich auch aus diesem Schmutz herausarbeiten wird [...]
Die Arbeitszeit in englischen Maschinenfabriken ist zehn Stunden, zwei
weniger als in den meisten süddeutschen, von 6-8, von 8 1/2 - 12 und von 1 -
5 1/2 Uhr. Gewöhnlich arbeiten die Leute dann noch abends von 6 - 8 bei
erhöhtem Lohn. Ich wollte dies nicht tun, um meine Abende für technische
und sprachliche Studien freizuhalten. Ein boshaftes Geschick mußte mich
aber einer Arbeitsgruppe zuteilen, die mit einer drängenden Arbeit betraut
war, und so hatte ich das Vergnügen, gleich in der ersten Woche, in der mir
noch alle Rippen krachten, "Überzeit" arbeiten zu dürfen. Ein leichtes
gastrisches Fieber, das ich gleichzeitig mit mir herumtrug, vielleicht die
Folge der ungewohnten Kost, machte dies nicht angenehmer. Doch erhielt mich
eine Schlosserportion Rhabarber auf den Beinen.
Aus: Max Eyth, Im Strom unserer Zeit
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