1879 Aug 3./15.

Kaiser Alexander II. von Rußland
an Kaiser Wilhelm I.

  (Die Große Politik, Bd. III, Nr. 446, S. 14 ff; übers. nach: Schwertfeger, I, S. 249; aus: Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte, Bd.1, Berlin o.J., S. 378 ff).                                                                                                                 

Lieber Oheim und Freund!

 

Es liegt mir am Herzen, Ihnen auch noch schriftlich für Ihren lieben Brief vom 27. Juli sowie Augusta für die in Ihrer beider Namen übersandte reizende Denkmünze zur Erinnerung an Ihre goldene Hochzeit zu danken, an der teilzunehmen, wie ich es mit der größten Freude getan hätte, die Umstände mir leider nicht erlaubten.

Ich war glücklich zu hören, daß Sie die Anstrengungen der Festlichkeiten alle gut überstanden haben, und ich hoffe, daß die Gasteiner Kur Ihnen neue Kraft gegeben hat, um die vor Ihnen liegenden militärischen Besichtigungen auf sich zu nehmen.

Der Tod meines Adjutanten, des Generals von Reutern, der in diesen letzten Jahren die Ehre hatte, Ihrer Person zugeteilt zu sein, und dem Sie so viel Güte erwiesen haben, wird Ihnen, wie mir, gewiß schmerzlich gewesen sein. Ich will versuchen, einen Ersatz für ihn zu finden, der Ihnen zusagt, und werde nicht verfehlen, vorher Ihre Zustimmung einzuholen, sobald ich eine Wahl getroffen habe.

Ermutigt durch die Freundschaft, die Sie nie aufgehört haben, mir zu bezeigen, bitte ich um die Erlaubnis, in aller Offenheit mit Ihnen übel einen heiklen Gegenstand sprechen zu dürfen, der mich unaufhörlich beschäftigt. Es handelt sich um die Haltung der verschiedenen deutschen diplomatischen Vertreter in der Türkei, die sich seit einiger Zeit leider in einer für Rußland feindlichen Weise kundgibt, was in vollem Widerspruch mit den Überlieferung en freundschaftlicher Beziehungen steht, die seit mehr als einem Jahrhundert die Politik unserer beiden Regierungen geleitet hatten, und die durchaus mit ihren gemeinsamen Interessen übereinstimmten. - Diese Ueberzeugung hat sich in mir nicht verändert; ich hege sie noch ganz unversehrt und schmeichele mir mit der Hoffnung, daß es auch die Ihrige ist. - Aber die Welt urteilt nach den Tatsachen. Wie soll man also diese Haltung der deutschen Vertreter erklären, die im Orient eine uns immer feindlichere wird, wo nach den Worten des Fürsten Bismarck selbst Deutschland keine eigenen Interessen zu schützen hat, während wir dort sehr ernste zu verteidigen haben.

Wir haben soeben einen ruhmreichen Krieg beendet, der keine Eroberungen bezweckte, sondern einzig und allein die Verbesserung des Loses der Christen in der Türkei. Wir haben dies gerade jetzt durch Räumung der nach dem Kriege von uns besetzten Provinzen bewiesen, aber wir halten daran fest, daß die um den Preis unseres Blutes und unseres Geldes errungenen Erfolge keine toten Buchstaben bleiben sollen. Es handelt sich nur noch um die Ausführung der auf dem Berliner Kongreß getroffenen Vereinbarungen, aber diese muß auf gewissenhafte Weise erfolgen.

Nun aber machen die Türken, unterstützt von ihren Freunden, den Engländern und Oesterreichern, welch letztere inzwischen festen Fußes zwei türkische Provinzen besetzt halten, in die sie in Friedenszeit eingedrungen sind, um sie niemals ihrem rechtmäßigen Herrscher zurückzugeben, unausgesetzt Schwierigkeiten in Einzelheiten, die sowohl für die Bulgaren wie für die tapferen Montenegriner von der allergrößten Bedeutung sind. - Das gleiche tun die Rumänen Bulgarien gegenüber. - Die Mehrheit der Bevollmächtigten Europas hat darüber zu entscheiden. Die Bevollmächtigten Frankreichs und Italiens treten fast in allen Fragen den unsrigen bei, wogegen diejenigen Deutschlands das Losungswort erhalten zu haben scheinen, stets die Ansicht der Oesterreicher, die uns planmäßig feindlich ist, zu unterstützen und das bei Fragen, die Deutschland in keiner Weise angehen, für uns aber von sehr großer Bedeutung sind.

Verzeihen Sie, mein lieber Oheim, die Freiheit meiner Sprache, die auf Tatsachen beruht, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihre Aufmerksamkeit auf die traurigen Folgen zu lenken, die dies für unsere Beziehungen guter Nachbarschaft haben könnte, indem unsere beiden Völker dadurch gegeneinander aufgereizt werden, wie es bei der Presse beider Länder bereits der Fall zu sein beginnt. - Ich sehe darin das Werk unserer gemeinsamen Feinde, derselben, die das Drei-Kaiser-Bündnis nicht verwinden konnten. - Sie werden sich entsinnen, daß wir mehr als einmal mit Ihnen davon gesprochen haben, und wie glücklich ich in der Ueberzeugung war, daß unsere Anschauungen in diesem Punkte die gleichen waren. Ich verstehe vollkommen, daß Sie Ihre guten Beziehungen zu erhalten wünschen, aber ich sehe nicht ein, welches Interesse Deutschland haben könnte, das Rußlands zu opfern. - Ist es eines wahren Staatsmannes würdig, einen persönlichen Zwist mit auf die Wagschale zu legen, wenn es sich um das Wohl zweier großer Staaten handelt, die dazu geschaffen sind, in gutem Einvernehmen miteinander zu leben und von denen der eine dem andern im Jahre 1870 einen Dienst geleistet hat, den Sie nach Ihren eigenen Worten niemals zu vergessen erklärten? 2 Ich würde mir nicht erlaubt haben, Sie daran zu erinnern, aber die Dinge nehmen eine zu ernste Wendung, als daß ich Ihnen die Befürchtungen verhehlen dürfte, die mich erfüllen und deren Folgen für unsere beiden Länder unheilvoll werden könnten. Möge Gott uns davor bewahren und Sie erleuchten!

Die Gesundheit meiner Frau hat uns diese ganze letzte Zeit über zu ernsten Sorgen Veranlassung gegeben. Gebe Gott, daß die Heimatluft ihr helfen möge.

Seien Sie mir nicht böse, mein lieber Oheim, wegend es Inhalts dieses Briefes und bleiben Sie überzeugt von den Gefühlen unwandelbarer Anhänglichkeit und aufrichtiger Zuneigung

Ihres ganz ergebenen

Neffen und Freundes

Alexander.