Admiral Tirpitz über die Notwendigkeit einer deutschen Schlachtflotte

  seit 1897 Staatssekretär der Reichsmarine 

Zwei Gedankengänge bildeten sich damals heraus: die taktische Notwendigkeit einer Schlachtflotte, wenn wir überhaupt auf Seegeltung losstrebten und mit Zweck und Nutzen Schiffe bauen wollten; und die politische Notwendigkeit, für die unaufhaltsam und reißend anwachsenden deutschen Seeinteressen eine sie schützende Flotte zu schaffen. Die Flotte erschien mir niemals als Selbstzweck, sondern stets als eine Funktion der Seeinteressen. Ohne Seemacht blieb die deutsche Weltgeltung wie ein Weichtier ohne Schale. Dem Handel mußte die Flagge folgen, wie das andere, ältere Nationalstaaten längst begriffen hatten, als es bei uns erst zu dämmern begann; wie die Fortnightly Review 1893 bündig und richtig geschrieben hatte: "Der Handel erzeugt entweder eine Marine, welche stark genug ist, ihn zu schützen, oder er geht in die Hände von fremden Kaufleuten über, welche solchen Schutz genießen."

Eine gewisse Sorg- und Ahnungslosigkeit, das Vorherrschen innerer wirtschaftlicher und sozialer Händel verdunkelten der Masse des deutschen Volks noch diese Notwendigkeit. Der Kaiser hatte sie erkannt, wozu ihm sein häufiger Aufenthalt in England, wo er sich wie seine Geschwister halb Zuhause fühlte, dienlich war. Indessen wurde das Bestreben des Kaisers, den Sinn für Marineentwicklung zu wecken, beeinträchtigt durch seine Neigung zu geräuschvollern und verfrühtem weitpolitischem Auftreten, durch die vom Volk durchgespürte Schwierigkeit für ihn, sich in der Welt der Wirklichkeiten zu bewegen. Der Flottengedanke wurde im Volk noch vielfach mit Mißtrauen aufgenommen. Die Deutschen spürten, verwöhnt von dem Glück, in das die Bismarcksche Reichsschöpfung und das plötzliche Umsichgreifen unserer so lange zurückgestauten wirtschaftlichen Tüchtigkeit uns versetzt hatte, noch nicht genügend, daß unsre Entfaltung auf dem breiten Rücken des britischen Freihandels und der britischen Weltherrschaft sich auf Widerruf vollzog. Dem Wachstum unsrer Industrie verdankten wir das Wachstum unsrer physischen und materiellen Stärke. Wir nahmen jährlich fast um eine Million Menschen zu, das heißt gewannen auf dem unveränderlich engen Spielraum der heimischen Scholle alljährlich etwas, das dem Zuwachs einer Provinz gleichkam, und dies alles beruhte auf der Aufrechterhaltung unsres Ausfuhrhandels, der mangels eigener Seemacht ausschließlich vom Beheben der Fremden, d. h. der Konkurrenten abhing. Wir mußten nach Bismarck "entweder Waren ausführen oder Menschen", und es handelte sich bei dem Entschluß, Seemacht zu bilden, letzten Endes um nichts anderes als um den Versuch, eine sich nicht in eignen Siedelungskolonien, sondern in heimischen Werkstätten vermehrende Bevölkerung deutsch zu erhalten.

Es war die Frage, ob wir nach der fast schon vollendeten Aufteilung der Erde nicht zu spät daran wären; ob überhaupt jene Entfaltung, der wir unserem Rang unter den Großmächten verdankten, künstlich und auf die Dauer unhaltbar wäre, ob dem raschen Aufstieg nicht ein furchtbarer Niedergang folgen müßte. Die leicht zuzuschlagende "Offene Tür" war für uns dasselbe wie für die übrigen Weltmächte ihre weiten Flächen und unerschöpflichen Naturschätze. Dies und dazu unsre eingezwängte und gefährdete festländische Lage bestärkte mich in der Überzeugung, daß keine Zeit zu verlieren wäre, um den Versuch der Seemachtsbildung zu beginnen. Denn nur eine Flotte, welche Bündniswert für andere Großmächte darstellte, also eine leistungsfähige Schlachtflotte, konnte unsrer Diplomatie dasjenige Werkzeug an die Hand geben, das, zweckentsprechend genützt, unsre festländische Macht ergänzte. Ziel mußte sein die Errichtung einer Mächtekonstellation zur See, die Schädigungen und Angriffe auf unsre wirtschaftliche Blüte unwahrscheinlich machen und den trügerischen Glanz unsrer damaligen Weltpolitik zu einer wirklich selbständigen Weltstellung umwandeln würde ...

Bis 1866 lagen unsere Seeinteressen völlig darnieder: Seehandel, Exportindustrie,transatlantischeKolonien,Seefischerei,transatlantischesDeutschtum, Kriegsmarine. Was hiervon vorhanden war, hatte den Charakter der Parasitenexistenz. Von diesem Ausgang ist noch vieles übrig geblieben. Meiner Ansicht nach sinkt Deutschland im kommenden Jahrhundert schnell von seiner Großmachtstellung, wenn jetzt nicht energisch, ohne Zeitverlust und systematisch diese allgemeinen Seeinteressen vorwärts getrieben werden. Nicht zu geringem Grade auch deshalb, weil in der neuen großen nationalen Aufgabe und dem damit verbundenen Wirtschaftsgewinn ein starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokraten liegt ...

A. v. Tirpitz: Erinnerungen, Leipzig 1919, S. 50f.