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Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von 1959,
beschlossen auf dem Außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom
13. bis 15. November 1959:
"Das ist der W i d e r s p r u c h unserer Zeit, daß der Mensch die
Urkraft des Atoms entfesselte und sich jetzt vor den Folgen fürchtet; daß der
Mensch die Produktivkräfte aufs höchste entwickelte, ungeheure Reichtümer
ansammelte, ohne allen einen gerechten Anteil an dieser gemeinsamen Leistung zu
verschaffen; daß der Mensch sich die Räume dieser Erde unterwarf, die
Kontinente zueinander rückte, nun aber in Waffen starrende Machtblöcke die
Völker mehr voneinander trennen als je zuvor und totalitäre Systeme seine
Freiheit bedrohen.
Darum fürchtet der Mensch, gewarnt durch die Zerstörungskriege und Barbareien
seiner jüngsten Vergangenheit, die eigene Zukunft, weil in jedem Augenblick an
jedem Punkt der Welt durch menschliches Versagen das Chaos der Selbstvernichtung
ausgelöst werden kann.
Aber das ist auch die H o f f n u n g dieser Zeit, daß der Mensch im atomaren
Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle
schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur
für friedliche Zwecke einsetzt;
daß der Mensch den Weltfrieden sichern kann, wenn er die internationale
Rechtsordnung stärkt, das Mißtrauen zwischen den Völkern mindert und das
Wettrüsten verhindert;
daß der Mensch dann zum erstenmal in seiner Geschichte jedem die Entfaltung
seiner Persönlichkeit in einer gesicherten Demokratie ermöglichen kann zu
einem Leben in kultureller Vielfalt, jenseits von Not und Furcht.
Diesen Widerspruch aufzulösen, sind wir M e n -
s c h e n aufgerufen. In unsere Hand ist die Verantwortung gelegt für eine
glückliche Zukunft oder für die Selbstzerstörung der Menschheit.
Nur durch eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft öffnet der Mensch den
Weg in seine Freiheit.
Diese neue und bessere Ordnung erstrebt der demokratische Sozialismus.
Grundwerte des Sozialismus
Die Sozialisten erstreben eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine
Persönlichkeit in Freiheit entfalten und als dienendes Glied der Gemeinschaft
verantwortlich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der
Menschheit mitwirken kann.
Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander Denn die Würde des Menschen liegt
im Anspruch auf Selbstverantwortung ebenso wie in der Anerkennung des Rechtes
seiner Mitmenschen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und an der Gestaltung der
Gesellschaft gleichberechtigt mitzuwirken.
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die aus der gemeinsamen Verbundenheit
folgende gegenseitige Verpflichtung, sind die Grundwerte des sozialistischen
Wollens.
Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, im
Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten
Wahrheiten verkünden - nicht aus Verständnislosigkeit und nicht aus
Gleichgültigkeit gegenüber den Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten,
sondern aus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren
Inhalt weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen haben.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die Partei der Freiheit des
Geistes. Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens-
und Denkrichtungen kommen. Ihre Übereinstimmung beruht auf gemeinsamen
sittlichen Grundwerten und gleichen politischen Zielen. Die Sozialdemokratische
Partei erstrebt eine Lebensordnung im Geiste dieser Grundwerte. Der Sozialismus
ist eine dauernde Aufgabe - Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu
bewahren und sich in ihnen zu bewähren.
Grundforderungen für eine menschenwürdige Gesellschaft
Aus der Entscheidung für den demokratischen Sozialismus ergeben sich
Grundforderungen, die in einer menschenwürdigen Gesellschaft erfüllt sein
müssen:
Alle Völker müssen sich einer internationalen Rechtsordnung unterwerfen, die
über eine ausreichende Exekutive verfügt. Der Krieg darf kein Mittel der
Politik sein.
Alle Völker müssen die gleiche Chance haben, am Wohlstand der Welt
teilzunehmen. Entwicklungsländer haben Anspruch auf die Solidarität der
anderen Völker.
Wir streiten für die Demokratie. Sie muß die allgemeine Staats- und
Lebensordnung werden, weil sie allein Ausdruck der Achtung vor der Würde des
Menschen und seiner Eigenverantwortung ist.
Wir widerstehen jeder Diktatur, jeder Art totalitärer und autoritärer
Herrschaft; denn diese mißachten die Würde des Menschen, vernichten seine
Freiheit und zerstören das Recht. Sozialismus wird nur durch die Demokratie
verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt.
Zu Unrecht berufen sich die Kommunisten auf sozialistische Traditionen. In
Wirklichkeit haben sie das sozialistische Gedankengut verfälscht. Die
Sozialisten wollen Freiheit und Gerechtigkeit verwirklichen, während die
Kommunisten die Zerrissenheit der Gesellschaft ausnutzen, um die Diktatur ihrer
Partei zu errichten.
Im demokratischen Staat muß sich jede Macht öffentlicher Kontrolle fügen. Das
Interesse der Gesamtheit muß über dem Einzelinteresse stehen. In der vom
Gewinn- und Machtstreben bestimmten Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie,
soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet. Der demokratische
Sozialismus erstrebt darum eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung. Alle
Vorrechte im Zugang zu Bildungseinrichtungen müssen beseitigt werden. Nur
Begabung und Leistung sollen jedem den Aufstieg ermöglichen.
Freiheit und Gerechtigkeit lassen sich durch Institutionen allein nicht sichern.
Alle Lebensbereiche werden zunehmend technisiert und organisiert. Dadurch
entstehen immer neue Abhängigkeiten, die die Freiheit bedrohen. Nur ein
vielgestaltiges wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben regt die
schöpferischen Kräfte des einzelnen an, ohne die alles geistige Leben
erstarrt.
Freiheit und Demokratie in der industriellen Gesellschaft sind nur denkbar, wenn
eine ständig wachsende Zahl von Menschen ein gesellschaftliches Bewußtsein
entwickelt und zur Mitverantwortung bereit ist. Ein entscheidendes Mittel dazu
ist politische Bildung im weitesten Sinne. Sie ist ein wesentliches Ziel aller
Erziehung in unserer Zeit.
Die staatliche Ordnung
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands lebt und wirkt im ganzen deutschen
Volke. Sie steht zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In seinem Sinne
erstrebt sie die Einheit Deutschlands in gesicherter Freiheit.
Die Spaltung Deutschlands bedroht den Frieden. Ihre Überwindung ist
lebensnotwendig für das deutsche Volk.
Erst in einem wiedervereinigten Deutschland wird das ganze Volk in freier
Selbstbestimmung Inhalt und Form von Staat und Gesellschaft gestalten
können.
Das Leben des Menschen, seine Würde und sein Gewissen sind dem Staate
vorgegeben. Jeder Bürger hat die Überzeugung seiner Mitmenschen zu achten. Der
Staat ist verpflichtet, die Freiheit des Glaubens und des Gewissens zu
sichern.
Der Staat soll Vorbedingungen dafür schaffen, daß der einzelne sich in freier
Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Verpflichtung entfalten kann. Die
Grundrechte sollen nicht nur die Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat
sichern, sie sollen als gemeinschaftsbildende Rechte den Staat
mitbegründen.
Als Sozialstaat hat er für seine Bürger Daseinsvorsorge zu treffen, um jedem
die eigenverantwortliche Selbstbestimmung zu ermöglichen und die Entwicklung
einer freiheitlichen Gesellschaft zu fördern.
Durch Verschmelzung des demokratischen mit dem sozialen und dem Rechtsgedanken
soll der Staat zum Kulturstaat werden, der seine Inhalte von den
gesellschaftlichen Kräften empfängt und dem schöpferischen Geist der Menschen
dient.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bekennt sich zur Demokratie, in der
die Staatsgewalt vom Volke ausgeht und die Regierung jederzeit dem Parlament
verantwortlich und sich bewußt ist, daß sie ständig seines Vertrauens bedarf.
In der Demokratie müssen die Rechte der Minderheit neben den Rechten der
Mehrheit gewahrt werden. Regierung und Opposition haben verschiedene Aufgaben
von gleichem Rang; beide tragen Verantwortung für den Staat.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands will in gleichberechtigtem
Wettstreit mit den anderen demokratischen Parteien die Mehrheit des Volkes
gewinnen, um Staat und Gesellschaft nach den Grundforderungen des demokratischen
Sozialismus zu formen.
Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung sind getrennt voneinander dem Wohle
des Ganzen verpflichtet. Die Gliederung der öffentlichen Gewalt in Bund,
Ländern und Gemeinden soll die Macht verteilen, die Freiheit stärken und dem
Bürger durch Mitbestimmung und Mitverantwortung vielfachen Zugang zu den
Institutionen der Demokratie geben. Freie Gemeinden sind unerläßlich für eine
lebendige Demokratie. Deshalb bekennt sich die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands zu den Grundsätzen der Gemeindefreiheit einschließlich der
bürgerschaftlichen Selbstverwaltung, die weiter auszubauen und auch finanziell
zu sichern sind.
Die Verbände, in denen sich Menschen der verschiedenen Gruppen und Schichten zu
gemeinsamen Zwecken zusammenschließen, sind notwendige Einrichtungen der
modernen Gesellschaft. Sie müssen eine demokratische Ordnung haben. Je
machtvoller sie sind, desto größer ist ihre Verantwortung, aber auch die
Gefahr des Machtmißbrauchs. Die Parlamente, die Verwaltung und die
Rechtsprechung dürfen nicht unter den einseitigen Einfluß von
Interessenvertretungen fallen.
Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film erfüllen öffentliche Aufgaben. Sie
müssen in Freiheit und Unabhängigkeit überall und unbehindert Informationen
sammeln, bearbeiten, verbreiten und unter eigener Verantwortung Meinungen bilden
und aussprechen dürfen. Rundfunk und Fernsehen müssen ihren
öffentlich-rechtlichen Charakter behalten. Sie müssen
freiheitlich-demokratisch geleitet und gegen Interessentendruck gesichert
sein.
Die Richter bedürfen der äußeren und inneren Unabhängigkeit, um im Namen des
Volkes allein dem Recht zu dienen. An der Rechtspflege sind ehrenamtliche
Richter gleichberechtigt zu beteiligen. Nur unabhängige Richter dürfen
Kriminalstrafen aussprechen. Wirtschaftliche Überlegenheit oder Schwäche
dürfen keine Folgen für den Rechtsweg oder für die Rechtsprechung haben. Die
Gesetze müssen der gesellschaftlichen Entwicklung zeitgerecht angeglichen
werden, damit sie nicht zum Rechtsbewußtsein in Widerspruch geraten, sondern
der Verwirklichung der Rechtsidee dienen.
Landesverteidigung
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bekennt sich zur Verteidigung der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie bejaht die
Landesverteidigung.
Die Landesverteidigung muß der politischen und geographischen Lage Deutschlands
gemäß sein und daher die Grenzen wahren, die zur Schaffung der Voraussetzungen
für eine internationale Entspannung, für eine wirksame kontrollierte
Abrüstung und für die Wiedervereinigung Deutschlands eingehalten werden
müssen. Der Schutz der Zivilbevölkerung ist wesentlicher Bestandteil der
Verteidigung des Landes. Die Sozialdemokratische Partei fordert die
völkerrechtliche Ächtung der Massenvernichtungsmittel auf der ganzen
Welt.
Die Bundesrepublik Deutschland darf atomare und andere Massenvernichtungsmittel
weder herstellen noch verwenden.
Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Einbeziehung ganz Deutschlands in
eine europäische Zone der Entspannung und der kontrollierten Begrenzung der
Rüstung, die im Zuge der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit
von fremden Truppen geräumt wird und in der Atomwaffen und andere
Massenvernichtungsmittel weder hergestellt noch gelagert oder verwendet werden
dürfen. Die Streitkräfte müssen der politischen Führung durch die Regierung
und der Kontrolle durch das Parlament unterstellt sein. Zwischen den Soldaten
und allen demokratischen Kräften des Volkes muß ein Verhältnis des Vertrauens
bestehen. Der Soldat bleibt auch in Uniform Staatsbürger.
Die Streitkräfte dürfen nur der Landesverteidigung dienen.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands stellt sich schützend vor jeden
Bürger, der aus Gewissensgründen den Dienst mit der Waffe oder an
Massenvernichtungsmitteln verweigert.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands fordert eine allgemeine und
kontrollierte Abrüstung und eine mit Machtmitteln ausgestattete internationale
Rechtsordnung, die nationale Landesverteidigungen ablösen wird.
Wirtschafts- und Sozialordnung
Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist stetig wachsender Wohlstand und
eine gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft, ein Leben in
Freiheit ohne unwürdige Abhängigkeit und ohne Ausbeutung.
Stetiger Wirtschaftsaufschwung
Die zweite industrielle Revolution schafft Voraussetzungen, den allgemeinen
Lebensstandard stärker als bisher zu erhöhen und die Not und das Elend zu
beseitigen, die noch immer viele Menschen bedrücken.
Die Wirtschaftspolitik muß auf der Grundlage einer stabilen Währung die
Vollbeschäftigung sichern, die volkswirtschaftliche Produktivität steigern und
den allgemeinen Wohlstand erhöhen.
Um alle Menschen am steigenden Wohlstand zu beteiligen, muß die Wirtschaft den
ständigen Strukturveränderungen planmäßig angepaßt werden, damit eine
ausgeglichene Wirtschaftsentwicklung erreicht wird.
Eine solche Politik bedarf der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und des
Nationalbudgets. Das Nationalbudget wird vom Parlament beschlossen. Es ist
verpflichtend für die Regierungspolitik, eine wichtige Grundlage für die
autonome Notenbankpolitik und gibt Richtpunkte für die Wirtschaft, die das
Recht zur freien Entscheidung behält.
Der moderne Staat beeinflußt die Wirtschaft stetig durch seine Entscheidungen
über Steuern und Finanzen, über das Geld- und Kreditwesen, seine Zoll-,
Handels-, Sozial- und Preispolitik, seine öffentlichen Aufträge sowie die
Landwirtschafts- und Wohnbaupolitik. Mehr als ein Drittel des Sozialprodukts
geht auf diese Weise durch die öffentliche Hand. Es ist also nicht die Frage,
ob in der Wirtschaft Disposition und Planung zweckmäßig sind, sondern wer
diese Disposition trifft und zu wessen Gunsten sie wirkt. Dieser Verantwortung
für den Wirtschaftsablauf kann sich der Staat nicht entziehen. Er ist
verantwortlich für eine vorausschauende Konjunkturpolitik und soll sich im
wesentlichen auf Methoden der mittelbaren Beeinflussung der Wirtschaft
beschränken.
Freie Konsumwahl und freie Arbeitsplatzwahl sind entscheidende Grundlagen,
freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente
sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. Die Autonomie der Arbeitnehmer- und
Arbeitgeberverbände beim Abschluß von Tarifverträgen ist ein wesentlicher
Bestandteil freiheitlicher Ordnung. Totalitäre Zwangswirtschaft zerstört die
Freiheit. Deshalb bejaht die Sozialdemokratische Partei den freien Markt, wo
immer wirklich Wettbewerb herrscht. Wo aber Märkte unter die Vorherrschaft von
einzelnen oder von Gruppen geraten, bedarf es vielfältiger Maßnahmen, um die
Freiheit in der Wirtschaft zu erhalten. Wettbewerb soweit wie möglich Planung
soweit wie nötig!
Eigentum und Macht
Ein wesentliches Kennzeichen der modernen Wirtschaft ist der ständig sich
verstärkende Konzentrationsprozeß. Die Großunternehmen bestimmen nicht nur
entscheidend die Entwicklung der Wirtschaft und des Lebensstandards, sie
verändern auch die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft:
Wer in den Großorganisationen der Wirtschaft die Verfügung über
Millionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, der wirtschaftet
nicht nur, er übt Herrschaftsmacht über Menschen aus; die Abhängigkeit der
Arbeiter und Angestellten geht weit über das Ökonomisch-Materielle
hinaus.
Wo das Großunternehmen vorherrscht, gibt es keinen freien Wettbewerb. Wer nicht
über gleiche Macht verfügt, hat nicht die gleiche Entfaltungsmöglichkeit, er
ist mehr oder minder unfrei. Die schwächste Stellung in der Wirtschaft hat der
Mensch als Verbraucher.
Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die
führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat und Politik, der
mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren
Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht.
Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und
Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der
menschlichen Gesellschaft sind.
Die Bändigung der Macht der Großwirtschaft ist darum zentrale Aufgabe einer
freiheitlichen Wirtschaftspolitik. Staat und Gesellschaft dürfen nicht zur
Beute mächtiger Interessengruppen werden.
Das private Eigentum an Produktionsmitteln hat Anspruch auf Schutz und
Förderung, soweit es nicht den Aufbau einer gerechten Sozialordnung hindert.
Leistungsfähige mittlere und kleine Unternehmen sind zu stärken, damit sie die
wirtschaftliche Auseinandersetzung mit den Großunternehmen bestehen
können.
Wettbewerb durch öffentliche Unternehmen ist ein entscheidendes Mittel zur
Verhütung privater Marktbeherrschung. Durch solche Unternehmen soll den
Interessen der Allgemeinheit Geltung verschafft werden. Sie werden dort zur
Notwendigkeit, wo aus natürlichen oder technischen Gründen unerläßliche
Leistungen für die Allgemeinheit nur unter Ausschluß eines Wettbewerbs
wirtschaftlich vernünftig erbracht werden können.
Die Unternehmen der freien Gemeinwirtschaft, die sich am Bedarf und nicht am
privaten Erwerbsstreben orientieren, wirken preisregulierend und helfen dem
Verbraucher. Sie erfüllen eine wertvolle Funktion in der demokratischen
Gesellschaft und haben Anspruch auf Förderung.
Eine weitgehende Publizität muß der Öffentlichkeit Einblick in die
Machtstruktur der Wirtschaft und in die Wirtschaftsgebarung der Unternehmen
verschaffen, damit die öffentliche Meinung gegen Machtmißbrauch mobilisiert
werden kann.
Wirksame öffentliche Kontrolle muß Machtmißbrauch der Wirtschaft verhindern.
Ihre wichtigsten Mittel sind Investitionskontrolle und Kontrolle
marktbeherrschender Kräfte.
Gemeineigentum ist eine legitime Form der öffentlichen Kontrolle, auf die kein
moderner Staat verzichtet. Sie dient der Bewahrung der Freiheit vor der
Übermacht großer Wirtschaftsgebilde. In der Großwirtschaft ist die
Verfügungsgewalt überwiegend Managern zugefallen, die ihrerseits anonymen
Mächten dienen. Damit hat das Privateigentum an den Produktionsmitteln hier
weitgehend seine Verfügungsgewalt verloren. Das zentrale Problem heißt heute:
Wirtschaftliche Macht. Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der
wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist
Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig.
Jede Zusammenballung wirtschaftlicher Macht, auch die in Staatshand, birgt
Gefahren in sich. Deshalb soll das Gemeineigentum nach den Grundsätzen der
Selbstverwaltung und der Dezentralisierung geordnet werden. In seinen
Verwaltungsorganen müssen die Interessen der Arbeiter und Angestellten ebenso
wie das öffentliche Interesse und das der Verbraucher vertreten sein. Nicht
durch zentrale Bürokratie, sondern durch verantwortungsbewußtes Zusammenwirken
aller Beteiligten wird der Gemeinschaft am besten gedient.
Einkommens- und Vermögensverteilung
Die Marktwirtschaft gewährleistet von sich aus keine gerechte Einkommens- und
Vermögensverteilung. Dazu bedarf es einer zielbewußten Einkommens- und
Vermögenspolitik.
Einkommen und Vermögen sind ungerecht verteilt. Das ist nicht nur die Folge
massenhafter Vermögensvernichtung durch Krise, Krieg und Inflation, sondern im
wesentlichen die Schuld einer Wirtschafts- und Steuerpolitik, die die
Einkommens- und Vermögensbildung in wenigen Händen begünstigt und die bisher
Vermögenslosen benachteiligt.
Die Sozialdemokratische Partei will Lebensbedingungen schaffen, unter denen alle
Menschen in freier Entschließung aus steigendem Einkommen eigenes Vermögen
bilden können. Das setzt eine stetige Erhöhung des Sozialprodukts bei
gerechter Verteilung voraus.
Die Lohn- und Gehaltspolitik ist ein geeignetes und notwendiges Mittel, um
Einkommen und Vermögen gerechter zu verteilen.
Geeignete Maßnahmen sollen dafür sorgen, daß ein angemessener Anteil des
ständigen Zuwachses am Betriebsvermögen der Großwirtschaft als Eigentum breit
gestreut oder gemeinschaftlichen Zwecken dienstbar gemacht wird. Es ist ein
Zeichen unserer Zeit, daß sich das private Wohlleben privilegierter Schichten
schrankenlos entfaltet, während wichtige Gemeinschaftsaufgaben, vor allem
Wissenschaft, Forschung und Erziehung, in einer Weise vernachlässigt werden,
die einer Kulturnation unwürdig ist.
Agrarwirtschaft
Die Grundsätze sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik gelten auch für die
Landwirtschaft. Die Struktur der Landwirtschaft und die Abhängigkeit ihrer
Produktion von unbeeinflußbaren Naturfaktoren erfordern jedoch besondere
Maßnahmen.
Das private Eigentum des Bauern am Boden wird bejaht, Die leistungsfähigen
Familienbetriebe müssen durch ein neuzeitliches Boden- und Pachtrecht
geschützt werden. Sie sind wirtschaftlich und sozial zu stärken.
Die Förderung des Genossenschaftswesens ist der beste Weg. die
Leistungsfähigkeit der kleinen und mittleren Betriebe unter Wahrung ihrer
Selbständigkeit zu steigern.
Die Landwirtschaft muß sich den strukturellen Veränderungen der
Gesamtwirtschaft anpassen, um ihren vollen Beitrag zur Entwicklung der
Gesamtwirtschaft leisten und den in ihr tätigen Menschen einen angemessenen
Lebensstandard sichern zu können. Diese Veränderungen werden nicht nur durch
den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt, sondern durch die Wandlungen der
Standortbedingungen im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit und durch
steigende Verflechtung der deutschen mit der Wirtschaft der übrigen Welt
bestimmt. Es ist eine öffentliche Aufgabe, die Modernisierung der
Landwirtschaft und ihre Leistungsfähigkeit zu fördern.
Der landwirtschaftlichen Bevölkerung ist am besten gedient, wenn sie in eine
Gesamtwirtschaft von hoher Gesamtproduktivität und breiter Massenkaufkraft
eingeordnet ist. Die zur Sicherung des landwirtschaftlichen Einkommens
erforderliche Markt- und Preispolitik (Marktordnung) muß die Interessen der
Verbraucher und der Volkswirtschaft berücksichtigen.
Die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Lage der gesamten Landbevölkerung
ist zu verbessern. Der Rückstand in der sozialen Gesetzgebung muß beseitigt
werden.
Die Gewerkschaften in der Wirtschaft
Alle Arbeiter, Angestellten und Beamten haben das Recht, sich in Gewerkschaften
zusammenzuschließen. In der heutigen Wirtschaft sind die Arbeitnehmer denen
ausgeliefert, die die Kommandostellen der Unternehmen und ihrer Verbände
besetzen, wenn sie ihnen nicht in unabhängigen Gewerkschaften ihre
solidarische, demokratisch geordnete Kraft entgegenstellen, um die
Arbeitsbedingungen frei vereinbaren zu können. Das Streikrecht gehört zu den
selbstverständlichen Grundrechten der Arbeiter und Angestellten.
Die Gewerkschaften kämpfen um einen gerechten Anteil der Arbeitnehmer am Ertrag
der gesellschaftlichen Arbeit und und das Recht auf Mitbestimmung im
wirtschaftlichen und sozialen Leben.
Sie kämpfen um größere Freiheit und handeln als Vertreter aller arbeitenden
Menschen. Sie sind damit wesentliche Träger des ständigen
Demokratisierungsprozesses, Jeden Arbeitnehmer zu ständiger Mitarbeit fähig zu
machen und dafür zu sorgen, daß er diese Fähigkeiten nutzen kann, ist eine
große Aufgabe der Gewerkschaften.
Die Arbeiter und Angestellten, die den entscheidenden Beitrag zum Ergebnis der
Wirtschaft leisten, sind bisher von einer wirksamen Mitbestimmung
ausgeschlossen. Demokratie aber verlangt Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den
Betrieben und in der gesamten Wirtschaft. Der Arbeitnehmer muß aus einem
Wirtschaftsuntertan zu einem Wirtschaftsbürger werden.
Die Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie und im Kohlenbergbau ist ein
Anfang zu einer Neuordnung der Wirtschaft. Sie ist zu einer demokratischen
Unternehmensverfassung für die Großwirtschaft weiter zu entwickeln. Die
Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft
muß sichergestellt werden.
Soziale Verantwortung
Sozialpolitik hat wesentliche Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß. sich der
einzelne in der Gesellschaft frei entfalten und sein Leben in eigener
Verantwortung gestalten kann. Gesellschaftliche Zustände, die zu individuellen
und sozialen Notständen führen, dürfen nicht als unvermeidlich und
unabänderlich hingenommen werden Das System sozialer Sicherung muß der Würde
selbstverantwortlicher Menschen entsprechen.
Jeder Bürger hat im Alter, bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit oder beim Tode
des Ernährers Anspruch auf eine staatliche Mindestrente. Auf ihr bauen weitere,
persönlich erworbene Rentenansprüche auf. So ist die im Arbeitsleben erreichte
Lebenshaltung zu sichern. Alle sozialen Geldleistungen, auch die Renten der
Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, sind der Entwicklung der
steigenden Arbeitseinkommen laufend anzupassen.
Technik und Zivilisation setzen heute den Menschen einer Vielzahl von
gesundheitlichen Gefährdungen aus. Sie bedrohen nicht nur die lebende, sondern
auch künftige Generationen. Gegen diese Schädigungen kann sich der einzelne
nicht schützen. Deshalb fordert die Sozialdemokratische Partei eine umfassende
Gesundheitssicherung. Lebensbedingungen und Lebensformen sind so zu gestalten
und die Gesundheitspolitik ist so auszubauen, daß ein Leben in Gesundheit
möglich wird. Der öffentliche Gesundheitsschutz, vor allem der Arbeitsschutz,
und wirksame Methoden der Gesundheitsvorsorge für den einzelnen sind zu
entwickeln. Es gilt sowohl das Bewußtsein der eigenen Verpflichtung zur Pflege
der Gesundheit zu wecken als auch dem freigewählten Arzt alle Möglichkeiten zu
gesundheitserhaltenden Maßnahmen und zur Vorbeugung gegen Krankheiten zu
eröffnen. Die berufliche Entscheidungsfreiheit der Ärzte muß gesichert sein.
Es ist eine öffentliche Aufgabe, die Krankenhausversorgung
sicherzustellen.
Das gleiche Lebensrecht aller Menschen ist auch dadurch zu verwirklichen, daß
bei Krankheit jeder unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage einen
unbedingten Anspruch auf alle dem Stande der ärztlichen Wissenschaft
entsprechenden Heilmaßnahmen hat. Die freigewählte ärztliche Hilfeleistung
wird durch volle wirtschaftliche Sicherung im Krankheitsfalle ergänzt.
Bei vollem Ausgleich des Einkommens ist die Arbeitszeit fortschreitend zu
verkürzen, wie es die Entwicklung der Wirtschaft ermöglicht.
Zur Bewältigung besonderer Lebensschwierigkeiten und Notlagen sind die
allgemeinen sozialen Leistungen durch individuelle fürsorgerische Dienste und
Leistungen der Sozialhilfe zu ergänzen. Sie arbeitet mit den Freien
Wohlfahrtsverbänden und den Einrichtungen der Nächsten- und Selbsthilfe
zusammen. Die Eigenständigkeit der freien Wohlfahrtspflege ist zu
schützen.
Die gesamte Arbeits- und Sozialgesetzgebung ist einheitlich und übersichtlich
in einem Arbeitsgesetzbuch und einem Sozialgesetzbuch zu ordnen.
Jeder hat ein Recht auf eine menschenwürdige Wohnung. Sie ist die Heimstätte
der Familie. Sie muß deshalb auch weiterhin sozialen Schutz genießen und darf
nicht nur privatem Gewinnstreben überlassen werden.
Die Wohnungs-, Bau- und Bodenpolitik muß den Mangel an Wohnraum beschleunigt
beheben. Der soziale Wohnungsbau ist zu fördern. Der Mietzins ist nach sozialen
Gesichtspunkten zu beeinflussen. Die Bodenspekulation ist zu unterbinden,
ungerechtfertigte Gewinne aus Bodenverkäufen sind abzuschöpfen.
Frau - Familie - Jugend
Die Gleichberechtigung der Frau muß rechtlich, sozial und wirtschaftlich
verwirklicht werden. Der Frau müssen die gleichen Möglichkeiten für Erziehung
und Ausbildung, für Berufswahl, Berufsausübung und Entlohnung geboten werden
wie dem Mann. Gleichberechtigung soll die Beachtung der psychologischen und
biologischen Eigenarten der Frau nicht aufheben. Hausfrauenarbeit muß als
Berufsarbeit anerkannt werden. Hausfrauen und Mütter bedürfen besonderer Hilfe
Mütter von vorschulpflichtigen und schulpflichtigen Kindern dürfen nicht
genötigt sein, aus wirtschaftlichen Gründen einem Erwerb nachzugehen.
Staat und Gesellschaft haben die Familie zu schützen, zu fördern und zu
stärken. In der materiellen Sicherung der Familie liegt die Anerkennung ihrer
ideellen Werte. Ein Familien-Lastenausgleich im Steuersystem, Mutterschaftshilfe
und Kindergeld sollen die Familie wirksam schützen.
Die Jugend muß befähigt werden, ihr Leben selbst zu meistern und in die
künftige Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft hineinzuwachsen, Staat und
Gesellschaft haben deshalb die Aufgabe, die Erziehungskraft der Familie zu
stärken, sie in den Bereichen, die sie nicht ausfüllen kann, zu ergänzen und
notfalls zu ersetzen. Die Entfaltung der beruflichen Fähigkeiten des jungen
Menschen erfordert ein System allgemeiner Erziehungs- und
Ausbildungsbeihilfen.
Der Jugendarbeitsschutz muß der Entwicklung der gesellschaftlichen
Verhältnisse und den pädagogischen Erfahrungen angepaßt werden. Wenn man die
Jugend frühzeitig und vertrauensvoll zur Mitwirkung und Mitverantwortung
heranzieht, werden der Demokratie einsichtsvolle und willensstarke Staatsbürger
heranwachsen. Die Erfüllung des Anspruches auf Erziehung und auf Hilfe zur
Persönlichkeitsentwicklung muß durch ein fortschrittliches Jugendrecht
garantiert werden. Auf allen Lebensgebieten, die die Erziehung, die Förderung
und den Schutz der Jugend betreffen, muß sichergestellt sein, daß das Wohl der
Jugend allen anderen Überlegungen vorangeht.
Das kulturelle Leben
Die schöpferischen Kräfte des Menschen müssen sich in einem reich
gegliederten und vielfältigen kulturellen Leben frei entfalten können. Die
Kulturpolitik des Staates soll alle kulturwilligen Kräfte ermutigen und
fördern. Der Staat muß alle Bürger vor den Macht- und Interessengruppen
schützen, die das geistige und kulturelle Leben eigenen Zwecken dienstbar
machen wollen.
Religion und Kirche
Nur eine gegenseitige Toleranz, die im Andersglaubenden und Andersdenkenden den
Mitmenschen gleicher Würde achtet, bietet eine tragfähige Grundlage für das
menschlich und politisch fruchtbare Zusammenleben. Der Sozialismus ist kein
Religionsersatz. Die Sozialdemokratische Partei achtet die Kirchen und die
Religionsgemeinschaften, ihren besonderen Auftrag und ihre Eigenständigkeit.
Sie bejaht ihren öffentlich-rechtlichen Schutz.
Zur Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Sinne einer
freien Partnerschaft ist sie stets bereit. Sie begrüßt es, daß Menschen aus
ihrer religiösen Bindung heraus eine Verpflichtung zum sozialen Handeln und zur
Verantwortung in der Gesellschaft bejahen.
Freiheit des Denkens, des Glaubens und des Gewissens und Freiheit der
Verkündigung sind zu sichern. Eine religiöse oder weltanschauliche
Verkündigung darf nicht parteipolitisch oder zu antidemokratischen Zwecken
mißbraucht werden.
Die Schule
Erziehung und Bildung sollen allen Menschen die Möglichkeit geben, ihre Anlagen
und Fähigkeiten unbehindert zu entfalten. Sie sollen die Widerstandskraft gegen
die konformistischen Tendenzen unserer Zeit stärken. Kenntnis und Aneignung der
überlieferten kulturellen Werte und Vertrautheit mit den formenden Kräften des
gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart sind Grundlagen unabhängigen Denkens
und freier Urteilsbildung.
Die Jugend ist in den Schulen und Hochschulen gemeinsam im Geiste gegenseitiger
Achtung zur Freiheit, zur Selbständigkeit, zum sozialen
Verantwortungsbewußtsein und für die Ideale der Demokratie und der
Völkerverständigung zu erziehen, um in unserer an weltanschaulichen
Überzeugungen und Wertordnungen vielgestaltigen Gesellschaft eine Gesinnung und
Haltung des Verstehens, der Toleranz und der Hilfsbereitschaft zu erreichen.
Dazu gehört, daß in den Lehrplänen aller Schulen staatsbürgerliche Erziehung
angemessen berücksichtigt wird.
Musische Erziehung und handwerkliche Betätigung sollen in der Bildung ihr hohes
Gewicht haben. Staat und Gesellschaft sind verpflichtet, durch Erziehung und
durch ihre Bildungseinrichtungen dem ganzen Volk eine Vertrautheit mit der Kunst
und dem künstlerischen Schaffen zu ermöglichen.
Sport und körperliche Erziehung haben Anspruch auf allseitige Förderung durch
Staat und Gesellschaft. Sie dienen der Gesundheit des einzelnen und sind
wesentlich für die Formung des Geistes der Solidarität.
Die Mitwirkung der Eltern in der Schulerziehung und eine Mitverwaltung der
Schüler sollen an allen Schulen ausgebaut werden. Organisation des Schulwesens
und Lehrpläne müssen so gestaltet werden, daß sich alle Begabungen auf allen
Stufen der Entwicklung entfalten können. Jedem Befähigten muß der Weg in
weiterführende Schulen und Ausbildungsstätten jederzeit offenstehen. Der
Besuch aller öffentlichen Schulen und Hochschulen muß kostenlos sein. Lehr-
und Lernmittel sollen an diesen Schulen und Hochschulen unentgeltlich zur
Verfügung stehen.
Die allgemeine Schulpflicht ist auf zehn Jahre auszudehnen. Die Berufsschulen
haben nicht nur der fachlichen, sondern auch der allgemeinen und
staatsbürgerlichen Bildung und Erziehung zu dienen.
Neue Wege zur Hochschule müssen eröffnet werden. Da der Bildungsweg über
Grundschule und Oberschule nicht alle Begabungen erschließen kann, müssen
durch den Zweiten Bildungsweg über Berufsarbeit, Berufsschulen und besondere
Bildungseinrichtungen neue Möglichkeiten geschaffen werden, zur Hochschulreife
zu gelangen.
Alle Lehrer sollen an wissenschaftlichen Hochschulen ausgebildet werden. Ein
gutes Schulwesen verlangt Erzieherpersönlichkeiten, die sich selbständig mit
allen Problemen der Zeit auseinandersetzen.
Die Wissenschaft
Wissenschaftliche Forschung und Lehre müssen frei sein. Ihre Ergebnisse sind
der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ausreichende öffentliche Mittel für
Forschung und Lehre müssen zur Verfügung gestellt werden. Der Staat hat
Vorsorge zu treffen, daß Forschungsergebnisse nicht zum Schaden der Menschheit
mißbraucht werden.
Ein unabhängiger Forschungsrat soll in eigener Verantwortung der Forschung
helfen, jeweils vordringliche Aufgaben zu stellen und zu lösen. Von der
Förderung wissenschaftlicher Forschung und Lehre darf kein Gebiet der
Wissenschaft ausgenommen sein.
Die Bewältigung der politischen, menschlichen und sozialen Probleme der sich
entwickelnden Industriegesellschaft und die Bewahrung menschlicher Freiheit in
ihr verlangen den Ausbau und die Vertiefung der Wissenschaft vom Menschen und
der Gesellschaft. Die ihr gewidmeten Anstrengungen müssen an Intensität dem
entsprechen, was für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik
geleistet wird.
Freiheit und Unabhängigkeit der Hochschulen bleiben unberührt. Die Hochschulen
können aber nicht isoliert von der übrigen Lebenswirklichkeit bestehen und
sollten darum mit anderen Institutionen der demokratischen Gesellschaft,
insbesondere mit den Einrichtungen der Erwachsenenbildung,
zusammenarbeiten.
Eine großzügige Förderung soll den Studierenden ihre wissenschaftliche
Ausbildung sichern. Allen Studierenden soll eine politische und
sozialwissenschaftliche Grundbildung vermittelt werden.
Ein modernes Bildungswesen für Erwachsene muß Gelegenheit geben, Wissen,
Urteilsvermögen und Fähigkeiten auch nach Beendigung der Schulerziehung zu
erwerben und zu vertiefen, die für mitverantwortliches Handeln im
demokratischen Staat unentbehrlich sind.
Die Kunst
Künstlerischem Schaffen ist volle Freiheit zu gewähren. Staat und Gemeinden
sind zur Hergabe von Mitteln verpflichtet, die der Förderung schöpferischer
Gestaltungskraft und der Vermittlung kultureller Werte aus allen Bereichen der
Kunst dienen sollen. Die künstlerische Entfaltung darf durch kein Reglement,
insbesondere durch keine Zensur, beschränkt werden.
Internationale Gemeinschaft
Die größte und dringendste Aufgabe ist es, den Frieden zu bewahren und die
Freiheit zu sichern.
Der demokratische Sozialismus ist immer von dem Gedanken der internationalen
Zusammenarbeit und Solidarität erfüllt gewesen. In einer Zeit internationaler
Verflechtungen aller Interessen und Beziehungen kann kein Volk mehr für sich
allein seine politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme
lösen. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands läßt sich von der
Erkenntnis leiten, daß die kulturellen, wirtschaftlichen, rechtlichen und
militärischen Aufgaben der deutschen Politik in enger Verbindung mit den
anderen Völkern gelöst werden müssen.
Normale diplomatische und Handelsbeziehungen mit allen Nationen sind ungeachtet
der Regierungssysteme und der gesellschaftlichen Strukturen unerläßlich.
Internationale Schiedsgerichte, Vergleichsverträge, Selbstbestimmungsrecht und
Gleichberechtigung aller Völker, die Unverletzlichkeit der Staatsgebiete und
die Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Völker sollen den Frieden
sichern, den eine Weltorganisation garantiert.
Die Vereinten Nationen müssen die allgemeine Weltorganisation werden, die sie
ihrer Idee nach sein sollen. Ihre Grundsätze sollen allgemeinverbindlich sein.
Ein Volksgruppenrecht, das im Einklang mit den von den Vereinten Nationen
verkündeten Menschenrechten steht, ist unentbehrlich. Die Sozialdemokratische
Partei Deutschlands vertritt das Recht aller Menschen auf ihre Heimat, ihr
Volkstum, ihre Sprache und Kultur.
Als Schritte auf dem Wege zu einer allgemeinen Abrüstung und zur Entspannung
internationaler Beziehungen sind regionale Sicherheitssysteme im Rahmen der
Vereinten Nationen aufzubauen. Das wiedervereinigte Deutschland soll mit allen
Rechten und Pflichten Mitglied eines europäischen Sicherheitssystems werden.
Die wirtschaftliche Entwicklung drängt zur Zusammenarbeit der europäischen
Staaten. Die Sozialdemokratische Partei bejaht diese Zusammenarbeit, die
insbesondere dem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt dienen muß. Regional
begrenzte übernationale Gemeinschaften dürfen nicht zur Abschließung
gegenüber der Außenwelt führen. Die gleichberechtigte Zusammenarbeit und ein
für alle Nationen offener Welthandel sind Voraussetzungen für das friedliche
Zusammenleben.
Die demokratischen Staaten müssen ihre Solidarität vor allem mit den
Entwicklungsländern bekunden, Noch immer lebt mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung in tiefster Armut und Unwissenheit. Solange nicht der
Weltreichtum neu verteilt und die Produktivität in den Entwicklungsländern
erheblich gesteigert ist, bleibt die demokratische Entwicklung gefährdet und
der Friede bedroht. Alle Völker sind verpflichtet, Hunger, Elend und Seuchen in
gemeinsamer Anstrengung zu bekämpfen. Die Entwicklungsländer haben Anspruch
auf großzügige und uneigennützige Hilfe. Ihre wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Entwicklung muß von den Ideen des demokratischen Sozialismus
erfüllt werden, damit sie nicht neuen Formen der Unterdrückung
verfallen.
Unser Weg
Die sozialistische Bewegung erfüllt eine geschichtliche Aufgabe. Sie begann als
ein natürlicher und sittlicher Protest der Lohnarbeiter gegen das
kapitalistische System. Die gewaltige Entfaltung der Produktivkräfte durch
Wissenschaft und Technik brachte einer kleinen Schicht Reichtum und Macht, den
Lohnarbeitern zunächst nur Not und Elend. Die Vorrechte der herrschenden
Klassen zu beseitigen und allen Menschen Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand
zu bringen das war und das ist der Sinn des Sozialismus.
Die Arbeiterschaft war in ihrem Kampf nur auf sich gestellt. Ihr
Selbstbewußtsein wurde geweckt durch die Erkenntnis ihrer eigenen Lage, durch
den entschlossenen Willen, sie zu verändern, durch die Solidarität in ihren
Aktionen und durch die sichtbaren Erfolge ihres Kampfes.
Schweren Rückschlägen und manchen Irrtümern zum Trotz hat die
Arbeiterbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Anerkennung
vieler ihrer Forderungen erzwungen. Der einst schutz- und rechtlose Proletarier,
der sich für einen Hungerlohn täglich sechzehn Stunden schinden mußte,
erreichte den gesetzlichen Achtstundentag, den Arbeitsschutz, die Versicherung
gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Siechtum und für seinen Lebensabend. Er
erreichte das Verbot der Kinderarbeit, der Nachtarbeit für die Frauen, den
Jugend- und Mutterschutz und bezahlten Urlaub. Er erstritt sich die
Versammlungsfreiheit, das Recht zum gewerkschaftlichen Zusammenschluß, das
Tarifrecht und das Streikrecht. Er ist dabei, sein Recht auf Mitbestimmung
durchzusetzen. Der einst das bloße Ausbeutungsobjekt der herrschenden Klasse
war, nimmt jetzt seinen Platz ein als Staatsbürger mit anerkannten gleichen
Rechten und Pflichten.
In einigen Ländern Europas wurden unter sozialdemokratischen Regierungen
bereits die Fundamente einer neuen Gesellschaft gelegt. Soziale Sicherheit und
die Demokratisierung der Wirtschaft werden in zunehmendem Maße
verwirklicht.
Diese Erfolge sind Meilensteine auf dem opferreichen Weg der Arbeiterbewegung.
Sie hat mit ihrer wachsenden Befreiung der Freiheit aller Menschen gedient. Die
Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer
Partei des Volkes geworden. Sie will die Kräfte, die durch die industrielle
Revolution und durch die Technisierung aller Lebensbereiche entbunden wurden, in
den Dienst von Freiheit und Gerechtigkeit für alle stellen. Die
gesellschaftlichen
Kräfte, die die kapitalistische Welt aufgebaut haben, versagen vor dieser
Aufgabe unserer Zeit. Ihre Geschichte ist eine imponierende Entfaltung
technischen und wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch eine Kette verheerender
Kriege, riesiger Massenarbeitslosigkeit, enteignender Inflationen und
wirtschaftlicher Unsicherheit. Die alten Kräfte erweisen sich als unfähig, der
brutalen kommunistischen Herausforderung das überlegene Programm einer neuen
Ordnung politischer und persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung,
wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit entgegenzustellen.
Deshalb können sie auch nicht den Anspruch der jungen Staaten auf solidarische
Hilfe erfüllen, die eben das Joch der kolonialen Ausbeutung abschütteln und
die ihre nationale Zukunft in Freiheit aufbauen und am Wohlstand der Welt
teilnehmen wollen. Sie wehren sich gegen die Lockung der Kommunisten, die sie in
ihren Machtbereich einzubeziehen versuchen.
Die Kommunisten unterdrücken die Freiheit radikal. Sie vergewaltigen die
Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Persönlichkeit und der
Völker. Gegen ihren Machtapparat stellen sich heute zunehmend auch die Menschen
der kommunistisch regierten Länder selber. Auch dort vollziehen sich
Wandlungen. Auch dort wächst das Freiheitsstreben, das keine Herrschaft auf die
Dauer völlig niederhalten kann. Aber die kommunistischen Machthaber kämpfen um
ihre Selbstbehauptung. Auf dem Rücken ihrer Völker errichten sie eine
wirtschaftliche und militärische Macht, die zur wachsenden Bedrohung der
Freiheit wird.
Darum ist die Hoffnung der Welt eine Ordnung, die auf den Grundwerten des
demokratischen Sozialismus aufbaut, der eine menschenwürdige Gesellschaft, frei
von Not und Furcht, frei von Krieg und Unterdrückung schaffen will, in
Gemeinschaft mit allen, die guten Willens sind.
Jeder, Mann und Frau, ist aufgerufen, hier und in allen Ländern der Erde.
Auf deutschem Boden sammeln sich die Sozialisten in der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands, die jeden in ihren Reihen willkommen heißt, der sich zu
den Grundwerten und Grundforderungen des demokratischen Sozialismus
bekennt."
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