|
Ein nachsichtiger Kritiker könnte
erläuternd hinzufügen, daß die wohlbekannten Geistes und
Temperamentseigenschaften, die den gegenwärtigen Herrscher Deutschlands
im Guten oder Bösen auszeichnen, nicht unwahrscheinlicherweise in hohem
Maße für den ziellosen, herrischen und oft unzweideutig aggressiven
Geist verantwortlich seien, der gegenwärtig auf jedem Gebiet des
deutschen öffentlichen Lebens, nicht nur in der Sphäre der auswärtigen
Politik, erkennbar ist, und daß dieser Geist, sowohl daheim wie draußen,
jene Kundgebungen der Unzufriedenheit und Sorge (alarm) hervorgerufen
hat, mit denen die Welt vertraut wird; daß Deutschland in der Tat nicht
wirklich weiß, worauf es hinzielt, und daß alle seine Exkursionen und
sein Alarmieren, alle seine heimlichen Intrigen nicht der stetigen
Ausgestaltung eines wohldurchdachten und unnachsichtig verfolgten
Systems der Politik dienen, weil sie nicht wirklich zu einem solchen
System gehören. Das ist eine für die deutsche Regierung nicht
schmeichelhafte Hypothese, und man muß zugeben, daß viel gegen ihre Gültigkeit
vorgebracht werden könnte. Aber es bleibt richtig, daß sich auf Grund
dieser Hypothese auch die meisten Tatsachen der gegenwärtigen Lage erklären
ließen ...
Deutschland hatte seinen Platz als
eine der führenden, wenn nicht gar als die erste der europäischen
Kontinentalmächte errungen. Doch über den europäischen Großmächten
und jenseits von ihnen schienen die "Weltmächte" zu stehen.
Es war auf einmal klar, daß auch Deutschland eine "Weltmacht"
werden mußte ... Und so wurden denn Kolonien gegründet an Plätzen,
die sich noch als herrenlos vorfanden, oder aus denen andere durch die
energische Geltendmachung eines deutschen Verlangens nach "einem
Platz an der Sonne" verdrängt werden konnten: Damaraland, Kamerun,
Togoland, DeutschOstafrika, NeuGuinea und andere Inselgruppen im Stillen
Ozean ... Journalisten, Geographen, Nationalökonomen, Handels
und Schiffahrtsfirmen sowie die ganze Masse der Gebildeten und
Ungebildeten der öffentlichen Meinung erklären unaufhörlich mit einer
Stimme: Wir müssen wirkliche Kolonien haben, wo deutsche
Auswanderer sich ansiedeln und die nationalen Ideale des Vaterlands
verbreiten können, und wir müssen eine Flotte und
Kohlenstationen haben, um die Kolonien zusammenzuhalten, zu deren Erwerb
wir genötigt sind. Auf die Frage: "Warum müssen?" hat
man die Antwort bereit: "Ein gesunder und mächtiger Staat wie
Deutschland mit seinen 60 000 000 Einwohnern muß sich ausdehnen, er
kann nicht stehenbleiben, er muß Gebiete haben, nach denen seine überschüssige
Bevölkerung auswandern kann, ohne ihre Nationalität aufzugeben."
Wenn man dagegen einwendet, daß die Welt jetzt tatsächlich unter unabhängige
Staaten aufgeteilt ist und daß Gebiete für Kolonisationszwecke nicht
zu haben sind außer durch Wegnahme vom rechtmäßigen Besitzer, lautet
die Antwort wiederum: "Wir können uns auf solche Erwägungen nicht
einlassen. Not kennt kein Gebot. Die Welt gehört den Starken. Eine
kraftvolle Nation kann ihr Wachstum nicht durch blindes Festhalten am
Status quo hemmen lassen. Wir haben keine Absichten auf anderer Leute
Besitzungen, aber wo Staaten zu schwach sind, um ihr Gebiet in der bestmöglichen
Weise zu verwerten, ist es die offenbare Bestimmung derer, die dies tun
können und werden, an ihre Stelle zu treten ...
Ein kluger deutscher Staatsmann würde
die Grenzen erkennen, auf die sich jede Weltpolitik beschränken muß,
wenn sie keinen feindlichen Zusammenschluß sämtlicher Nationen in
Waffen herausfordern soll. Er würde sich darüber klar sein, daß der
Bau des Alldeutschtums mit seinen Außenbastionen in den Niederlanden,
in den skandinavischen Ländern, in der Schweiz, in den deutschen
Provinzen Österreichs und am Adriatischen Meer niemals auf einer andern
Grundlage als den Trümmern der Freiheiten Europas aufgeführt werden könnte.
Es muß anerkannt werden, daß eine deutsche Vorherrschaft zur See mit
dem Bestehen des britischen Reiches unvereinbar ist, und selbst wenn
dies Reich verschwände, würde die Vereinigung der größten Militär
mit der größten Seemacht in einem Staate die Welt zwingen, sich
zur Beseitigung eines solchen Alps zusammenzuschließen ...
Wenn man es für nötig hält, eine
Theorie zu formulieren und akzeptieren, die auf sämtliche
festgestellten Tatsachen der deutschen Außenpolitik paßt, dann muß
die Wahl zwischen den beiden hier vorgetragenen Hypothesen getroffen
werden:
Entweder strebt Deutschland
geschlossen eine allgemeine politische Hegemonie und maritime Überlegenheit
an, die die Unabhängigkeit seiner Nachbarn und schließlich die
Existenz Englands bedroht.
Oder Deutschland hat, frei von einer
derart scharf ausgeprägten Ambition und für den Augenblick nur darauf
bedacht, seine rechtmäßige Stellung und seinen Einfluß als eine der führenden
Mächte im Rate der Nationen zu benutzen, das Bestreben, seinen Außenhandel
zu fördern, die Segnungen deutscher Kultur auszubreiten, das Betätigungsfeld
seiner nationalen Kräfte zu erweitern und überall in der Welt neue
deutsche Interessen zu schaffen, wo und wann immer sich eine friedliche
Gelegenheit darbietet, wobei es einer ungewissen Zukunft die
Entscheidung überläßt, ob nicht der Eintritt großer Veränderungen
in der Welt Deutschland eines Tages einen größeren Anteil an direkter
politischer Aktion auf Gebieten zuweisen wird, die jetzt nicht zu seinen
Besitzungen gehören, und zwar ohne jene Verletzung der feststehenden
Rechte anderer Länder, die unter den jetzigen politischen Verhältnissen
mit jeder solchen Aktion verbunden wäre. In beiden Fällen wäre
Deutschland augenscheinlich klug, eine solch mächtige Flotte zu bauen,
wie es dies nur vermag ...
Solange England dem allgemeinen
Grundsatz der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Macht treu
bleibt, wäre seinen Interessen nicht damit gedient, wenn Deutschland
auf den Rang einer schwachen Macht herabgedrückt würde, da dies leicht
zu einem französischrussischen Übergewicht führen könnte, das für
das britische Reich ebenso furchtbar, wenn nicht noch furchtbarer wäre.
Es gibt keine bestehenden territorialen oder sonstigen deutschen Rechte,
die England vermindert zu sehen wünschen könnte. Solange die Aktion
Deutschlands daher die Grenze eines berechtigten Schutzes bestehender
Rechte nicht überschreitet, kann es immer auf die Sympathie und das
Wohlwollen, ja sogar auf die moralische Unterstützung Englands rechnen.
Zit. nach Die Britischen Amtlichen
Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 18981914, autonsierte dt.
Ausgabe hrsg. v. H. Lutz, Bd. 3, Stuttgart 1929, S. 645ff.
|