Crowe Memorandum zur Außenpolitik und zur Lage Englands 1907 - geheim

 

 

Ein nachsichtiger Kritiker könnte erläuternd hinzufügen, daß die wohlbekannten Geistes und Temperamentseigenschaften, die den gegenwärtigen Herrscher Deutschlands im Guten oder Bösen auszeichnen, nicht unwahrscheinlicherweise in hohem Maße für den ziellosen, herrischen und oft unzweideutig aggressiven Geist verantwortlich seien, der gegenwärtig auf jedem Gebiet des deutschen öffentlichen Lebens, nicht nur in der Sphäre der auswärtigen Politik, erkennbar ist, und daß dieser Geist, sowohl daheim wie draußen, jene Kundgebungen der Unzufriedenheit und Sorge (alarm) hervorgerufen hat, mit denen die Welt vertraut wird; daß Deutschland in der Tat nicht wirklich weiß, worauf es hinzielt, und daß alle seine Exkursionen und sein Alarmieren, alle seine heimlichen Intrigen nicht der stetigen Ausgestaltung eines wohldurchdachten und unnachsichtig verfolgten Systems der Politik dienen, weil sie nicht wirklich zu einem solchen System gehören. Das ist eine für die deutsche Regierung nicht schmeichelhafte Hypothese, und man muß zugeben, daß viel gegen ihre Gültigkeit vorgebracht werden könnte. Aber es bleibt richtig, daß sich auf Grund dieser Hypothese auch die meisten Tatsachen der gegenwärtigen Lage erklären ließen ...

Deutschland hatte seinen Platz als eine der führenden, wenn nicht gar als die erste der europäischen Kontinentalmächte errungen. Doch über den europäischen Großmächten und jenseits von ihnen schienen die "Weltmächte" zu stehen. Es war auf einmal klar, daß auch Deutschland eine "Weltmacht" werden mußte ... Und so wurden denn Kolonien gegründet an Plätzen, die sich noch als herrenlos vorfanden, oder aus denen andere durch die energische Geltendmachung eines deutschen Verlangens nach "einem Platz an der Sonne" verdrängt werden konnten: Damaraland, Kamerun, Togoland, DeutschOstafrika, NeuGuinea und andere Inselgruppen im Stillen Ozean ... Journalisten, Geographen, Nationalökonomen, Handels und Schiffahrtsfirmen sowie die ganze Masse der Gebildeten und Ungebildeten der öffentlichen Meinung erklären unaufhörlich mit einer Stimme: Wir müssen wirkliche Kolonien haben, wo deutsche Auswanderer sich ansiedeln und die nationalen Ideale des Vaterlands verbreiten können, und wir müssen eine Flotte und Kohlenstationen haben, um die Kolonien zusammenzuhalten, zu deren Erwerb wir genötigt sind. Auf die Frage: "Warum müssen?" hat man die Antwort bereit: "Ein gesunder und mächtiger Staat wie Deutschland mit seinen 60 000 000 Einwohnern muß sich ausdehnen, er kann nicht stehenbleiben, er muß Gebiete haben, nach denen seine überschüssige Bevölkerung auswandern kann, ohne ihre Nationalität aufzugeben." Wenn man dagegen einwendet, daß die Welt jetzt tatsächlich unter unabhängige Staaten aufgeteilt ist und daß Gebiete für Kolonisationszwecke nicht zu haben sind außer durch Wegnahme vom rechtmäßigen Besitzer, lautet die Antwort wiederum: "Wir können uns auf solche Erwägungen nicht einlassen. Not kennt kein Gebot. Die Welt gehört den Starken. Eine kraftvolle Nation kann ihr Wachstum nicht durch blindes Festhalten am Status quo hemmen lassen. Wir haben keine Absichten auf anderer Leute Besitzungen, aber wo Staaten zu schwach sind, um ihr Gebiet in der bestmöglichen Weise zu verwerten, ist es die offenbare Bestimmung derer, die dies tun können und werden, an ihre Stelle zu treten ...

Ein kluger deutscher Staatsmann würde die Grenzen erkennen, auf die sich jede Weltpolitik beschränken muß, wenn sie keinen feindlichen Zusammenschluß sämtlicher Nationen in Waffen herausfordern soll. Er würde sich darüber klar sein, daß der Bau des Alldeutschtums mit seinen Außenbastionen in den Niederlanden, in den skandinavischen Ländern, in der Schweiz, in den deutschen Provinzen Österreichs und am Adriatischen Meer niemals auf einer andern Grundlage als den Trümmern der Freiheiten Europas aufgeführt werden könnte. Es muß anerkannt werden, daß eine deutsche Vorherrschaft zur See mit dem Bestehen des britischen Reiches unvereinbar ist, und selbst wenn dies Reich verschwände, würde die Vereinigung der größten Militär mit der größten Seemacht in einem Staate die Welt zwingen, sich zur Beseitigung eines solchen Alps zusammenzuschließen ...

Wenn man es für nötig hält, eine Theorie zu formulieren und akzeptieren, die auf sämtliche festgestellten Tatsachen der deutschen Außenpolitik paßt, dann muß die Wahl zwischen den beiden hier vorgetragenen Hypothesen getroffen werden:

Entweder strebt Deutschland geschlossen eine allgemeine politische Hegemonie und maritime Überlegenheit an, die die Unabhängigkeit seiner Nachbarn und schließlich die Existenz Englands bedroht.

Oder Deutschland hat, frei von einer derart scharf ausgeprägten Ambition und für den Augenblick nur darauf bedacht, seine rechtmäßige Stellung und seinen Einfluß als eine der führenden Mächte im Rate der Nationen zu benutzen, das Bestreben, seinen Außenhandel zu fördern, die Segnungen deutscher Kultur auszubreiten, das Betätigungsfeld seiner nationalen Kräfte zu erweitern und überall in der Welt neue deutsche Interessen zu schaffen, wo und wann immer sich eine friedliche Gelegenheit darbietet, wobei es einer ungewissen Zukunft die Entscheidung überläßt, ob nicht der Eintritt großer Veränderungen in der Welt Deutschland eines Tages einen größeren Anteil an direkter politischer Aktion auf Gebieten zuweisen wird, die jetzt nicht zu seinen Besitzungen gehören, und zwar ohne jene Verletzung der feststehenden Rechte anderer Länder, die unter den jetzigen politischen Verhältnissen mit jeder solchen Aktion verbunden wäre. In beiden Fällen wäre Deutschland augenscheinlich klug, eine solch mächtige Flotte zu bauen, wie es dies nur vermag ...

Solange England dem allgemeinen Grundsatz der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Macht treu bleibt, wäre seinen Interessen nicht damit gedient, wenn Deutschland auf den Rang einer schwachen Macht herabgedrückt würde, da dies leicht zu einem französischrussischen Übergewicht führen könnte, das für das britische Reich ebenso furchtbar, wenn nicht noch furchtbarer wäre. Es gibt keine bestehenden territorialen oder sonstigen deutschen Rechte, die England vermindert zu sehen wünschen könnte. Solange die Aktion Deutschlands daher die Grenze eines berechtigten Schutzes bestehender Rechte nicht überschreitet, kann es immer auf die Sympathie und das Wohlwollen, ja sogar auf die moralische Unterstützung Englands rechnen.

Zit. nach Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 18981914, autonsierte dt. Ausgabe hrsg. v. H. Lutz, Bd. 3, Stuttgart 1929, S. 645ff.