Rosa Luxemburg 

Brauchen wir Kolonien? 

   

Die neuen Flotten- und Kolonialpläne werden bekanntlich vor allem mit den Interessen unseres Handels begründet. Demgegenüber muss man immer und immer wieder mit Mr. Bounderby aus Dickens "Harten Zeiten" rufen: Tatsachen und Zahlen! Zahlen und Tatsachen!

Die neuesten statistischen Daten über Deutschlands auswärtigen Handel, veröffentlicht in der offiziellen "Statistik des Deutschen Reichs", werfen wieder ein sehr interessantes Schlaglicht auf die Frage. Unser Warenverkehr mit den einzelnen Weltteilen stellte sich 1898 dar:

in 1000 Mark

 

Einfuhr von

Ausfuhr nach

Europa

3577999

3429917

Amerika

1329216

541774

Asien

339336

172157

Afrika

101168

67362

Australien

88295

35081

 

 

 

 

 

 

Mehr als neun Zehntel unseres gesamten Außenhandels entfallen also auf die europäischen Länder und Amerika, mit denen wir weder mittels Torpedobooten die Handelspolitik angeknüpft haben noch sie auf diesem Wege erweitern oder befestigen können. Die Ausdehnung unseres Warenverkehrs mit diesen Ländern stand vielmehr immer in direktem Zusammenhang mit unserer Handelspolitik. Charakteristisch hierfür ist im besonderen auch wieder der Rückgang unserer Ausfuhr nach Amerika von 609 Millionen Mark im Jahre 1897 auf 541,8 Millionen M im Jahre 1898, zweifellos infolge der prohibitiven Zollpolitik für Industrieerzeugnisse, die auf Seiten der Vereinigten Staaten ein Korrelat zu unserer agrarischen Schutzzöllnerei darstellt.

Noch interessanter ist es aber, zu erfahren, daß auch in dem Erdteil, wo wir bereits Kolonien haben, diese "Schutzgebiete" für unseren Handel nur im geringsten Maße in Betracht kommen. Der deutsche Warenverkehr mit den wichtigsten Gebieten Afrikas entwickelt sich im letzten Jahrzehnt folgendermaßen:

 

 

Einfuhr von

Ausfuhr nach

 

1889

1898

1889

1898

 

 in Millionen Mark

Ägypten

2,0

24,6

2,9

11,7

Kapland

13,6

19,8

7,5

14,7

Britisch-, Französisch- und Portugiesisch-Westafrika

16,1

33,4

4,4

11,3

Britisch-, Französisch- und Portugiesisch-Ostafrika

2,9

5,5

1,3

3,0

Deutsch-West- und -Südwestafrika

4,4

3,8

4,2

7,3

Deutsch-Ostafrika

0,3

0,6

0,3

3,3

 

 

 

 

 

 

 

 

Gegenüber dem Handel mit Ägypten, Kapland und den englischen, französischen und portugiesischen Gebieten in Afrika spielen demnach unsere eigenen Kolonien eine winzig kleine Rolle.

Was aus den obigen Tatsachen und Zahlen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hervorgeht ist, dass unserem auswärtigen Handel unsere ganze Schlachtflotte ruhig gestohlen werden kann. Will man in Weltpolitik machen, dann berufe man sich wenigstens nicht heuchlerisch auf "Handelsinteressen" .

Leipziger Volkszeitung vom 4. 12, 1899, zit. nach R. Luxemburg: Gesammelte Werke, Berlin 1970, Bd. 1, S. 642f.