Die Arbeiterfrage und das Christentum

1864 Bischof von Ketteler

  Die sogenannte Arbeiterfrage ist in ihrem Wesen Arbeiterernährungsfrage. Sie ist daher erstens so wichtig wie die Ernährung, d.h. die Beschaffung der notwendigsten Lebensbedürfnisse, der Nahrung, der Kleider, der Wohnung. Sie ist zweitens so wichtig wie die Zahl der Arbeiter selbst im Verhältnis zu allen anderen Ständen. Ihrem Gegenstande nach beschäftigt sie sich also mit den allerwesentlichsten Bedürfnissen der Menschen. Ihrem Umgange nach umfasst sie den weitaus größten Teil des ganzen Menschengeschlechtes.
Die Arbeiterfrage hat daher eine ganz andere Bedeutung als alle sogenannten politischen Fragen. Wer die Kammerverhandlungen und die Tagespresse hört, sollte glauben, dass die politischen Fragen das Allerwichtigste seien, was die Menschen angeht,. Dass sie die wichtigsten und wesentlichsten Anliegen der Menschen betreffen. Das ist die größte Täuschung ...
Das, was diese Masse des Volkes, was diese Arbeiter und Arbeiterfamilien vom Morgen bis zum Abend denken, sagen und empfinden, was sie und ihr Leben wahrhaft angeht, was ihre Lage und ihre wesentlichsten Lebensbedürfnisse verbessert und verschlechtert, wird in Wahrheit in allen politischen Tagesfragen kaum berührt ...
Mögen im einzelnen die Absichten vieler Mitglieder dieser Parteien noch so wohlwollend sein, und mag auch hie und da ihr Wissen die Lage der Arbeiter vorübergehend und in beschränktem Maße verbessern, so sind doch alle ihre Vorschläge nicht entfernt imstande, die Gesamtlage des Arbeiterstandes vor einem immer größerem Ruin zu bewahren, geschweige zu verbessern. Wenn es keine anderen Potenzen mehr in der Welt gäbe als jene, welche uns die große liberale und die radikale Partei vorschlagen, so ginge Deutschland dem Zustande entgegen, wo wir es in 2 Hälften teilen können, in die reichen Börsenmanager und Spekulanten mit allen ihren Schmarotzern und die von ihnen absolut abhängigen Arbeitermassen, die Proletarier.
Gibt es dagegen keine Mittel mehr? Müssen wir unser deutschen Volk dieser neuen Sklaverei entgegengehen lassen und ruhig zusehen, wenn man noch dazu diesem Volke den Wahn beibringt, dass dieser Zustand Fortschritt, Freiheit, Aufklärung und Glückseligkeit sei?
Gewiß nicht. Das Christentum hat mit seinem schöpferischen Geiste .... alle großen Fragen gelöst. Auch jene, soweit es auf Erden möglich ist, die mit der Not und Ernährung der Menschen zusammenhängen... Das Christentum hat den Geist der Sklaverei gebrochen. Das schien wahrhaft unmöglich...
Der antichristliche Zeitgeist ist auf dem besten Wege, das alte Sklaventum in neuer Form wiederherzustellen, und er wird dabei von eier ungläubigen, materialistischen Wissenschaft unterstützt... Die Wucht dieser Entwicklung liegt aber auf dem Arbeiterstand. Da ist es wieder die Aufgabe des Christentums die Welt auch von dieser neuen Form der Sklaverei zu befreien und an dieser Aufgabe ihre göttliche Kraft und ihr ewig neues Leben zu bestätigen.
Vor allem will ich den allgemeinen Gedanken hier förmlich an die Spitze stellen, dass das Christentum und die Kirche auf die sozialen Verhältnisse nicht unmittelbar und durch äußere, mehr oder weniger mechanische Mittel und Einrichtungen, sondern zunächst und vorzüglich durch den Geist einwirkt, den es den Menschen einflößt...
Die ... Ursachen der damaligen Lage der Arbeiter sowie die Bösartigkeit der aus diesen Ursachen hervorgegangenen Wirkungen und Folgen haben ihren wesentlichen und tiefsten Grund in dem Abfall vom Geiste des Christentums, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Weil die Geister nicht mehr von den höchsten und ewigen Wahrheiten erleuchtet sind, darum sind sie auch auf den niederen menschlichen Gebieten der politischen und sozialen Fragen tragischen Prinzipen, abstrakten Einseitigkeiten und jenem liberalem Fanatismus anheim gefallen, der, ohne Verständnis für den lebendigen Organismus der Gesellschaft wohl eine große Macht besitzt, aufzulösen und zu zerstören, aber nicht erbauen kann. Weil ferner nicht mehr der Geist und die Kraft des Christentums den Egoismus und seine Leidenschaften im Zaune hält, darum sehen wir auf dem sozialen Gebiete sich so gefahrdrohende Zustände entwickeln. Hier kann und wird daher die Heilung nur von innen heraus erfolgen. In dem Maße, als die göttlichen Wahrheiten des Christentums wieder die Geister erleuchten, wird man auch auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und dem ihm so nahe verbundenen der Politik die richtigen Prinzipen und die rechte Weise ihrer Durchführung, man wird mit der göttlichen auch die wahre politische und soziale Weisheit wiederfinden...