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Papst Leo XIII. (1891)
An die Ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen,
Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die sonstigen Ortsordinarien,
die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen
Über die Arbeiterfrage
Ehrwürdige Brüder,
Gruß und Apostolischen Segen!
1. Der Geist der Neuerung, welcher seit langem
durch die Völker geht, musste, nachdem er auf dem politischen Gebiete
seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das
volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten
diese Entwicklung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der
technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen
Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse
und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den
Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge
verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewusstsein, ihre
Organisation erstarkt; dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten.
Dieses alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir
stehen. Wie viel in diesem Kampfe auf dem Spiele steht, das zeigt die
bange Erwartung der Gemüter gegenüber der Zukunft. Überall
beschäftigt man sich mit dieser Frage, in den Kreisen von Gelehrten,
auf fachmännischen Kongressen, in Volksversammlungen, in den
gesetzgebenden Körperschaften und im Rate der Fürsten. Die
Arbeiterfrage ist geradezu in den Vordergrund der ganzen Zeitbewegung
getreten. Im Hinblick auf die Sache der Kirche und die gemeinsame
Wohlfahrt haben Wir schon früher, Ehrwürdige Brüder, das Wort
ergriffen, um in den Rundschreiben "Über die politische
Autorität", "Über die Freiheit", "Über den
christlichen Staat" und über andere verwandte Gegenstände die
betreffenden Irrtümer der Gegenwart zu kennzeichnen und
zurückzuweisen. Wir erachten es aus gleichem Grunde für zweckmäßig,
das nämliche im vorliegenden Schreiben hinsichtlich der Arbeiterfrage
zu tun. Zwar ist dieser Gegenstand von Uns auch in andem Schreiben
berührt worden; aber nunmehr gedenken Wir, über denselben nach seinem
ganzen Umfange Unserem Apostolischen Amt gemäß uns auszusprechen. Wir
wollen die Grundsätze darlegen, welche für eine richtige und billige
Entscheidung der Frage maßgebend sein müssen.
Die ganze Frage ist ohne Zweifel schwierig und voller Gefahren;
schwierig, weil Recht und Pflicht im gegenseitigen Verhältnis von
Reichen und Besitzlosen, von denen, welche die Arbeitsmittel, und denen,
welche die Arbeit liefern, abzumessen in der Tat keine geringe Aufgabe
ist; und voller Gefahren, weil eine wühlerische Partei nur allzu
geschickt das Urteil irreführt und Aufregung und Empörungsgeist unter
den unzufriedenen Massen verbreitet.
2. Indessen, es liegt nun einmal zutage, und es
wird von allen Seiten anerkannt, daß geholfen werden muß, und zwar,
daß baldige ernste Hilfe nottut, weil Unzählige ein wahrhaft
gedrücktes und unwürdiges Dasein führen.
In der Umwälzung des vorigen Jahrhunderts ,wurden die alten
Genossenschaften der arbeitenden Klassen zerstört, keine neuen
Einrichtungen traten zum Ersatz ein, das öffentliche und staatliche
Leben entkleidete sich zudem mehr und mehr der christlichen Sitte und
Anschauung, und so geschah es, daß die Arbeiter allmählich der
Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der
Konkurrenz isoliert und schutzlos überantwortet wurden. Ein gieriger
Wucher kam hinzu, um das Übel zu vergrößern, und wenn auch die Kirche
zum öfteren dem Wucher das Urteil gesprochen, fährt dennoch Habgier
und Gewinnsucht fort, denselben unter einer andern Maske auszuüben.
Produktion und Handel sind fast zum Monopol von wenigen geworden, und so
konnten wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein
nahezu sklavisches Joch auflegen.
3. Zur Hebung dieses Übels verbreiten die
Sozialisten, indem sie die Besitzlosen gegen die Reichen aufstacheln,
die Behauptung, der private Besitz müsse aufhören, um einer
Gemeinschaft der Güter Platz zu machen, welche mittels der Vertreter
der städtischen Gemeinwesen oder durch die Regierungen selbst
einzuführen wäre. Sie wähnen, durch eine solche Übertragung alles
Besitzes von den Individuen an die Gesamtheit die Mißstände heben zu
können, es müßten nur einmal das Vermögen und dessen Vorteile
gleichmäßig unter den Staatsangehörigen verteilt sein.
Indessen dieses Programm ist weit entfernt, etwas zur Lösung der Frage
beizutragen; es schädigt vielmehr die arbeitenden Klassen selbst; es
ist ferner sehr ungerecht, indem es die rechtmäßigen Besitzer
vergewaltigt, es ist endlich der staatlichen Aufgabe zuwider, ja führt
die Staaten in völlige Auflösung.
4. Vor allem liegt nämlich klar auf der Hand,
daß die Absicht, welche den Arbeiter bei der Übernahme seiner Mühe
leitet, keine andere als die ist, daß er mit dem Lohn zu irgendeinem
persönlichen Eigentum gelange. Indem er Kräfte und Fleiß einem andern
leiht, will er für seinen eigenen Bedarf das Nötige erringen; er sucht
also ein wahres und eigentliches Recht nicht bloß auf die Zahlung,
sondern auch auf freie Verwendung derselben. Gesetzt, er habe durch
Einschränkung Ersparnisse gemacht und sie der Sicherung halber zum
Ankauf eines Grundstücks verwendet, so ist das Grundstück eben der ihm
gehörige Arbeitslohn, nur in anderer Form; es bleibt in seiner Gewalt
und Verfügung nicht minder als der erworbene Lohn. Aber gerade hierin
besteht offenbar das Eigentumsrecht an beweglichem wie unbeweglichem
Besitze. Wenn also die Sozialisten dahin streben, den Sonderbesitz in
Gemeingut umzuwandeln, so ist klar, wie sie dadurch die Lage der
arbeitenden Klassen nur ungünstiger machen. Sie entziehen denselben ja
mit dem Eigentumsrechte die Vollmacht, ihren erworbenen Lohn nach
Gutdünken anzulegen, sie rauben ihnen eben dadurch Aussicht und
Fähigkeit, ihr kleines Vermögen zu vergrößern und sich durch Heiß
zu einer besseren Stellung emporzubringen.
Aber, was schwerer wiegt, das von den Sozialisten empfohlene Heilmittel
der Gesellschaft ist offenbar der Gerechtigkeit zuwider, denn das Recht
zum Besitze privaten Eigentums hat der Mensch von der Natur
erhalten.
5. Es tritt wie in andern Dingen so auch hierin
ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier hervor. Das Tier
bestirnmt sich nicht selbst, sondern wird durch den doppelten Instinkt
sein er Natur geleitet. Derselbe beschützt seine Vermögen, er fördert
die Entwicklung der Kräfte, er erregt und bestimmt deren Betätigung.
Indem der eine Instinkt das Tier zu seiner Selbsterhaltung treibt,
bestimmt es der andere zur Erhaltung seines Geschlechts. Für beides
aber ist es auf den Bereich desjenigen, was ihm gegenwärtig ist,
angewiesen, eine Grenze, über welche es nicht hinauskommt, weil es nur
durch das sinnliche Vermögen und durch Einzeleindrücke beherrscht
wird. Weit davon verschieden ist die Natur des Menschen. In ihm finden
sich einerseits das Wesen des Tieres in seiner Ganzheit und
Vollkommenheit, und so besitzt er wie dieses das Vermögen sinnlichen
Genusses; aber seine Natur geht nicht in einer tierischen auf, mag man
sich letztere in ihm noch so vervollkommnet denken; er erhebt sich hoch
über die tierische Seite seiner selbst und macht diese sich dienstbar.
Was den Menschen adelt und ihn zu der ihm eigenen Würde erhebt, das ist
der vernünftige Geist; dieser verleiht ihm seinen Charakter als Mensch
und trennt ihn seiner ganzen Wesenheit nach vom Tiere. Eben weil er aber
mit Vernunft ausgestattet ist, sind ihm irdische Güter nicht zum
bloßen Gebrauche anheimgegeben, wie dem Tiere, sondern er hat
persönliches Besitzrecht, Besitzrecht nicht bloß auf Dinge, die beim
Gebrauche verzehrt werden, sondern auch auf solche, welche in und nach
dem Gebrauche bestehen bleiben.
6. Eine tiefere Betrachtung der Natur des Menschen
lehrt dieses noch klarer. Da der Mensch mit seinem Denken unzählige
Gegenstände umfaßt, mit den gegenwärtigen die zukünftigen verbindet
und Herr seiner Handlungen ist, so bestimmt er unter dem ewigen Gesetze
und unter der allweisen Vorsehung Gottes sich selbst nach freiem
Ermessen; es liegt darum in seiner Macht, unter den Dingen die Wahl zu
treffen, die er zu seinem eigenen Wohle nicht allein für die Gegenwart,
sondern auch für die Zukunft als die ersprießlichste erachtet. Hieraus
folgt, es müssen Rechte erworben werden können nicht bloß auf
Eigentum an Erzeugnissen des Bodens, sondern auch auf Eigentum am Boden
selbst; denn was dem Menschen sichere Aussicht auf künftigen
Fortbestand seines Unterhaltes verleiht, das ist nur der Boden mit
seiner Produktionskraft. Immer unterliegt der Mensch Bedürfnissen, sie
wechseln nur ihre Gestalt; sind die heutigen befriedigt, so stellen
morgen andere ihre Anforderungen. Die Natur muß den Menschen demgemäß
eine bleibende, unversiegliche Quelle zur Befriedigung seiner
Bedürfnisse angewiesen haben, und eine solche Quelle ist nur die Erde
mit den Gaben, die sie unaufhörlich wendet. Es ist auch kein Grund
vorhanden, die allgemeine Staatsfürsorge in Anspruch zu nehmen Denn der
Mensch ist älter als der Staat, und darum besaß er das Recht auf
Erhaltung seines körperlichen Daseins, ehe es einen Staat
gegeben.
7. Daß aber Gott der Herr die Erde dem ganzen
Menschengeschlecht zum Gebrauch und zur Nutznießung übergeben hat,
dies steht durchaus nicht dem Sonderbesitz entgegen. Denn Gott hat die
Erde nicht in dem Sinne der Gesamtheit überlassen, als sollten alle
ohne Unterschied Herren über dieselbe sein, sondern insofern, als er
selbst keinem Menschen einen besonderen Teil derselben zum Besitze
angewiesen, vielmehr dem Fleiße der Menschen und den von den Völkern
zu treffenden Einrichtungen die Ordnung der Eigentumsverhältnisse unter
ihnen anheimgegeben hat. Übrigens wie immer unter die einzelnen
verteilt, hört der Erdboden nicht auf, der Gesamtheit zu dienen, denn
es gibt keinen Menschen, der nicht von dessen Erträgnis lebt. Wer ohne
Besitz ist, bei dem muß die Arbeit dafür eintreten, und man kann
sagen, die Beschaffung aller Lebensbedürfnisse geschehe durch Arbeit,
entweder durch die Bearbeitung des eigenen Bodens oder durch Arbeit in
irgendeinem andern Erwerbszweig, dessen Lohn zuletzt nur von der Frucht
der Erde kommt und mit der Frucht der Erde vertauscht wird.
Es ergibt sich hieraus wieder, daß privater Besitz vollkommen eine
Forderung der Natur ist. Die Erde spendet zwar in großer Fülle das,
was zur Erhaltung und zumal zur Vervollkommnung des irdischen Daseins
nötig ist; aber sie kann es nicht aus sich spenden, d.h. nicht ohne
Bearbeitung und Pflege durch den Menschen. Indem der Mensch an die
Gewinnung der Güter der Natur körperlichen Fleiß und geistige Sorge
setzt, macht er sich eben dadurch den bearbeiteten Teil zu eigen; es
wird dem letzteren sozusagen der Stempel des Bearbeiters aufgedrückt.
Also entspricht es durchaus der Gerechtigkeit, daß dieser Teil sein
eigen sei und sein Recht darauf unverletzlich bleibe.
8. Die Beweiskraft des Gesagten ist so
einleuchtend, daß es nur Verwunderung erwecken kann, entgegengesetzte,
veraltete Theorien vortragen zu hören. Man behauptet nämlich,
eigentliches Bodeneigentum sei gegen die Gerechtigkeit, und nur die
Nutznießung des Bodens oder der Teile desselben könne den einzelnen
zustehen: die Scholle des Herrn, welche seine Anlagen und Baulichkeiten
trägt, sei nicht sein eigen, und der Acker, den der Landwirt als den
seinen bearbeitet, gehöre nicht ihm. Man will nicht sehen, daß dies
ebensoviel heißt, wie einen Raub ausführen an dem, was durch die
Arbeit erworben ist. Jenes früher wüste Erdreich hat doch durch den
Fleiß der Bebauer und durch ihre kundige Behandlung die Gestalt völlig
verändert; es ist aus Wildnis fruchtbares Ackerfeld, aus verlorener
Öde ein ergiebiger Boden geworden. Was dem Boden diese neue Form
verliehen, das ist derart mit ihm eines, daß es großenteils unmöglich
von ihm zu trennen ist. Und es soll kein Widerspruch gegen alle
Gerechtigkeit sein, jenen Boden mit der Behauptung, daß Eigentum nicht
bestehen dürfe, seinem Besitzer zu entziehen und dasjenige andern zu
überantworten, was der Bebauer im Schweiße seines Angesichtes
geschaffen hat? Nein, wie die Wirkung ihrer Ursache folgt, so folgt die
Frucht der Arbeit als rechtmäßiges Eigentum demjenigen, der die Arbeit
vollzogen hat.
Mit Recht hat darum die Menschheit, unbekümmert um die abweichende
Meinung weniger, immer im Naturgesetz die Grundlage für den
Sonderbesitz gefunden und hat diesen durch die praktische Anerkennung
der Jahrhunderte geheiligt, weil derselbe mit der Menschennatur und der
Idee eines friedlichen und ruhigen Zusammenlebens gänzlich stimmt; sie
hat sich weise leiten lassen von der Forderung des natürlichen Gesetzes
und blieb unbekümmert um vereinzelte Einreden. - Die staatlichen
Gesetze aber, die ihre Verbindlichkeit, sofern sie gerecht sind, vom
Naturgesetz herleiten, haben überall das in Rede stehende Recht
bestätigt und mit Strafbestimmungen gestützt. Auch die göttlichen
Gesetze verkünden das Besitzrecht, und zwar mit solchem Nachdrucke,
daß sie sogar das Verlangen nach fremdem Gute streng verbieten:
"Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Haus, Acker,
Knecht, Magd, Ochs, Esel und alles, was sein ist"1.
9. Betrachten wir nunmehr den Menschen als
geselliges Wesen, und zwar zunächst in seiner Beziehung zur Familie, so
stellt sich das Recht des einzelnen auf Privatbesitz noch deutlicher
dar. Wenn ihm dieses, sofern er Einzelwesen ist, zukommt, so kommt es
ihm noch mehr zu in Rücksicht auf das häusliche Zusammenleben.
In Bezug auf die Wahl des Lebensstandes ist es der Freiheit eines jeden
anheimgegeben, entweder den Rat Jesu Christi zum enthaltsamen Leben zu
befolgen oder in die Ehe zu treten. Kein menschliches Gesetz kann dem
Menschen das natürliche und ursprüngliche Recht auf die Ehe entziehen;
keines kann den Hauptzweck dieser durch Gottes heilige Autorität seit
der Erschaffung eingeführten Einrichtung irgendwie einschränken.
"Wachset und mehret euch"2. Mit diesen Worten war die Familie
gegründet. Die Familie, die häusliche Gesellschaft, ist eine wahre
Gesellschaft mit allen Rechten derselben, so klein immerhin diese
Gesellschaft sich darstellt; sie ist älter als jegliches andere
Gemeinwesen, und deshalb besitzt sie unabhängig vom Staate ihre
innewohnenden Rechte und Pflichten. Wenn nun jedem Menschen, wie
gezeigt, als Einzelwesen die Natur das Recht, Eigentum zu besitzen,
verliehen hat, so muß sich dieses Recht auch im Menschen, insofern er
Haupt einer Familie ist, finden; ja das Recht besitzt im Familienhaupte
noch mehr Energie, weit der Mensch sich im häuslichen Kreise gleichsam
ausdehnt.
10. Ein dringendes Gesetz der Natur verlangt, daß
der Familienvater den Kindern den Lebensunterhalt und alles Nötige
verschaffe, und die Natur leitet ihn an, auch für die Zukunft die
Kinder zu versorgen, sie gegenüber den irdischen Wechselfällen instand
zu setzen, sich selbst vor Elend zu schützen; er ist es ja, der in den
Kindern fortlebt und sich gleichsam in ihnen wiederholt. Wie soll er
aber jenen Pflichten gegen die Kinder nachkommen können, wenn er ihnen
nicht einen Besitz, welcher fruchtet, als Erbe hinterlassen darf? Wie
der Staat, so ist auch die Familie, wie schon gesagt, im eigentlichen
Sinne eine Gesellschaft, und es regiert selbständige Gewalt in ihr,
nämlich die väterliche. Innerhalb der von ihrem nächsten Zwecke
bestimmten Grenzen besitzt demgemäß die Familie zum wenigsten die
gleichen Rechte wie der Staat in Wahl und Anwendung jener Mittel, die zu
ihrer Erhaltung und ihrer berechtigten freien Bewegung unerläßlich
sind. Wir sagen, zum wenigsten die gleichen Rechte. Denn da das
häusliche Zusammenleben sowohl der Idee als der Sache nach früher ist
als die bürgerliche Gemeinschaft, so haben auch seine Rechte und seine
Pflichten den Vortritt, weil sie der Natur näherstehen. Wenn Individuum
und Familie, nachdem sie im Verbande der staatlichen Gesellschaft sind,
seitens der letzteren nur Schädigung fänden statt Nutzen, nur
Verletzung des ureigenen Rechtes statt Schutz, so würde der
Staatsverband eher als Gegenstand der Abneigung und des Hasses
erscheinen müssen denn als ein begehrenswertes Gut.
11. Ein großer und gefährlicher Irrtum liegt
also in dem Ansinnen an den Staat, als müsse er nach seinem Gutdünken
in das Innere der Familie, des Hauses eindringen. Allerdings, wenn sich
eine Familie in äußerster Not und in so verzweifelter Lage befindet,
daß sie sich in keiner Weise helfen kann, so ist es der Ordnung
entsprechend, daß staatliche Hilfeleistung für die äußerst
Bedrängten eintrete; die Familien sind eben Teile des Staates. Ebenso
hat die öffentliche Gewalt zum Rechtsschutz einzugreifen, wenn
innerhalb der häuslichen Mauern erhebliche Verletzungen des
gegenseitigen Rechtes geschehen: Übergriffe in Schranken weisen und die
Ordnung herstellen heißt dann offenbar nicht Befugnisse der Familie und
der Individuen an sich reißen: der Staat befestigt in diesem Falle die
Befugnisse der einzelnen, er zerstört sie nicht. Allein an diesem Punkt
muß er haltmachen, über obige Grenzen darf er nicht hinaus, sonst
handelt er dem natürlichen Recht entgegen. Die väterliche Gewalt ist
von Natur so beschaffen, daß sie nicht zerstört, auch nicht vom Staate
an sich gezogen werden kann; sie weist eine gleich ehrwürdige Herkunft
auf wie das Leben des Menschen selbst. "Die Kinder sind", um
mit dem hl. Thomas zu sprechen, "gewissermaßen ein Teil des
Vaters"; sie sind gleichsam eine Entfaltung seiner Person. Auch
treten sie in die staatliche Gemeinschaft als deren Teilnehmer, wenn man
im eigentlichen Sinne reden will, nicht selbständig, nicht als
Individuen ein, sondern vermittels der Familiengemeinschaft, in welcher
sie das Leben empfangen haben. Aus eben diesem Grunde, weil nämlich die
Kinder "von Natur einen Teil des Vaters bilden, stehen sie",
nach den Worten des heiligen Lehrers, "unter der Sorge der Eltern,
ehe sie den Gebrauch des freien Willens haben"3. Das sozialistische
System also, welches die elterliche Fürsorge beiseite setzt, um eine
allgemeine Staatsfürsorge einzuführen, versündigt sich an der
natürlichen Gerechtigkeit und zerreißt gewaltsam die Fugen des
Familienhauses.
12. Aber sieht man selbst von der Ungerechtigkeit
ab, so ist es ebensowenig zu leugnen, daß dieses System in allen
Schichten der Gesellschaft Verwirrung herbeiführen ,würde. Eine
unerträgliche Beengung aller, eine sklavische Abhängigkeit würde die
Folge des Versuches seiner Anwendung sein. Es würde gegenseitiger
Mißgunst, Zwietracht und Verfolgung Tür und Tor geöffnet. Mit dem
Wegfalle des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß würden auch die Quellen
des Wohlstandes versiegen. Aus der eingebildeten Gleichheit aller würde
nichts anderes als der nämliche klägliche Zustand der Entwürdigung
für alle.
Aus alledem ergibt sich klar die Verwerflichkeit der sozialistischen
Grundlehre, wonach der Staat den Privatbesitz einzuziehen und zu
öffentlichem Gute zumachen hätte. Eine solche Theorie gereicht denen,
welchen geholfen werden soll, lediglich zu schwerem Schaden, sie
"widerstreitet den natürlichen Rechten eines jeden Menschen, sie
verzerrt den Beruf des Staates und macht eine ruhige, friedliche
Entwicklung des Gesellschaftslebens unmöglich. Bei allen Versuchen, den
niederen Klassen aufzuhelfen, ist also durchaus als Grundsatz
festzuhalten, dass das Privateigentum unangetastet zu lassen sei. Wir
gehen nunmehr zu der Darlegung über, worin die überall begehrte
Abhilfe in der misslichen Lage des arbeitenden Standes zu suchen
sei.
13. Mit voller Zuversicht treten Wir an diese
Aufgabe heran und im Bewusstsein, dass Uns das Wort gebührt. Denn ohne
Zuhilfenahme von Religion und Kirche ist kein Ausgang aus dem Wirrsale
zu finden; aber da die Hut der Religion und die Verwaltung der
kirchlichen Kräfte und Mittel vor allem in Unsere Hände gelegt sind,
so könnte das Stillschweigen eine Verletzung Unserer Pflicht scheinen.
Allerdings ist in dieser wichtigen Frage auch die Tätigkeit und
Anstrengung anderer Faktoren unentbehrlich: Wir meinen die Fürsten und
Regierungen, die besitzende Klasse und die Arbeitgeber, endlich die
Besitzlosen, um deren Stellung es sich handelt. Aber Wir sagen mit allem
Nachdruck: Lässt man die Kirche nicht zur Geltung kommen, so werden
alle menschlichen Bemühungen vergeblich sein; denn die Kirche ist es,
welche aus dem Evangelium einen Schatz von Lehren verkündet, unter
deren kräftigem Einfluss der Streit sich beilegen oder wenigstens seine
Schärfe verlieren und mildere Formen annehmen kann; sie ist es, die den
Geistern nicht bloß Belehrung bringt, sondern auch mit Macht auf eine
den christlichen Vorschriften entsprechende Regelung der Sitten bei
jedem einzelnen hinwirkt; die Kirche ist ohne Unterlass damit
beschäftigt, die soziale Lage der niederen Schichten durch nützliche
Einrichtungen zu heben; sie ist endlich vom Verlangen beseelt, dass die
Kräfte und Bestrebungen aller Stände sich zur Förde rang der wahren
Interessen der Arbeiter zusammentun, und hält ein Vorgehen der
staatlichen Autorität auf dem Wege der Gesetzgebung, innerhalb der
nötigen Schranken für unerlässlich, damit der Zweck erreicht
werde.
14. Vor allem ist also von der einmal gegebenen
unveränderlichen Ordnung der Dinge auszugehen, wonach in der
bürgerlichen Gesellschaft eine Gleichmachung von hoch und niedrig, von
arm und reich schlechthin nicht möglich ist. Es mögen die Sozialisten
solche Träume zu verwirklichen suchen, aber man kämpft umsonst gegen
die Naturordnung an. Es werden immerdar in der Menschheit die größten
und tiefgreifendsten Ungleichheiten bestehen. Ungleich sind Anlagen,
Fleiß, Gesundheit und Kräfte, und hiervon ist als Folge unzertrennlich
die Ungleichheit in der Lebensstellung, im Besitze. Dieser Zustand ist
aber ein sehr zweckmäßiger sowohl für den einzelnen wie für die
Gesellschaft. Das gesellschaftliche Dasein erfordert nämlich eine
Verschiedenheit von Kräften und eine gewisse Mannigfaltigkeit von
Leistungen; und zu diesen verschiedenen Leistungen werden die Menschen
hauptsächlich durch jene Ungleichheit in der Lebensstellung
angetrieben.
Die körperliche Arbeit anlangend, würde der Mensch im Stand der
Unschuld freilich nicht untätig gewesen sein. Die Arbeit, nach welcher
er damals wie nach einem Genusse freiwillig verlangt hätte, sie wurde
ihm nach dem Sündenfalle als eine notwendige Buße auferlegt, deren
Last er spüren muß. "Verflucht sei die Erde in deinem Werke; mit
Arbeit sollst du von ihr essen alle Tage deines Lebens4." In
gleicher Weise werden immer auch die übrigen Beschwernisse auf dieser
Erde wohnen, weil die Folgen der Sünde als bittere Begleiter an der
Seite des Menschen bis zu seinem Tode haften. Leiden und dulden ist
einmal der Anteil unseres Geschlechtes, und so große Anstrengungen man
auch zur Besserung des Daseins machen mag, die Gesellschaft wird niemals
frei von großer Plage werden. Die, welche vorgeben, sie könnten es
dahin bringen, und die dem armen Volke ein Leben ohne Not und nur voll
Ruhe und Genuß vorspiegeln, täuschen fürwahr die Menschen mit einem
Truge, welcher nur größere Übel zur Folge haben wird, als die sind,
an denen die gegenwärtige Gesellschaft krankt. Das Richtige ist, die
Dinge nehmen, wie sie wirklich sind, und das Linderungsmittel, wie
gesagt, anderswo aufsuchen.
15. Ein Grundfehler in der Behandlung der sozialen
Frage ist sodann auch der, daß man das gegenseitige Verhältnis
zwischen der besitzenden und der unvermögenden, arbeitenden Klasse so
darstellt, als ob zwischen ihnen von Natur ein unversöhnlicher
Gegensatz Platz griffe, der sie zum Kampf aufrufe. Ganz das Gegenteil
ist wahr. Die Natur hat vielmehr alles zur Eintracht, zu gegenseitiger
Harmonie hingeordnet; und so wie im menschlichen Leibe bei aller
Verschiedenheit der Glieder im wechselseitigen Verhältnis Einklang und
Gleichmaß vorhanden ist, so hat auch die Natur gewollt, daß im Körper
der Gesellschaft jene beiden Klassen in einträchtiger Beziehung
zueinander stehen und ein gewisses Gleichgewicht darstellen. Die eine
hat die andere durchaus notwendig. So wenig das Kapital ohne die Arbeit,
so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen. Eintracht ist
überall die unerlässliche Vorbedingung von Schönheit und Ordnung; ein
fortgesetzter Kampf dagegen erzeugt Verwilderung und Verwirrung. Zur
Beseitigung des Kampfes aber und selbst zur Ausrottung seiner Ursachen
besitzt das Christentum wunderbare und vielgestaltige Kräfte.
16. Die Kirche, als Vertreterin und Wahrerin der
Religion, hat zunächst in den religiösen Wahrheiten und Gesetzen ein
mächtiges Mittel, die Reichen und die Armen zu versöhnen und einander
nahe zubringen; ihre Lehren und Gebote führen beide Klassen zu ihren
Pflichten gegeneinander und namentlich zur Befolgung der Vorschriften
der Gerechtigkeit.
Von diesen Pflichten berühren folgende die arbeitenden Stände:
vollständig und treu die Arbeitsleistung zu verrichten, zu welcher sie
sich frei und mit gerechtem Vertrage verbunden haben; den Arbeitgebern
weder an der Habe noch an der Person Schaden zuzufügen; in der Wahrung
ihrer Interessen sich der Gewalttätigkeit zu enthalten und in keinem
Falle Auflehnung zu stiften; nicht Verbindung zu unterhalten mit
Übelgesinnten, die ihnen trügerische Hoffnungen vorspiegeln und nur
bittere Enttäuschung und Ruin zurücklassen.
Die Pflichten, die hinwieder die Besitzenden und Arbeitgeber angehen,
sind die nachstehenden: die Arbeiter dürfen nicht wie Sklaven angesehen
und behandelt werden; ihre persönliche Würde, welche geadelt ist durch
ihre Würde als Christen, werde stets heilig gehalten; Arbeit und
Erwerbssorgen erniedrigen sie nicht, vielmehr muss, wer vernünftig und
christlich denkt, es ihnen als Ehre anrechnen, dass sie selbständig ihr
Leben unter Mühe und Anstrengung erhalten; unehrenvoll dagegen und
unwürdig ist es, Menschen bloß zu eigenem Gewinne auszubeuten und sie
nur so hoch anzuschlagen, als ihre Arbeitskräfte reichen. Eine weitere
Vorschrift schärft ein: Habet auch die gebührende Rücksicht auf das
geistige Wohl und die religiösen Bedürfnisse der Besitzlosen; ihr
Herren seid verpflichtet, ihnen Zeit zulassen für ihre
gottesdienstlichen Übungen; ihr dürft sie nicht der Verführung und
sittlichen Gefahren bei ihrer Verwendung aussetzen; den Sinn für
Häuslichkeit und Sparsamkeit dürft ihr in ihnen nicht ersticken; es
ist ungerecht, sie mit mehr Arbeit zu beschweren, als ihre Kräfte
tragen können, oder Leistungen von innen zu fordern, die mit ihrem
Alter oder Geschlecht in Widerspruch stehen.
17. Vor allem aber ist es Pflicht der
Arbeitsherren, den Grundsatz: jedem das Seine, stets vor Augen zu
behalten. Dieser Grundsatz sollte auch unparteisch auf die Höhe des
Lohnes Anwendung finden, ohne dass die verschiedenen für die Billigkeit
des Lohnmaßes mitzuberücksichtigenden Momente übersehen werden. Im
allgemeinen ist in Bezug auf den Lohn wohl zu beachten, daß es wider
göttliches und menschliches Gesetz geht, Notleidende zu drücken und
auszubeuten um des eigenen Vorteils willen. Dem Arbeiter den ihm
gebührenden Verdienst vorenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel
schreit. "Siehe", sagt der Heilige Geist, "der Lohn der
Arbeiter,... den ihr unterschlagen, schreit zu Gott, und ihre Stimmen
dringen zum Herrn Sabaoth"5. Die Reichen dürfen endlich unter
keinen Umständen die Besitzlosen in ihrem Erworbenen schädigen, sei es
durch Gewalt oder durch Trug oder durch Wucherkünste: und das um so
weniger als ihr Stand minder gegen Unrecht und Übervorteilung
geschützt ist. Ihr Eigentum, weil gering, beansprucht eben deshalb um
so mehr Unverletzlichkeit. Wer wird in Abrede stellen, daß die
Befolgung dieser Vorschriften allein imstande sein würde, den
bestehenden Zwiespalt samt seinen Ursachen zu beseitigen?
18. Aber die Kirche, welche in den Fußstapfen
ihres göttlichen Lehrers und Führers Jesu Christus wandelt, hat noch
höhere Ziele; sie trachtet mit Vorschriften von noch größerer
sittlicher Vollkommenheit, den einen Teil dem andern möglichst
anzunähern und ein freundliches Verhältnis zwischen beiden
herzustellen Nur wenn wir das künftige unsterbliche Leben zum Maßstabe
nehmen, können wir über das gegenwärtige Leben unbefangen und gerecht
urteilen. Gäbe es kein anderes Leben, so würde eben damit der wahre
Begriff sittlicher Pflicht verlorengehen, und das irdische Dasein würde
zu einem dunklen, von keinem Verstande zu entwirrenden Rätsel. Wenn
dies uns schon die Vernunft selbst sagt, so wird es zugleich durch den
Glauben verbürgt, der als Grundstein aller Religion die Lehre
hinstellt, daß beim Ausscheiden aus dem irdischen Leben unser wahres
Leben beginnt. Denn Gott hat uns nicht für die hinfälligen und
vergänglichen Güter der Zeit geschaffen, sondern für die ewigen des
Himmels, und er hat uns die Erde nicht als eigentlichen Wohnsitz,
sondern als Ort der Verbannung angewiesen. Ob der Mensch an Reichtum und
an anderen Dingen, die man Güter nennt, Überfluß habe oder Mangel
leide, darauf kommt es für die ewige Seligkeit nicht an; aber sehr viel
kommt auf die Weise an, wie er seine Erlösung benützt. Jesus Christus
hat durch seine "reiche Erlösung" keineswegs Leiden und Kreuz
hinweggenommen, das unsern Lebensweg bedeckt, er hat es aber in einen
Sporn für unsere Tugend, in einen Gegenstand des Verdienstes
verwandelt, und keiner "wird der ewigen Krone teilhaftig, der nicht
den schmerzlicher Kreuzweg des Herrn wandelt. "Wenn wir mit ihm
leiden, werden wir auch mit ihm herrschen"6. Durch seine
freiwilligen Mühen und Peinen hat jedoch der Heiland all unsere Mühen
und Peinen wunderbar gemildert. Er erleichtert uns die Ertragung aller
Trübsal nicht bloß durch sein Beispiel, sondern auch durch seine
stärkende Gnade und durch den Ausblick auf ewigen Lohn. "Denn
unsere vorübergehende und leichte Trübsal in der Gegenwart erwirkt uns
ein überschwengliches Maß von Glorie in der Ewigkeit"7.
Es ergeht also die Mahnung der Kirche an die mit Glücksgütern
Gesegneten, daß Reichtum nicht von Mühsal frei mache, und daß er für
das ewige Leben nichts nütze, ja demselben eher schädlich sei8. Die
auffälligen Drohungen Jesu Christi an die Reichen müßten diese mit
Furcht erfüllen9, denn dem ewigen Richter wird einst strengste
Rechenschaft über den Gebrauch der Güter dieses Lebens abgelegt werden
rnüssen.
19. Eine wichtige und tiefgreifende Lehre
verkündet die Kirche sodann über den Gebrauch des Reichtums, eine
Lehre, welche von der heidnischen Weltweisheit nur dunkel geahnt wurde,
die aber von der Kirche in voller Klarheit hingestellt und, was mehr
ist, in lebendige praktische Übung umgesetzt wird. Sie betrifft die
Pflicht der Wohltätigkeit, das Almosen. Diese Lehre hat die
Unterscheidung zwischen gerechtem Besitz und gerechtem Gebrauch des
Besitzes zur Voraussetzung.
Das Privateigentum gründet sich, wie wir gesehen haben, auf die
natürliche Ordnung, und dieses Recht zu gebrauchen, ist nicht bloß
erlaubt, sondern es ist auch im gesellschaftlichen Dasein eine
Notwendigkeit. "Es ist erlaubt", so drückt der hl. Thomas es
aus, "daß der Mensch Eigentum besitze, und es ist zugleich
notwendig für das menschliche Leben"10. Fragt man nun, wie der
Gebrauch des Besitzes beschaffen sein müsse, so antwortet die Kirche
mit dem nämlichen heiligen Lehrer: "Der Mensch muß die äußern
Dinge nicht wie ein Eigentum, sondern wie gemeinsames Gut betrachten und
behandeln, insofern nämlich, als er sich zur Mitteilung derselben an
Notleidende leicht verstehen soll. Darum spricht der Apostel: ,Befiehl
den Reichen dieser Welt,... daß sie gerne geben und mitteilen"11.
Gewiß ist niemand verpflichtet, dem eigenen notwendigen Unterhalt oder
demjenigen der Familie Abbruch zu tun, um dem Nächsten beizuspringen.
Es besteht nicht einmal die Verbindlichkeit, des Almosens wegen auf
standesgemäße und geziemende Ausgaben zu verzichten. "Denn
niemand ist", um wieder mit St. Thomas zu sprechen,
"verpflichtet, auf unangemessene Weise zu leben"12. Ist der
Besitz jedoch größer, als es für den Unterhalt und ein
standesgemäßes Auftreten nötig ist, dann tritt die Pflicht ein, vom
Überflusse den notleidenden Mitbrüdern Almosen zu spenden. "Was
ihr an Überfluß habet, das gebet den Armen", heißt es im
Evangelium13. Diese Pflicht ist allerdings nicht eine Pflicht der
Gerechtigkeit, den Fall der äußersten Not ausgenommen, sondern der
christlichen Liebe, und darum könnte sie auch nicht auf gerichtlichem
Wege erzwungen werden. Sie erhält indes eine Bekräftigung, mächtiger
als die durch irdische Gesetzgeber und Richter, von seiten des ewigen
Richters der Welt, der durch vielfache Aussprüche die Mildtätigkeit
empfiehlt: "Es ist seliger geben, als nehmen"14, und der
Gericht halten wird über Spendung und Verweigerung der Almosen an seine
Armen, so als wäre sie ihm geschehen: "Was ihr einem der
geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan"15.
Das Gesagte läßt sich also kurz so zusammenfassen: Wer irgend mit
Gütern von Gott dem Herrn reichlicher bedacht ,wurde, seien es
leibliche und äußere, seien es geistige Güter, der hat den Überfluß
zudem Zweck erhalten, daß er ihn zu seinem eigenen wahren Besten und
zum Besten der Mitmenschen wie ein Diener der göttlichen Vorsehung
benütze. "Wem also Einsicht verliehen ist", sagt der hl.
Gregor der Große, "der verwende sie zu nutzbringender
Unterweisung, wer Reichtum erhalten hat, sehe zu, daß er mit der
Wohltätigkeit nicht säume; wer in praktischen Dingen Erfahrung und
Übung besitzt, verwende sein Können zum Besten der
Mitmenschen"16.
20. Die Besitzlosen aber belehrt die Kirche, daß
Armut in den Augen der ewigen Wahrheit nicht die geringste Schande ist,
und daß Handarbeit zum Erwerb des Unterhaltes durchaus keine Unehre
bereitet. Christus der Herr hat dies durch Tat und Beispiel bekräftigt,
er, der um unseretwillen "arm geworden, da er reich war"17,
und der, obwohl Sohn Gottes und Gott selbst, dennoch für den Sohn des
Zimmermanns gehalten werden, ja einen großen Teil seines Lebens mit
körperlicher Arbeit zubringen wollte. "Ist dies nicht der
Zimmermann, der Sohn Mariä?"18 Wer dies göttlich hohe Beispiel
ernst betrachtet, der wird leichter verstehen, daß die wahre Würde und
Größe des Menschen in sittlichen Eigenschaften, das heißt in der
Tugend beruht, daß die Tugend aber ein Gut sei, welches allen gleich
zugänglich ist, dem Niedersten wie dem Höchsten, dem Reichen wie dem
Armen, und daß durchaus nichts anderes als Tugend und Verdienst des
Himmels teilhaftig macht. Ja gegen die Hilflosen und Unglücklichen
dieser Welt tritt Gottes Liebe gewissermaßen noch mehr an den Tag:
Jesus Christus preist die Armen selig19; er ladet alle, die mit Mühe
und Kummer beladen, liebevoll zu sich, um sie zu trösten20; die
Niedrigsten und Verfolgten umfaßt er mit ganz besonderem Wohlwollen.
Diese Wahrheiten sind wahrlich imstande, in den Begüterten. und
Hochstehenden jeden Übermut niederzuhalten und in den Armen den
Kleinmut aufzurichten; sie müssen den Reichen Entgegenkommen gegen die
Armen einflößen und die Armen selbst zur Bescheidenheit stimmen. So
wird die soziale Kluft zwischen den beiden Klassen unschwer verringert
und hüben und drüben freundliche, versöhnliche Gesinnung
geweckt.
21. Wenn aber die Moral des Christentums ganz zur
Geltung kommt, wird man auch nicht bei versöhnlicher Stimmung
stehenbleiben; es wird wahre brüderliche Liebe beide Teile verbinden.
Sie werden dann in dem Bewußtsein leben, daß ein gemeinsamer Vater im
Himmel alle Menschen geschaffen hat und alle für das gleiche Ziel
bestimmt hat, für den ewigen Lohn der Guten, welcher Gott selbst ist,
der allein die Menschen und die Engel mit vollkommener Seligkeit
beglücken kann. Sie erfassen dann, was es heißt.' Jesus Christus hat
alle gleicherweise durch sein Leiden erlöst, alle zur nämlichen Würde
von Kindern Gottes erhoben; ein wahrhaftes geistiges Bruderband besteht
zwischen ihnen und mit Christus dem Herrn, "dem Erstgeborenen unter
vielen Brüdern"21. Sie verstehen, was es ferner heißt, die Güter
der Natur und die Geschenke der Gnade insgesamt gehören
gemeinschaftlich der großen Menschenfamihe an, nur wer sich selbst
unwürdig macht, wird vom Erbe des himmlischen Glückes ausgeschlossen.
"Wenn aber Söhne, dann auch Erben, und zwar Erben Gottes und
Miterben Christi."22
Das sind nach christlicher Auffassung die Grundzüge der Menschenrechte
und der Menschenpflichten. Würde nicht aller Streit in kurzer Frist
erledigt sein, wenn diese Wahrheiten in der bürgerlichen Gesellschaft
zu voller Anerkennung gelangten?
22. Indessen die Kirche läßt es sich nicht dabei
begnügen, bloß den Weg zur Heilung zu zeigen, sie wendet auch die
Heilmittel selbst an. Ihr ganzes Arbeiten geht dahin, die Menschheit
nach Maßgabe ihrer Lehre und ihres Geistes umzubilden und zu erziehen.
Durch den Episkopat und den Klerus leitet sieden heiligen Strom ihres
Unterrichtes in die weitesten Kreise des Volkes hinab, soweit immer ihr
Einfluß gelangen kann. Sie sucht in das Innerste der Menschen
einzudringen und ihren Willen zu lenken, damit sich alle im Handeln nach
Gottes Vorschriften richten. Gerade in bezug auf diese innere
Wirksamkeit, also an einem Punkte, auf den alles ankommt, entfaltet die
Kirche eine siegreiche, ihr ausschließlich eigene Macht. Denn die
Mittel, die ihr den Zugang zu den Herzen bahnen, hat sie von Jesus
Christus selbst für diesen heiligen Zweck überkommen, es ruht in ihnen
eine göttliche Kraft. Diese Mittel allein gelangen zum Innersten der
Menschenbrust, und diese Macht allein führt den Menschen zum Gehorsam
gegen seine Pflicht, zur Bezähmung der eigenen Leidenschaft, zu
vollkommener Liebe Gottes und des Nächsten, zur Überwindung der vielen
auf dem Wege der Tugend auftretenden Hindernisse.
Zur Bestätigung dessen braucht nur auf das Beispiel der Vergangenheit
hingewiesen zu werden. Wir heben nur Tatsachen hervor, welche außer
allem Zweifel stehen, wenn wir sagen: es war der Einfluß und das Walten
der Kirche, wodurch die bürgerliche Gesellschaft von Grund aus erneuert
wurde; die höheren sozialen Kräfte, die ihr eigen sind, haben die
Menschheit auf die Bahn des wahren Fortschritts erhoben, ja vom
Untergange wieder zum Leben erweckt; sie haben durch die christliche
Erziehung der Völker eine Entwicklung herbeigeführt, welche alle
früheren Kulturformen weit übertrifft und in alle Zukunft nicht durch
eine andere übertroffen werden wird. Diese Wohltaten haben die
hochheilige Person Jesu Christi zu ihrer Urquelle und zu ihrem
Endzwecke; wie die Welt dem Gottmenschen alles verdankt, so bezieht sich
alles Gute auf ihn als Zielpunkt der Dinge zuruck. Das Leben Jesu
Christi durchdrang den Erdkreis, nachdem das Licht des Evangeliums
aufgegangen und das große Geheimnis von der Menschwerdung Gottes und
der Erlösung unseres Geschlechtes verkündet war; es drang zu allen
Völkern, allen Klassen und gründete in ihnen den christlichen Glauben
und dessen sittliche Vorschriften. Es ergibt sich hieraus die
Notwendigkeit, daß, wenn man ein Heilmittel für die menschliche
Gesellschaft sucht, dasselbe nur in der christlichen Wiederherstellung
des öffentlichen und privaten Lebens beruht. Denn es ist ein bekanntes
Axiom, daß jede Gesellschaft, die sich aus Niedergang erheben will, im
Sinne ihres Ursprungs arbeiten muß. Durch das Streben nach dem beim
Ursprung gesetzten Ziele muß das entsprechende Leben in den
gesellschaftlichen Körper kommen. Abweichen vom Ziele ist
gleichbedeutend mit Verfall; Rückkehr zu demselben bedeutet Heilung.
Dies gilt vom ganzen Körper des Staates, und es gilt ebenso von der bei
weitem zahlreichsten Klasse von Staatsbürgern, den arbeitenden
Ständen.
23. Die Fürsorge der Kirche geht indessen nicht
so in der Pflege des geistigen Lebens auf, daß sie darüber der
Anliegen des irdischen Lebens vergäße. Sie ist vielmehr, insbesondre
dem Arbeiterstande gegenüber, vom eifrigen Streben erfüllt, die Not
des Lebens für ihn auch nach der materiellen Seite zu lindern und ihn
zu besseren Verhältnissen zu erheben. Schon durch ihre Anleitung zur
Sittlichkeit und Tugend fördert sie zugleich das materielle Wohl; denn
ein geregeltes christliches Leben hat stets seinen Anteil an der
Herbeiführung irdischer Wohlfahrt; es macht Gott, welcher Urquell und
Spender aller Wohlfahrt ist, dem Menschen geneigt, und es dringt zwei
Feinde zurück, welche allzu häufig mitten im Überflusse die Ursache
bittern Elends sind, die ungezügelte Habgier und die Genufisucht23; es
würzt ein bescheidenes irdisches Los mit dem Glücke der Zufriedenheit,
spendet in der Sparsamkeit einen Ersatz für die abgehenden
Glücksgüter und bewahrt vor Leichtsinn und Laster, wodurch auch der
ansehnlichste Wohlstand oft so schnell zugrunde gerichtet wird.
24. Aber die Kirche entfaltet außerdem auch
geeignete praktische Maßnahmen zur Milderung des materiellen Notstandes
der Besitzlosen; sie unterhält und fördert die verschiedensten
Anstalten zur Hebung ihres Daseins. Ja, daß ihre Tätigkeit in dieser
Hinsicht jederzeit eine höchst wohltätige gewesen, wird auch von ihren
Feinden mit lautem Lobe anerkannt. Zur Zeit der ersten Christen war die
brüderliche Liebe so mächtig, daß häufig Reiche all ihrer Habe sich
entblößten, um den Armen beizuspringen. Es gab infolgedessen, wie die
Heilige Schrift sagt, "keinen Dürftigen in der Mine der
Gläubigen"24. Das tägliche Almosengeben war die Aufgabe, welche
den Diakonen von den Aposteln gestellt ,wurde, und derentwegen
namentlich die besondere Weihestufe des Diakonats eingesetzt war. Der
heilige Apostel Paulus nahm es trotz seiner vielfältigen Sorgen für
alle Kirchen auf sich, den notleidenden Christen persönlich auf
mühevollen Reisen das Almosen zu bringen. Tertullian spricht von der
bei jeder Versammlung der Christen gespendeten Beisteuer; er nennt sie
"Hinterlage der Liebe" und sagt, sie diene "zum
Unterhalte der Armen und ihrem Begräbnis, den dürftigen Waisen
beiderlei Geschlechtes, den Greisen und den Schiffbrüchigen"25.
So floß allmählich ein kirchliches Patrimonium zusammen, und dasselbe
ward stets mit heiliger Sorgfalt als ein Erbschatz der Armen und
Notleidenden bewahrt. Die Kirche scheute sich nicht, auch als Bettlerin
zu den Türen der Reichen zu wandern, um den Bedrängten ein Scherflein
zu gewinnen. Sie war es, die gemeinsame Mutter von arm und reich, welche
dadurch, daß sie die christliche Nächstenliebe zu her Flamme
entzündete, besondere geistliche Orden erweckte und viele andere
Einrichtungen erstehen ließ zur Linderung der irdischen Not, auf daß
für jede Bedrängnis eine Abhilfe, für jeden Schmerz ein Trost
bestände.
Allerdings vernimmt man in der Gegenwart Stimmen, welche, wie die Heiden
es schon getan, Anklagen gegen die Kirche selbst in dieser
Liebestätigkeit suchen. An deren Stelle sucht man ein staatliches
System des Wohltuns einzuführen. Aber wo sind die staatlichen, die
menschlichen Einrichtungen, die sich an die Stelle der christlichen
Liebe und des Opfergeistes, die ihren Schwung von der Kirche empfangen,
zu setzen vermöchten? Nein, die Kirche allein besitzt das Geheimnis
dieses himmlischen Schwunges. Quillt die Liebe und Kraft nicht aus dem
heiligsten Herzen des Erlösers, so ist sie nichtig. Um aber des innern
Lebens des Erlösers teilhaftig zu werden, muß man ein lebendiges Glied
seiner Kirche sein.
25. Indessen ist nicht zu bezweifeln, daß zur
Lösung der sozialen Frage zugleich die menschlichen Mittel in Bewegung
gesetzt werden müssen. Alle, die es irgend berührt, müssen je nach
ihrer Stellung mitarbeiten. Es gibt hier das Wirken der göttlichen
Vorsehung, welche die Welt regiert, gewissermaßen ein Vorbild; denn
hängt der Ausgang von vielen Ursachen zugleich ab, so sehen wir, wie
eben diese Ursachen sich zur Erzielung der Wirkung zueinander gesellen.
Es handelt sich zunächst darum, welcher Anteil bei der Lösung der
Frage der Staatsgewalt zufalle. Unter Staatsgewalt verstehen Wir hier
nicht die zufällige Regierungsform der einzelnen Länder, sondern die
Staatsgewalt der Idee nach, wie sie durch die Natur und Vernunft
gefordert wird, und wie sie sich nach den Grundsätzen der Offenbarung,
die Wir in der Enzyklika über die christliche Staatsverfassung
entwikkelt haben, darstellt.
26. Die Beihilfe also, welche von den
Staatslenkern erwartet werden muß, besteht zunächst in einer
derartigen allgemeinen Einrichtung der Gesetzgebung und Verwaltung, daß
daraus von selbst das Wohlergehen der Gemeinschaft wie der einzelnen
empor blüht. Hier liegt die Aufgabe einer einsichtigen Regierung, die
wahre Pflicht jeder weisen Staatsleitung. Was aber im Staate vor allem
Glück und Friede verbürgt, das ist Ordnung, Zucht und Sitte, ein
wohlgeordnetes Familienleben, Heilighaltung von Religion und Recht,
mäßige Auflage und gleiche Verteilung der Lasten, Betriebsamkeit in
Gewerbe und Handel, günstiger Stand des Ackerbaues und anderes
ähnliche. Je umsichtiger alle diese Hebel benützt und gehandhabt
werden, desto gesicherter ist die Wohlfahrt der Glieder des Staates.
Hier eröffnet sich also eine weite Bahn, auf welcher der Staat für den
Nutzen aller Klassen der Bevölkerung und insbesondere für die Lage der
Arbeiter tätig sein kann; gebraucht er hier sein Recht, so ist durchaus
kein Vorwurf möglich, als ob er einen Übergriff beginge; denn nichts
geht den Staat seinem Wesen nach näher an als die Pflicht, das
Gemeinwohl zu fördern und je wirksamer und durchgreifender er es durch
allgemeine Maßnahmen tut, desto weniger brauchen anderweitige Mittel
zur Besserung der Arbeiterverhältnisse aufgesucht zu werden.
27. Es ist überdies als Wahrheit von
einschneidender Bedeutung vor Augen zu halten, daß der Staat für alle
da ist, in gleicher Weise für die Niedern wie für die Hohen. Die
Besitzlosen sind vom naturrechtlichen Standpunkt nicht minder Bürger
als die Besitzenden, d. h. sie sind wahre Teile des Staates, die am
Leben der aus der Gesamtheit der Familien gebildeten Staatsgemeinschaft
teilnehmen; und sie bilden zudem, was sehr ins Gewicht fällt, in jeder
Stadt bei weitem die größere Zahl der Einwohner. Wenn es also
unzulässig ist, nur für einen Teil der Staatsangehörigen zu sorgen,
den andern aber zu vernachlässigen, so muß der Staat durch
öffentliche Maßnahmen sich in gebührender Weise des Schutzes der
Arbeiter annehmen. Wenn dies nicht geschieht, so verletzt er die
Forderung der Gerechtigkeit, welche jedem das Seine zugeben befiehlt.
Richtig bemerkt in dieser Hinsicht der hl. Thomas: "Wie der Teil
und das Ganze gewissermaßen dasselbe sind, so gehört das, was dem
Ganzen gehört, auch gewissermaßen dem Teile an"26. Unter den
vielen und wichtigen Pflichten also, die eine für das Wohl der
Untertanen besorgte Staatsleitung zu erfüllen hat, ist es eine der
ersten, daß sie allen Klassen von Untertanen denselben Schutz
angedeihen lasse, in strenger Wahrung jener Gerechtigkeit, die man die
"verteilende" genannt hat.
Wenn auch alle Staatsangehörigen ohne Ausnahme an den Bestrebungen für
das Wohl des Staates sich zu beteiligen haben, indem ja alle die
Vorteile der Staatsgemeinschaft genießen, so können sich doch nicht
alle im gleichen Grade beteiligen. Wie immer die Regierungsform sich
gestalten mag, stets werden unter den Bürgern jene Standesunterschiede
da sein, ohne die überhaupt keine Gesellschaft denkbar ist. Stets wird
sich zum Beispiel ein Teil mit den Aufgaben des Staates selbst, mit der
Gesetzgebung, der Rechtsprechung, der Verwaltung und den militärischen
Angelegenheiten beschäftigen müssen; von selbst werden diese einen
höheren Rang unter den Staatsangehörigen einnehmen, weil sie
unmittelbar und in hervorragender Weise an dem Gemeinwohl arbeiten.
Tragen die übrigen Bürger, z.B. die Gewerbetreibenden, nicht in diesem
Maße zum öffentlichen Nutzen bei, so leisten jedoch auch sie offenbar
der öffentlichen Wohlfahrt Dienste, wenn auch nur mittelbare.
Allerdings besteht das Gemeinwohl vor allem in der Pflege von
Rechtschaffenheit und Tugend, und es gehört zum Begriffe sozialer
Wohlfahrt, daß sie die Menschen besser mache.
Aber auch die Beschaffung der irdischen Mittel, "deren
Vorhandensein und Gebrauch zur Ausübung der Tugend unerläßlich
ist"27, gehört ebenso zu einem gut eingerichteten Staate. Zur
Herstellung die5er Güter ist nun die Tätigkeit der Arbeiter besonders
wirksam und notwendig, sei es, daß sie ihre Geschicklichkeit und Hand
auf den Feldern oder an der Werkbank betätigen. Ja auf diesem Gebiete
ist ihre Kraft und Wirksamkeit so groß, daß es eine unumstößliche
Wahrheit ist, nicht anderswoher als aus der Arbeit der Werktätigen
entstehe Wohlhabenheit im Staate. Es ist also eine Forderung der
Billigkeit, daß man sich seitens der öffentlichen Gewalt des Arbeiters
annehme, damit er von dem, was er zum allgemeinen Nutzen beiträgt,
etwas empfängt, so daß er in Sicherheit hinsichtlich Wohnung, Kleidung
und Nahrung ein weniger schweres Leben führen kann. Daraus folgt, daß
alles zu fördern ist, was irgendwie der Lage der Arbeiterschaft nützen
kann. Wenn der Staat hierfür Sorge trägt, so fügt er dadurch niemand
Nachteil zu, er nützt vielmehr sehr der Gesamtheit, die ein offenbares
Interesse daran hat, daß ein Stand, welcher dem Staate so notwendige
Dienste leistet, nicht im Elend seine Existenz friste.
28. Der Bürger und die Familie sollen allerdings
nicht im Staate aufgehen, wie gesagt wurde, und die Freiheit der
Bewegung, soweit sie nicht dem öffentlichen Wohle oder dem Rechte
anderer zuwider ist, muß ihnen gewahrt bleiben. Indessen wirksame
Schutzmaßregeln der Regierung sollten der Gesamtheit und den einzelnen
Ständen gewidmet sein: der Gesamtheit, weil nach der Ordnung der Natur
deren Wohl nicht bloß das oberste Gesetz, sondern auch Grund und
Endzweck der höchsten Gewalt überhaupt ist; den einzelnen Ständen,
weil die Regierung der Gesamtheit nicht um der Regierenden willen,
sondern für die Regierten geführt wird, wie dies Vernunft und Glaube
lehren. Und da jede Autorität von Gott kommt, als ein Ausfluß der
höchsten Autorität, so ist auch die Regierung zu handhaben nach dem
Vorbilde der göttlichen Regierung, die da mit gleicher väterlicher
Liebe sowohl die Gesamtheit der Geschöpfe als die einzelnen Dinge
leitet. Droht also der staatlichen Gesamtheit oder einzelnen Ständen
ein Nachteil, dem anders nicht abzuhelfen ist, so ist es Sache des
Staates, einzugreifen.
29. Es liegt nun aber ebenso im öffentlichen wie
im privaten Interesse, daß im Staate Friede und Ordnung herrsche, daß
das ganze Familienleben den göttlichen Geboten und dem Naturgesetz
entspreche, daß die Religion geachtet und geübt werde, daß im
privaten wie im öffentlichen Leben Reinheit der Sitte herrsche, daß
Recht und Gerechtigkeit gewahrt und nicht ungestraft verletzt werde,
daß die Jugend kräftig heranwachse zum Nutzen und, wo nötig, zur
Verteidigung des Gemeinwesens. Wenn also sich öffentliche Wirren
ankündigen infolge widersetzlicher Haltung der Arbeiter oder infolge
von verabredeter Arbeitseinstellung, wenn die natürlichen Familienbande
in den Kreisen der Besitzlosen zerrüttet werden, wenn bei den Arbeitern
die Religion gefährdet ist, indem ihnen nicht genügend Zeit und
Gelegenheit zu ihren gottesdienstlichen Pflichten gelassen wird, wenn
ihrer Sittlichkeit Gefahr droht durch die Art und Weise von
gemeinschaftlicher Verwendung beider Geschlechter bei der Arbeit oder
durch andere Lockungen zur Sünde, wenn die Arbeitgeber sie
ungerechterweise belasten oder sie zur Annahme von Bedingungen nötigen,
die der persönlichen Würde und den Menschenrechten zuwiderlaufen, wenn
ihre Gesundheit durch übermäßige Anstrengung oder ihrem Alter und
Geschlecht nicht entsprechende Anforderungen untergraben wird - in allen
diesen Fällen muß die Autorität und Gewalt der Gesetze innerhalb
gewisser Schranken sich geltend machen. Die Schranken werden durch
denselben Grund gezogen, aus welchem die Beihilfe der Gesetze verlangt
wird. Nur soweit es zur Hebung des Übels und zur Entfernung der Gefahr
nötig ist, nicht aber weiter, dürfen die staatlichen Maßnahmen in die
Verhältnisse der Bürger eingreifen.
Wenn aber überhaupt alle Rechte der Staatsangehörigen sorgfältig
beachtet werden müssen, und die öffentliche Gewalt darüber zu wachen
hat, daß jedem das Seine bleibe, und daß alle Verletzung der
Gerechtigkeit abgewehrt werde oder Strafe finde, so muß doch der Staat
beim Rechtsschutze zugunsten der Privaten eine ganz besondere Fürsorge
für die niedere, besitzlose Masse sich angelegen seinlassen. Die
Wohlhabenden sind nämlich nicht in dem Maße auf den öffentlichen
Schutz angewiesen, sie haben selbst die Hilfe eher zur Hand; dagegen
hängen die Besitzlosen, ohne eigenen Boden unter den Füßen, fast ganz
von der Fürsorge des Staates ab. Die Lohnarbeiter also, die ja zumeist
die Besitzlosen bilden, müssen vom Staat in besondere Obhut genommen
werden.
30. Doch es sind hier noch einzelne Momente
besonders zu betonen. Das erste ist, daß die öffentliche Autorität
durch entschiedene Maßregeln das Recht und die Sicherheit des privaten
Besitzes gewährleisten muß. Die Bewegung der Masse, wenn in ihr die
Gier nach fremder Habe erwacht, muß mit Kraft gezügelt werden. Ein
Streben nach Verbesserung der eigenen Lage ohne ungerechte Schädigung
anderer tadelt niemand, aber auf Aneignung fremden Besitzes ausgehen,
und dies unter dem törichten Vorgeben, es müsse eine Gleichmachung in
der Gesellschaft erfolgen, das ist ein Angriff auf die Gerechtigkeit und
auf das Gemeinwohl zugleich. Ohne Zweifel zieht es der allergrößte
Teil der Arbeiter vor, durch ehrliche Arbeit und ohne Beeinträchtigung
des Nächsten sich zu einer besseren Stellung zu erschwingen. Aber
zahlreich sind auch die Unruhestifter, die Verbreiter falscher Ideen,
denen jedes Mittel recht ist, um einen Umsturz vorzubereiten und das
Volk zur Gewalttätigkeit zu verleiten. Es muß also die Staats gewalt
dazwischentreten, dem Hetzen Einhalt gebieten, die friedliche Arbeit vor
der Verführung und Aufreizung schützen, den rechtmäßigen Besitz
gegen den Raub sicherstellen.
31. Nicht selten greifen die Arbeiter zu
gemeinsamer Arbeitseinstellung, wenn ihnen die Anforderungen zu schwer,
die Arbeitsdauer zu lang, der Lohnsatz zu gering erscheint. Dieses
Vorgehen, das in der Gegenwart immer häufiger wird und immer weiteren
Umfang annimnnt, fordert die öffentliche Gewalt auf, dagegen Abhilfe zu
schaffen; denn die Ausstände gereichen nicht bloß den Arbeitgebern
mitsamt den Arbeitern zum Schaden, sie benachteiligen auch empfindlich
Handel und Industrie, überhaupt den ganzen öffentlichen Wohlstand.
Außerdem geben sie erfahrungsmäßig häufig Anlaß zu
Gewalttätigkeiten und Unruhen und stören so den Frieden im Staate.
Demgegenüber ist diejenige Art der Abwehr am wirksamsten und
heilsamsten, welche durch entsprechende Anordnungen und Gesetze dem
Übel zuvorzukommen trachtet und sein Entstehen hindert durch
Beseitigung jener Ursachen, die den Konflikt zwischen den Anforderungen
der Arbeitsherren und der Arbeiter herbeizuführen pflegen.
32. Der Staat ist ferner den Arbeitern in
mehrfacher praktischer Richtung einen Schutz schuldig, und zwar
zunächst in Hinsicht ihrer geistigen Güter. Ist auch das irdische
Leben fürwahr ein Gut, das aller Sorge wert ist, so besteht doch in ihm
nicht das höchste uns gesetzte Ziel. Es hat nur als Weg, als Mittel zur
Erreichung des Lebens der Seele zu gelten. Dieses Leben der Seele ist
Erkenntnis der Wahrheit und Liebe zum Guten. In die Seele ist das
erhabene Ebenbild des Schöpfers eingedrückt, und in ihr thront jene
hohe Würde des Menschen, kraft deren er über die niedrigen Naturwesen
zu herrschen und Erde und Meer sich dienstbar zu machen berufen ist.
"Erfüllet die Erde und unterwerfet sie, und herrschet über die
Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und alle Tiere, die sich
bewegen auf der Erde."28 Unter dieser Rücksicht sind alle Menschen
gleich; kein Unterschied der Menschenwürde zwischen reich und arm, Herr
und Diener, Fürst und Untertan, "denn derselbe ist der Herr
aller"29. Keine Gewalt darf sich ungestraft an der Würde des
Menschen vergreifen, da doch Gott selbst "mit großer
Achtung", wie es heißt, über ihn verfügt; keine Gewalt darf ihn
auf dem Wege christlicher Pflicht und Tugend, der ihn zum ewigen Leben
im Himmel führen soll, zurückhalten. Ja, der Mensch besitzt nicht
einmal selbst die Vollmacht, auf die hierzu nötige Freiheit Verzicht zu
leisten und sich der Rechte, die seine Natur verlangt, zu begeben; denn
nicht um Befügnisse, die in seinem Belieben stehen, handelt es sich,
sondern um unausweichliche, über alles heilig zu haltende Pflichten
gegen Gott.
Hiermit ist die Grundlage der pflichtmäßigen Sonntagsruhe bezeichnet.
Die Sonntagsruhe bedeutet nicht soviel wie Genuß einer trägen
Untätigkeit. Noch weniger besteht sie in der Freiheit von Regel und
Ordnung, und sie ist nicht dazu da, wozu sie manchen erwünscht ist,
nämlich um Leichtsinn und Ausgelassenheit zu begünstigen oder um
Gelegenheit zu überflüssigen Ausgaben zu schaffen. Sie ist vielmehr
eine durch die Religion geheiligte Ruhe von der Arbeit. Die religiös
geweihte Ruhe enthebt den Menschen den Geschäften des täglichen
Lebens, der Last gewohnter Arbeit, um ihn aufzurufen zu Gedanken an die
Güter des Jenseits und zu den Pflichten der Gottesverehrung. Das ist
die Natur, das die Ursache der Sonntagsruhe. Das hat Gott im Alten
Testamente eindringlich durch das Gebot bekräftigt: "Gedenke, daß
du den Sabbath heiligest"30, und diesen Charakter verlieh er dieser
Ruhe, da er in seiner eigenen geheimnisvollen Ruhe nach der Erschaffung
des Menschen das Vorbild gab: "Er ruhte am siebten Tage von jedem
Werke, das er geschaffen hatte"31.
33. Was sodann den Schutz der irdischen Güter des
Arbeiterstandes angeht, so ist vor allem jener unwürdigen Lage ein Ende
zu machen, in welche derselbe durch den Eigennutz und die Hartherzigkeit
von Arbeitgebern versetzt ist, welche die Arbeiter maßlos ausbeuten und
sie nicht wie Menschen, sondern als Sachen behandeln. Die Gerechtigkeit
und die Menschlichkeit erheben Einspruch gegen Arbeitsforderungen von
solcher Höhe, daß der Körper unterliegt und der Geist sich abstumpft.
Wie im Menschen alles seine Grenzen hat, so auch die Leistungsfähigkeit
bei der Arbeit, und über die Schranken des Vermögens kann man nicht
hinausgehen. Die Arbeitskraft steigert sich freilich bei Übung und
Anpassung, aber nur dann verspricht sie die wirklich zukömmliche
Leistung, wenn zur rechten Zeit für Unterbrechung und Ruhe gesorgt ist.
In bezug auf die tägliche Arbeitszeit muß also der Grundsatz gelten,
daß sie nicht länger sein darf, als es den Kräften der Arbeiter
entspricht Wie lange die Ruhe aber dauern müsse, das richtet sich nach
der Art der Arbeit, nach Zeit und Ort, nach den körperlichen Kräften.
Bergund Grubenarbeiten erfordern offenbar größere Anstrengung als
andere und sind mehr gesundheitsschädlich; für sie muß also eine
kürzere Durchschnittszeitdauer angesetzt werden. Ebenso sind gewisse
Arbeiten in der einen Jahreszeit leicht zu leisten, zu einer andern
Jahreszeit aber gar nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten
ausführbar.
Endlich was ein erwachsener, kräftiger Mann leistet, dazu ist eine Frau
oder ein Kind nicht imstande. Die Kinderarbeit insbesondere erheischt
die menschenfreundlichste Fürsorge. Es wäre nicht zuzulassen, daß
Kinder in die Werkstatt oder Fabrik eintreten, ehe Leib und Geist zur
gehörigen Reife gediehen sind. Die Entfaltung der Kräfte wird in den
jungen Wesen durch vorzeitige Anspannung erstickt, und ist einmal die
Blüte des kindlichen Alters gebrochen, so ist es um die ganze
Entwicklung in traurigster Weise geschehen. Ebenso ist durchaus zu
beachten, daß manche Arbeiten weniger zukömmlich sind für das
weibliche Geschlecht, welches überhaupt für die häuslichen
Verrichtungen eigentlich berufen ist. Diese letztere Gattung von Arbeit
gereicht dem Weibe zu einer Schutzwehr seiner Würde, erleichtert die
gute Erziehung der Kinder und befördert das häusliche Glück. Im
allgemeinen aber ist daran festzuhalten, daß den Arbeitern soviel Ruhe
zu sichern sei, als zur Herstellung ihrer bei der Arbeit aufgewendeten
Kräfte nötig ist: denn die Unterbrechung der Arbeit hat eben den
Ersatz der Kräfte zum Zwecke. Bei jeder Verbindlichkeit, die zwischen
Arbeitgebern und Arbeitern eingegangen wird, ist ausdrücklich oder
stillschweigend die Bedingung vorhanden, daß die obengenannte doppelte
Art von Ruhe dem Arbeiter gesichert sei. Eine Vereinbarung ohne diese
Bedingung wäre sittlich nicht zulässig, weil die Preisgabe von
Pflichten gegen Gott und gegen sich selbst von niemand gefordert und von
niemand zugestanden werden kann.
34. Wir berühren im Anschlusse hieran eine Frage
von sehr großer Wichtigkeit, bei welcher viel auf richtiges
Verständnis ankommt, damit nicht nach der einen oder der anderen Seite
hin gefehlt werde. Da der Lohnsatz vom Arbeiter angenommen wird, so
könnte es scheinen, als sei der Arbeitgeber nach erfolgter Auszahlung
des Lohnes aller weiteren Verbindlichkeiten enthoben. Man könnte
meinen, ein Unrecht läge nur dann vor, wenn entweder der Lohnherr einen
Teil der Zahlung zurückbehalte oder der Arbeiter nicht die
vollständige Leistung verrichte, und einzig in diesen Fällen sei für
die Staatsgewalt ein gerechter Grund zum Einschreiten vorhanden, damit
nämlich jedem das Seine zuteil werde.
Indes diese Schlußfolgerung kann nicht vollständigen Beifall finden;
der Gedankengang weist eine Lücke auf, indem ein wesentliches, hierher
gehöriges Moment übergangen wird. a ist das folgende: Arbeiten heißt,
seine Kräfte anstrengen zur Beschaffung der irdischen Bedürfnisse,
besonders des notwendigen Lebensunterhaltes "Im Schweiße deines
Angesichtes sollst du dein Brot essen"32. Zwei Eigenschaften wohnen
demzufolge der Arbeit inne: sie ist persönlich, insofern die betätigte
Kraft und Anstrengung persönliches Gut des Arbeitenden ist; und sie ist
notwendig, weil sie den Lebensunterhalt einbringen muß und eine strenge
natürliche Pflicht die Erhaltung des Daseins gebietet. Wenn man nun die
Arbeit lediglich, soweit sie persönlich ist, betrachtet, wird man nicht
in Abrede stellen können, daß es im Belieben des Arbeitenden steht, in
jeden verringerten Ansatz des Lohnes einzuwilligen; er leistet eben die
Arbeit nach persönlichem Entschluß und kann sich auch mit einem
geringen Lohne begnügen oder gänzlich auf denselben verzichten. Anders
aber stellt sich die Sache dar, wenn man die andere, unzertrennliche
Eigenschaft der Arbeit mit in Erwägung zieht, ihre Notwendigkeit. Die
Erhaltung des Lebens ist heilige Pflicht eines jeden. Hat demnach jeder
ein natürliches Recht, den Lebensunterhalt zu finden, so ist hinwieder
der Dürftige hierzu allein auf die Händearbeit notwendig angewiesen.
Wenn also auch immerhin die Vereinbarung zwischen Arbeiter und
Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei
geschieht, so bleibt dennoch eine Forderung der natürlichen
Gerechtigkeit bestehen, die nämlich, daß der Lohn nicht etwa so
niedrig sei, daß er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den
Lebensunterhalt nicht abwirft. Diese schwerwiegende Forderung ist
unabhängig von dem freien Willen der Vereinbarenden. Gesetzt, der
Arbeiter beugt sich aus reiner Not oder um einem schlimmeren Zustande zu
entgehen, den allzu harten Bedingungen, die ihm nun einmal vom
Arbeitsherrn oder Unternehmer auferlegt werden, so heißt das Gewalt
leiden, und die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang
Einspruch.
Damit aber in solchen Fragen wie diejenige der täglichen Arbeitszeit
die verschiedenen Arbeitsarten, und diejenige der Schutzmaßregeln gegen
körperliche Gefährdung, zumal in Fabriken, die öffentliche Gewalt
sich nicht in ungehöriger Weise einmische, so erscheint es in
Anbetracht der Verschiedenheit der zeitlichen und örtlichen Umstände
durchaus ratsam, jene Fragen vor die Ausschüsse zu bringen, von denen
Wir unten näher handeln werden, oder einen andern Weg zur Vertretung
der Interessen der Arbeiter einzuschlagen, je nach Erfordernis unter
Mitwirkung und Leitung des Staates.
35. Gewinnt der Arbeiter einen genügenden Lohn,
um sich mit Frau und Kind anständig zu erhalten, ist er zugleich weise
auf Sparsamkeit bedacht, so wird er es, wozu die Natur selbst anzuleiten
scheint, auch dahin bringen, daß er einen Sparpfennig zurücklegen und
zu einer kleinen Habe gelangen kann. Will man zu irgendeiner wirksamen
Lösung der sozialen Frage gelangen, so ist unter allen Umständen davon
auszugehen, daß das Recht auf persönlichen Besitz unbedingt
hochgehalten werden muß. Der Staat muß dieses Recht in seiner
Gesetzgebung begünstigen und nach Kräften dahin wirken, daß
möglichst viele aus den Staatsangehörigen eine eigene Habe zu erwerben
trachten. Ein solcher Zustand würde von beträchtlichen Vorteilen
begleitet sein. Dahin gehört zuerst eine der Billigkeit mehr
entsprechende Verteilung der irdischen Güter. Es ist eine Folge der
Umgestaltung der bürgerlichen Verhältnisse, daß die Bevölkerung der
Städte sich in zwei Klassen geschieden sieht, die eine ungeheure Kluft
voneinander trennt. Auf der einen Seite eine überreiche Partei, welche
Industrie und Markt völlig beherrscht, und weil sie Träger aller
Unternehmungen, Nerv aller gewinnbringenden Tätigkeit ist, nicht bloß
sich pekuniär immer stärker bereichert, sondern auch in staatlichen
Dingen zu einer einflußreichen Beteiligung mehr und mehr gelangt. Auf
der andem Seite jene Menge, die der Güter dieses Lebens entbehren muß
und die mit Erbitterung erfüllt und zu Unruhen geneigt ist. Wenn nun
diesen niederen Klassen Antrieb gegeben wird, bei Fleiß und Anstrengung
zu einem kleinen Grundbesitze zu gelangen, so müßte allmählich eine
Annäherung der Lage beider Stände stattfinden; es würden die
Gegensätze von äußerster Armut und aufgehäuftem Reichtum mehr und
mehr verschwinden. Es würde dabei zugleich der Reichtum der
Bodenerzeugnisse ohne Zweifel gewinnen. Denn bei dem Bewußtsein, auf
Eigentum zu arbeiten, arbeitet man ohne Zweifel mit größerer
Betriebsamkeit und Hingabe; man schätzt den Boden in demselben Maße,
als man ihm Mühe opfert; man gewinnt ihn lieb, wenn man in ihm die
versprechende Quelle eines kleinen Wohlstandes für sich und die Familie
erblickt. Es liegt also auf der Hand, wieviel der Ertrag, wie viel der
Gesamtwohlstand des Volkes gewinnen würde. Als dritter Vorteil ist zu
nennen die Stärkung des Heimatgefühles, der Liebe zum Boden, welcher
die Stätte des elterlichen Hauses, der Ort der Geburt und Erziehung
gewesen. Sicher würden viele Auswanderer, die jetzt in der Ferne eine
andere Heimat suchen, die bleibende Ansässigkeit zu Hause vorziehen,
wenn die Heimat ihnen eine erträgliche materielle Existenz darböte.
Obige Vorteile werden jedoch offenbar dann nicht gewonnen, wenn 1er
Staat seinen Angehörigen so hohe Steuern auferlegt, daß dadurch las
Privateigentum aufgezehrt wird. Denn da das Recht auf Privatbesitz nicht
durch ein menschliches Gesetz, sondern durch die Natur gegeben ist, kann
es der Staat nicht aufheben, sondern nur seine Handhabung regeln und mit
dem allgemeinen Wohl in Einklang bringen. Es ist also gegen Recht und
Billigkeit, wenn der Staat vom Vermögen der Untertanen einen
übergroßen Anteil als Steuer entzieht.
36. Endlich können und müssen aber auch die
Arbeitgeber und die Arbeiter selbst zu einer gedeihlichen Lösung der
Frage durch Maßnahmen und Einrichtungen mitwirken, die den Notstand
möglichst heben und die eine Klasse der andern näherbringen helfen.
Hierher gehören Vereine z" gegenseitiger Unterstützung, private
Veranstaltungen zur Hilfeleistung für den Arbeiter und seine Familie
bei plötzlichem Unglück, in Krankheitsund Todesfällen, Einrichtungen
zum Schutz für Kinder, jugendliche Personen oder auch Erwachsene. Den
ersten Platz aber nehmen in dieser Hinsicht die Arbeitervereinigungen
ein, unter deren Zweck einigermaßen alles andere Genannte fällt. In
der Vergangenheit haben die Korporationen von Handwerkern lange Zeit
eine gedeihliche Wirksamkeit entfaltet. Sie brachten nicht bloß ihren
Mitgliedern erhebliche Vorteile, sondern trugen auch viel bei zur
Entwicklung und zur Ehre des Handwerkes, wie die Geschichte dessen Zeuge
ist. In einer Zeit wie der unsrigen mit ihren geänderten
Lebensgewohnheiten können natürlich nicht die alten Innungen in ihrer
ehemaligen Gestalt wieder ins Leben gerufen werden; die neuen Sitten,
der Fortschritt in Wissenschaft und Bildung, die gesteigerten
Lebensbedürfnisse, alles stellt andere Anforderungen. Es ist notwendig,
daß die Vereinigungen der Arbeiter sich nach den neuen Verhältnissen
einrichten. Sehr erfreulich ist es, daß in unserer Zeit mehr und mehr
Vereinigungen jener Art entstehen, sei es, daß sie aus Arbeitern allein
oder aus Arbeitern und Arbeitgebern sich bilden, und man kann nur
wünschen, daß sie an Zahl und an innerer Kraft zunehmen. Obgleich Wir
schon wiederholt von den Arbeitervereinen gesprochen haben, wollen Wir
doch an dieser Stelle eingehender ihre Zeitgemäßheit und Berechtigung
darlegen, indem Wir damit das Nötige über ihre Einrichtung und die von
ihnen festzuhaltenden Ziele verbinden.
37. Es ist die Beschränktheit der eigenen
Kräfte, die den Menschen stets von selbst dazu antreibt, sich mit
andern zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung zu verbinden. "Es
ist besser, daß zwei zusammen seien, als daß einer allein stehe; sie
haben den Vorteil ihrer Gemeinschaft. Fällt der eine, so wird er vom
andern gehalten. Wehe dem Vereinzelten! Wenn er fällt, so hat er
niemand, der ihn aufrichtet"33. So das Wort der Heiligen Schrift.
Und wiederum: "Der Bruder, der vom Bruder unterstützt wird, ist
gleich einer festen Stadt"34. Wie also dieser natürliche Zug zur
Gemeinschaft den Menschen zum staatlichen Zusammenleben führt, so
treibt er ihn auch zu den verschiedensten Vereinigungen mit andern
Menschen. Wenngleich es nur kleine und keine vollkommenen Gesellschaften
sind, die durch solche Vereinigungen entstehen, so sind es doch wahre
Gesellschaften.
Zwischen ihnen und der großen staatlichen Gesellschaft besteht ein
mannigfacher Unterschied. Der Zweck des Staates umfaßt alle Einwohner,
denn er geht auf die allgemeine öffentliche Wohlfahrt, deren Vorteile
alle zu genießen das Recht haben; und der Staat wird eben darum als das
"Gemeinwesen" bezeichnet, weil in demselben, um mit dem hl.
Thomas zu sprechen, "die Menschen sich vereinigen, um eine
Gemeinschaft zu bilden"35. Jene Gesellschaften hingegen, die sich
im Schoße des Staates bilden, heißen private, weil ihr nächster Zweck
der private Nutzen, nämlich der Nutzen ihrer Mitglieder, ist.
"Eine private Gesellschaft", sagt der hl. Thomas, "ist
jene, welche ein privates Ziel verfolgt; eine solche ist z.B. vorhanden,
wenn zwei oder drei sich zur Durchführung eines Handelsgeschäftes
verbinden"36.
38. Wenngleich nun diese privaten Gesellschaften
innerhalb der staatlichen Gesellschaft bestehen und gewissermaßen einen
Teil von ihr bilden, so besitzt der Staat nicht schlechthin die
Vollmacht, ihr Dasein zu verbieten. Sie ruhen auf der Grundlage des
Naturrechtes; das Naturrecht aber kann der Staat nicht vernichten, sein
Beruf ist es vielmehr, dasselbe zu schützen. Verbietet ein Staat
dennoch die Bildung solcher Genossenschaften, so handelt er gegen sein
eigenes Prinzip, da er ja selbst, ganz ebenso wie die privaten
Gesellschaften unter den Staatsangehörigen, einzig aus dem natürlichen
Trieb des Menschen zu gegenseitiger Vereinigung entspringt. Allerdings
ist in manchen einzelnen Fällen die staatliche Gewalt vollauf
berechtigt, gegen Vereine vorzugehen; so wenn sie sich zu Zielen
bekennen, die offenkundig gegen Recht und Sittlichkeit oder sonstwie
gegen die öffentliche Wohlfahrt gerichtet sind. Steht dem Staat die
Befugnis zu, die Bildung solcher Vereine zu verhindern und bestehende
aufzulösen, so liegt es ihm andererseits sehr strenge ob, jeden Schein
des Eingriffs in die Rechte der Bürger zu unterlassen. Der Vorwand des
nötigen Schutzes für die öffentlichen Interessen darf ihn auf keine
Weise zu Schritten verleiten, die nicht auf vernünftigem Grunde
beruhen. Denn staatliche Gesetze und Anordnungen besitzen inneren
Anspruch auf Gehorsam nur, insofern sie der richtigen Vernunft und damit
dem ewigen Gesetze Gottes entsprechen37.
39. Wir gedenken hier der mannigfachen
Genossenschaften, Vereine und geistlichen Orden, welche auf dem Boden
der Kirche entsprossen sind, Gründungen der Kirche und der frommen
Gesinnung ihrer Kinder. Wie viel Segen sie gebracht haben, davon ist die
Vergangenheit bis auf unsere Tage Zeuge. Der sittliche Charakter ihres
Zweckes sagt schon der bloßen Vernunft, daß sie, auf dem Naturrecht
gründend, ein natürliches und unbestreitbares Recht des Bestandes
haben. Insoweit sie aber die Religion berühren, hat ausschließlich die
Kirche über sie zu verfügen. Die Regierungen besitzen keinerlei Recht
über sie und sind auch nicht bevollmächtigt, ihre äußere Verwaltung
an sich zu ziehen; sie sind ihnen im Gegenteil den Tribut der Achtung
und des Schutzes schuldig; sie haben die Pflicht, für dieselben
einzutreten, um gegebenenfalls Unrecht von ihnen abzuwehren. Leider
haben Wir indessen, namentlich in letzter Zeit, ganz andere Dinge
geschehen sehen. An vielen Orten ist die staatliche Obrigkeit gegen jene
Korporationen mit ungerechten und verletzenden Maßregeln vorgegangen;
sie hat die Freiheit derselben durch gehässige Gesetzesbestimmungen
eingeschränkt, hat ihnen Stellung und Rechte einer juristischen Person
entzogen, hat sie schnöde ihres Vermögens beraubt. Auf das Vermögen
besaß aber nicht bloß die Kirche unveräußerliche Rechte, sondern
auch die Mitglieder, ferner die Stifter und Wohltäter, welche ihre
Beiträge für jene frommen Zwecke bestimmt hatten, und endlich
diejenigen, für deren Bestes die Stiftungen geschaffen waren. Deshalb
können Wir Uns nicht enthalten, gegen jene ungerechten und
verderblichen Beraubungen Beschwerde zu erheben. Hierbei ist
insbesondere dies ein betrübender Umstand, daß den friedlichen und
allseitig nützlichen Vereinigungen von Katholiken der Weg verlegt wird
zu gleicher Zeit, wo man verkündet, daß Vereinsfreiheit ein
allgemeines gesetzliches Gut sei, und wo ihr Gebrauch
religionsfeindlichen und staatsgefährlichen Verbindungen im weitesten
Umfange gestattet wird.
40. Die verschiedensten Genossenschaften und
Vereinigungen treten In unserer Zeit, zumal in den Arbeiterkreisen, in
viel größerer Zahl auf als früher. Woher manche ihren Ursprung
nehmen, wohin sie zielen, auf welchem Wege sie vorangehen, das ist hier
nicht zu untersuchen. Aber Wir müssen auf die allgemeine, durch
Tatsachen gestützte Meinung hinweisen, daß sie vielfach einer
einheitlichen geheimen Leitung gehorchen und Einrichtungen haben, die
dem Wohle der Religion und des Staates nicht entsprechen; daß sie
darauf ausgehen, ein gewisses Arbeitsmonopol an sich zu reißen und die
charakterfesten Arbeiter, die den Beitritt ablehnen, in Not und Elend
bringen. Damit sehen sich christlich gesinnte Arbeiter vor die Wahl
gestellt, entweder Mitglieder von Bünden zu werden, die ihrer Religion
Gefahr bringen, oder aber ihrerseits Vereine zu gründen, um mit
gemeinsamen Kräften gegen jenes schmähliche System der Unterdrückung
anzukämpfen. Jeder, der nicht die höchsten Güter der Menschheit aufs
Spiel gesetzt sehen will, muß das letztere als höchst zeitgemäß und
wünschenswert betrachten.
41. In klarer Erkenntnis der Forderungen der Zeit
beschäftigt sich eine Reihe katholischer Männer mit dem Studium der
sozialen Frage, und sie verdienen das höchste Lob für die Hingebung,
mit welcher sie die Mittel aufsuchen und erproben, durch welche die
Besitzlosen nach und nach in eine bessere Lage versetzt werden können.
Wir sehen sie des herrschenden Übelstandes und der materiellen Stellung
der Familien und der einzelnen sich annehmen. Sie arbeiten dahin daß in
der gegenseitigen Verbindlichkeit zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern Billigkeit und Gerechtigkeit zur Geltung kommen. Sie
suchen in anerkennenswerter Weise bei beiden Teilen das Gefühl der
lfflicht und den Gehorsam gegen die Vorschriften des heiligen
Evangeliums zu kräftigen; diese göttlichen Vorschriften sind es ja,
welche der Genußsucht und der Unmäßigkeit mit Macht Grenzen ziehen
und bei aller Ungleichheit der gesellschaftlichen Stände eine
friedliche Wechselbeziehung zwischen denselben aufrechterhalten.
Treffliche Männer vereinigen sich zu Versammlungen, um das Vorgehen
zugunsten der Arbeiter zu beraten und die sich ergebenden schwierigen
Fragen einer Lösung näherzubringen. Anderwärts ist das löbliche
Bestreben wach geworden, Handwerker und Arbeiter in Vereinen zu
organisieren und sie mit Rat und Tat zu unterstützen, auch in der
Richtung, daß ihnen eine dauernde und einträgliche Arbeit gesichert
sei. Die Bischöfe aber eifern diese ganze Tätigkeit an und bieten ihr
einen Rückhalt mit ihrer Autorität. Im Namen der Bischöfe beteiligen
sich Mitglieder des Weltund Ordensklerus an der Leitung der Vereine nach
ihrer geistigen Seite. Es fehlt auch nicht an reichen Katholiken, die
sich mit Großmut zu Gönnern und Genossen des arbeitenden Standes
machen, und die für die Errichtung und Ausbreitung von Vereinen
ansehnliche Geldrnittel auswerfen; sie verhelfen damit dem Arbeiter,
welcher teilnimmt, zu einem regelmäßigen und ausreichenden Unterhalt,
ja versetzen ihn in die Möglichkeit, für das Alter sich ein kleines
Vermögen zurückzulegen, das jhrl der Sorge enthebt. Es braucht nicht
gesagt zu werden, welchen Nutzen bisher schon diese vielfache und
eifrige Tätigkeit geschaffen hat. Wir nähren im Hinblick darauf die
besten Hoffnungen für die Zukunft, wenn anders diese Vereine sich an
Zahl vermehren, und wenn sie weise organisiert werden. Der Staat sollte
ihnen seine schützende Hand leihen, aber in ihre inneren
Angelegenheiten nicht eingreifen; fremdartige Eingriffe gereichen sehr
leicht einem Leben, das von innen, vom eigenen Prinzip ausgehen muß,
zur Zerstörung..
42. Umsicht und Weisheit sind hier aufzuwenden zur
Erhaltung der notwendigen innern Einheit und Harmonie. Wenn also das
Vereinsrecht ein Recht der Staatsbürger ist, wie es tatsächlich der
Fall, so müssen auch jene Vereine ungehindert ihre Statuten und
Einrichtungen dem Zwecke entsprechend gestalten dürfen. Es ist
unmöglich, die Einrichtungen der gedachten Vereine in einer für alle
geltenden Form vorzuzeichnen; dazu hängen sie zu sehr vom
Volkscharakter, von den Erfahrungen, von der wirtschaftlichen
Entwicklung, von der Art und Einträglichkeit der verschiedenen
Arbeiten, endlich von manchen anderen Umständen ab, die in Erwägung zu
ziehen sind. Vor allem kommt es darauf an, bei Gründung und Leitung
dieser Vereine ihren Zweck im Auge zu behalten und demselben die
Statuten und alle Tätigkeit dienstbar zu machen; Zweck aber ist die
Hebung und Förderung der leiblichen und geistigen Lage der Arbeiter.
Das religiöse Element muß dem Verein zu einer Grundlage seiner
Einrichtungen werden. Die Religiosität der Mitglieder soll das
wichtigste Ziel sein, und darum muß der christliche Glaube die ganze
Organisation durchdringen. Andernfalls würde der Verein in Bälde sein
ursprüngliches Gepräge einbüßen; er würde nicht viel besser sein
als jene Bünde, die auf die Religion keine Rücksicht zu nehmen
pflegen. Was nützt es aber dem Arbeiter, für seine irdische Wohlfahrt
noch soviel Vorteile vom Verein zu gewinnen, wenn aus Mangel an
geistiger Nahrung seine Seele in Gefahr kommt? "Was nützt es dem
Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden
leidet?"38 Christus der Herr hat ein unterscheidendes Merkmal
zwischen Heiden und Christen in den Worten aufgestellt; "Diesem
allem gehen die Heiden nach... Suchet zuerst das Reich Gottes und seine
Gerechtigkeit, und dieses alles wird euch hinzugegeben werden"39.
Indem alle jene Vereine das Reich Gottes zum letzten Zielpunkt nehmen,
sollen sie darauf bedacht sein, den religiösen Unterricht der Arbeiter
zu befördern. Die Unwissenheit in Glaubenssachen, die wachsende
Unkenntnis der Pflichten gegen Gott und den Nächsten soll durch
geeignete Unterweisungen bekämpft werden. Man sorge für gründliche
Aufklärung über die Irrtümer der Zeit und über die Trugschlüsse der
Glaubensfeinde, für Belehrung und Warnung gegen die Lockmittel der
Verführung. Man erwecke bei den Mitgliedern Hochschätzung der
Frömmigkeit und des Gottesdienstes; insbesondere halte man sie zur
religiösen Feier der Sonnund Festtage an. Man lehre den Arbeiter, die
Kirche Gottes als allgemeine Mutter verehren und lieben, ihre Gebote
befolgen und die göttlichen Gnadenmittel ihrer Sakramente, welche die
Seele reinigen und das Gnadenleben erschließen, öfters
empfangen.
43. Hat der Verein in dieser Weise die Religion
zum Fundament genommen, so ist damit schon eine Richtung gegeben für
die Festsetzung des gegenseitigen Verhältnisses der Vereinsgenossen,
und die Folge ist ein einträchtiges Zusammenleben und das Gedeihen der
Sache. Dem Zweck entsprechend sind die Ämter so zu verteilen, daß
nicht ein zu großer Abstand der Personen und Interessen die Eintracht
gefährde. Auch soll man streben, alle Klagen wegen Beeinträchtigung
von Mitgliedern abzuschneiden durch klare und einsichtige Vorzeichnung
des Geschäftskreises, Die gemeinsame Kasse werde gewissenhaft
verwaltet. Die dem einzelnen zu gewährende Hilfe bestimme man nach dem
wahren Bedürfnisse. Als Ziel gelte stets das gesunde Verhältnis
zwischen Arbeitern und Lohnherren in bezug auf Rechte und Pflichten. Zur
Erledigung von Beschwerden der einen und der andern Seite sollten
Ausschüsse aus unbescholtenen und erfahrenen Männern derselben
Vereinigung gebildet werden mit einer durch die Statuten
gewährleisteten Geltung ihres Schiedsspruches.
Ein Hauptbemühen hat dahin zu gehen, daß es den Mitgliedern nie an
Arbeit fehle, und daß eine gemeinsame Kasse vorhanden sei, aus welcher
den einzelnen die Unterstützungen zufließen bei Arbeitsstockungen, in
Krankheit, im Alter und bei Unglücksfällen.
Wofern derlei Bestimmungen entgegenkommend gehandhabt werden, wird
gewiß manches zur Besserung der Lage des dürftigeren Teiles erreicht
sein, und ohne Zweifel werden die katholischen Arbeiterverbände einen
kräftigen Hebel zur Förderung der öffentlichen Wohlfahrt abgeben
können. Die Vergangenheit gestattet in mancher Hinsicht auch auf
unserem Gebiete einen Blick in die Zukunft. Es wiederholen sich die
gleichen Erscheinungen bei allem Wechsel der Zeiten und der Völker oft
mit wunderbarer Ähnlichkeit, weil der Weltlauf der Vorsehung Gottes
untergeordnet ist, welche nach ewigem Plane alle Dinge ihrem höchsten
Zwecke anbequemt und dienstbar macht. Bekannt ist, daß dem Christentum
in den ersten Jahrhunderten der Vorwurf entgegengehalten wurde, seine
Anhänger seien meist nur arme Leute, die von Händearbeit lebten.
Indessen diese Armen, diese Verachteten errangen allmählich die Gunst
der Reichen und Mächtigen. Sie boten der Welt ein Schauspiel der
Arbeitsamkeit, der Friedfertigkeit, aller Rechtschaffenheit und zumal
der brüderlichen Liebe. Gegenüber diesem beredten Zeugnisse ihres
Wandels schwanden die Vorurteile, verstummten die gehässigen Anklagen,
und der heidnische Unglaube mußte sich vor dem aufstrahlenden Lichte
der christlichen Wahrheit nach und nach zurückziehen.
44. In der Gegenwart ist die Lage der Arbeiter
Gegenstand vielfachen Streites. Daß dieser Streit eine friedliche und
gesetzmäßige Lösung finde, liegt nach beiden Seiten hin im höchsten
Interesse des Staates. Die Frage wird aber durch die christlich
gesinnten Arbeiter einer richtigen Lösung nähergeführt werden, wenn
diese in gut organisierten Vereinigungen und unter weiser Führung
denselben Weg einschlagen, welchen die Christen im Altertum der
heidnischen Welt gegenüber zu ihrem eigenen Heil und dem der
Gesellschaft eingehalten haben. Denn so stark auch die Macht des
Vorurteils und der Leidenschaft ist, so wird dennoch überall, wo nicht
ein verderbter Wille das Gefühl für Recht und Wahrheit abgestumpft
hat, die öffentliche Gunst sich Männern zuwenden, welche Fleiß und
Mäßigung auf ihre Fahne geschrieben haben; man wird gerne für
Arbeiter Partei ergreifen, denen Billigkeit über den Gewinn und ernste
Plichttreue über alle andem Rücksichten geht. Die Verbreitung dieser
Arbeiterverbände würde auch denjenigen Arbeitern zugute kommen und
ihre Rückkehr zu besserer Gesinnung erleichtern, welche Glauben oder
Sittlichkeit darangegeben haben. Auch sie erkennen oft genug, daß
falsche Hoffnung und trügerischer Schein sie täuschte; sie fühlen es,
wie hart sie von geldgierigen Herren behandelt, und daß sie nur nach
der Höhe des Gewinnes, den sie ihnen bringen, gewertet werden. Es ist
ihnen nicht verborgen, daß in den Verbänden, denen sie sich
angeschlossen haben, an Stelle gegenseitiger Achtung und Liebe innere
Zwietracht herrscht, die ja immer im Gefolge der gewissenlosen und
glaubenslosen Armut auftritt. Wie gar viele dieser Unglücklichen, die
körperlich gebrochen und geistig entmutigt sind, möchten solch
erniedrigender Knechtschaft entrinnen; sie wagten es aber nicht, sei es,
daß sie die Scham oder die Furcht vor Armut zurückhält. Diesen allen
nun könnten die katholischen Arbeiterverbände große Hilfe bringen,
wenn sie nämlich die Schwankenden zur Erleichterung ihrer schwierigen
Lage in ihre Gemeinschaft einladen und den Zurückkehrenden Schutz und
brüderliche Teilnahme erweisen würden.
45. Im vorstehenden haben Wir Euch gezeigt,
Ehrwürdige Brüder, wer zur Mitwirkung bei der Lösung der wichtigen
sozialen Frage berufen ist und wie die Mitwirkung sich zu gestalten hat.
Möge jeder Berufene Hand anlegen und ohne Verzug, damit die Heilung des
bereits gewaltig angewachsenen Übels nicht durch Säumnis noch
schwieriger werde. Die Staatsregierungen mögen durch Gesetze und
Verordnungen vorgehen; die Reichen und die Arbeitsherren mögen sich
ihrer Pflicht bewußt bleiben; die Besitzlosen, um deren Los es sich
handelt, mögen auf gerechte Weise ihre Interessen vertreten; und da die
Religion, wie Wir zu Anfang gesagt haben, allein zu einer vollkommenen
innern Abhilfe der Mißstände befähigt ist, so möge sich die
Überzeugung immer mehr verbreiten, daß es vor allem auf die
Wiederbelebung christlicher Gesinnung und Sitte ankommt, ohne welche
alle noch so vielversprechenden Maßnahmen menschlicher Klugheit, wahres
Heil zu schaffen, unvermögend bleiben.
Was aber die Kirche angeht, so wird diese keinen Augenblick ihre
allseitige Hilfe vermissen lassen. Ihre Tätigkeit wird um so wirksamer
sein, je größere Freiheit der Bewegung ihr gelassen wird. Mögen dies
namentlich diejenigen vor Augen haben, in deren Hände die Sorge für
das Heil der Staaten gelegt ist. Mögen alle Glieder der Geistlichkeit
ihre volle Kraft und allen Eifer der großen Aufgabe widmen, unter Eurer
Führung und nach Eurem Beispiele und Vorgange, Ehrwürdige Brüder,
unennüdlich die Grundsätze des heiligen Evangeliums allen Ständen
vorhalten und einschärfen, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln
am Heile des Volkes arbeiten, vor allem aber die Liebe, aller Tugenden
Herrin und Königin, in sich bewahren und in den andern, Hohen wie
Niederen, anfachen. Das Heil ist ja insbesondere von der vollen
Betätigung der Liebe zu erwarten, jener christlichen Liebe, die der
kurzgefaßte Inbegriff der evangelischen Gebote ist, die, immer bereit,
sich selbst für des Nächsten Heil zu opfern, das heilkräftigste
Gegengift gegen den Hochmut und Egoismus der Welt darstellt, und deren
göttliches Bild und Walten der Apostel Paulus mit den Worten gezeichnet
hat: "Die Liebe ist geduldig, sie ist gütig; sie sucht nicht das
Ihrige, sie duldet alles, sie trägt alles"40.
Als Unterpfand des göttlichen Segens und Erweis Unseres Wohlwollens
spenden Wir Euch, Ehrwürdige Brüder, Eurem Klerus und Volke in Liebe
den Apostolischen Segen im Herrn.
Gegeben zu Rom bei St. Peter am 15. Mai 1891, im vierzehnten Jahre
Unseres Pontifikates.
Leo XIII., Papst
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