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Auf die globale Hochkonjunkturphase während des
Aufschwungs nach 1850 folgte seit 1873 in den meisten okzidentalen
Industriestaaten eine 22 Jahre lang währende Verlangsamung des
wirtschaftlichen- Wachstums: die überwiegend von Stockungsspannen
bestimmte Trendperiode bis 1896. Sie zerfiel in drei zyklische
Depressionen, die von zwei Aufschwüngen unterbrochen wurden. Die zweite
Weltwirtschaftskrise von 1873 ging in eine bis 1879 währende
industrielle Tiefkonjunktur über, die durch schwere Stagnation, rapiden
Preisverfall, ja zeitweilig sogar durch Schrumpfungserscheinungen auf
der Mengenseite der Wirtschaft gekennzeichnet war. Vom Herbst 1879 bis
Spätsommer 1882 hielt sich die aufsteigende Tendenz, ehe erneut mit
Wucht eine zweite bis 1886 dauernde Depression einsetzte. Nachdem soeben
die ökonomische Entwicklung endlich wieder eine Tempozunahme erlebt und
ein noch zaghafter Optimismus sich hervorgewagt hatte, wurde der Rückfall
in die Depression um so stärker als Schock empfunden - eine bittere
Erfahrung, die außerdem durch eine strukturelle Agrarkrise, die sich
gerade jetzt voll auszuwirken begann, eingeätzt wurde. Die tiefe Enttäuschung
über den Rückfall, sowie die kumulative Wirkung der industriellen und
der agrarischen Stockung haben dieser zweiten Depression eine ungemein
folgenreiche Bedeutung gegeben, die uns vor allem im Hinblick auf die
deutsche, doch auch auf die amerikanische, englische und französische
Geschichte noch beschäftigen wird.
1886 begann ein Aufschwung, der nach dem Boomjahr
1889 schon 1890 erneut unterbrochen wurde, weithin symbolisiert durch
den Zusammenbruch des renommierten Londoner Bankhauses Baring. In Europa
setzte sich nach der relativ schwachen dritten Depression bis Ende 1895
die seit den 1880er Jahren deutlich vordringende Aufschwungstendenz
endlich durch, wogegen die Vereinigten Staaten seit 1893 noch eine (nur
mit 1873/79 und 1929/34 zu vergleichende) Verschärfung der Depression
erlebten. Der allgemein Ende 1896 voll einsetzende Aufstieg leitete 1897
in eine (nur 1900 und 1907 kurz unterbrochene) Hochkonjunkturphase der
Weltwirtschaft bis 1913: ihr goldenes Zeitalter, über.
Aufgrund von statistischen
Berechnungen, die von dem Frachtverkehr der Eisenbahnen der Welt und von
der Industrieproduktion der dreizehn wichtigsten Industrieländer
ausgehen, läßt sich eine universelle Zäsur im Trend der
Wachstumsraten der Weltproduktion und des Weltverkehrs seit 1873
nachweisen. Vor allem verlangsamte sich das Entwicklungstempo der
Weltproduktion an Kohle und Roheisen. Während die Weltkohlenproduktion
in der Aufschwungphase bis 1873 jährlich um 5,2 Prozent gewachsen war,
fiel sie zwischen 1873 und 1897 auf eine Jahresrate von 3,7 Prozent
hinab. Das Wachstum der Weltroheisenproduktion, die von 1848 bis 1873 jährlich
um 5,3 Prozent angestiegen war, sank zwischen 1873 und 1886 auf jährlich
3,3 Prozent. Seit 1873 erlitt mithin die Weltkohlen- und
Weltroheisenproduktion im Vergleich mit der vorhergehenden
Aufschwungsperiode eine beträchtliche jährliche Wachstums Verlangsamung.
Die Wachstumsrate der Weltdampfertonnage, die in den 25 Jahren vor 1873
jährlich 7,3 Prozent betragen hatte, verminderte sich zwischen 1873 und
1896 auf 5,8 Prozent im Jahr.
Die Jahresrate des Wachstums der Weltproduktion
insgesamt sank zwischen 1873 und 1896/97 von ca. 4,6 Prozent um 1,5
Prozent auf eine jährliche Durchschnittsrate von 3,1 Prozent, die dann
während der Hochkonjunkturperiode von 1897 bis 1913 auf 4,3 Prozent
hinaufkletterte.
Errechnet man einen Index der
Weltindustriewarenpreise (1870 = 100), so ergeben sich gemäß dem
deflationären Säkulartrend für den Konjunkturverlauf während der
Bismarckzeit folgende Meßziffern als Annäherungswerte. Von ihrem
Hochstand im Jahre 1873 (= 147) fielen die Indexzahlen bis 1879:
1874 - 122 1877-92
1875 - 107 1878-82
1876- 98 1879- 81
Sie zogen dann kurz an:
1880 -94 1881 -90 1882 -92
und sanken wieder, nunmehr zusammen mit den Agrarpreisen, bis 1886,
wobei sie 1885/86 ihren Tiefstand erreichten:
1883 -87 1885 -73
1884-78 1886 -73
Bis zum Baring-Krach und der dritten Depression stiegen sie:
1887 -76 1889 - 83 auf
1888-81 1890 - 89 an.
Aufmerksamen zeitgenössischen
Beobachtern ist der globale Charakter dieser Wachstumsstörungen vollauf
bewußt gewesen. In den aufschlußreichen jährlichen "Übersichten
der Weltwirtschaft" haben die Wiener Ökonomieprofessoren F. X. v.
Neumann-Spallart und F. v. Juraschek ein ungeheures Material aus der
internationalen Statistik zusammengetragen, das diese dreiphasigen
Konjunkturschwankungen klar widerspiegelt. Schon am Ende der ersten
Depression zog Neumann-Spallart daraus den Schluß, daß die Krise von
1873 "in den meisten Ländern" der Erde zu "einer
chronischen Erkrankung" geführt habe. Mit einer entmutigenden
wucht nahm die Depression ... allenthalben so unaufhaltsam zu",
ohne daß Anzeichen dauerhafter "Wiedergenesung"
bemerkbar" wurden. "Die Kaufkraft aller Völker des Erdballs
nahm seit 1833in einem vorher unerhörten Grade ab, und die ehernsten
Grundfesten des Wohlstands schienen den zerstörenden Gewalten keinen
Widerstand leisten zu können. Industrielle Unternehmungen aller Zweige
mußten ihren Betrieb einstellen, Hunderttausende von Arbeitern"
wurden in Europa und Amerika entlassen, "die Preise der
Industrieerzeugnisse sanken in einem nicht vorauszusehenden Grade, die
Fallimentsstatistik von Nordamerika, Deutschland und Österreich gibt
Ziffern, deren Höhe geradezu erschreckend ist". Mit
unbestechlicher Genauigkeit verzeichneten die "Übersichten"
seither Jahr für Jahr sowohl die Dauer der Depressionsphasen als auch
die wenigen Hochschwungsjahre.
In England und Frankreich, in Belgien
und Österreich stimmten Kenner der wirtschaftlichen Entwicklung mit
diesem Urteil überein ...
H.-U. Wehler: Bismarck und der
Imperialismus, S. 43-45 |