Rudolf Stadelmann zur Revolution von 1848

 
Man wird aber zum Schluß noch einmal unterstreichen müssen, daß nur auf dem Umweg über die Ideologie die sozialen Ursachen der Revolution von Gewicht geworden sind. Nicht der gesellschaftliche Notstand an sich, wohl aber das Durchdrungensein von dem Bestehen eines Notstandes hat revolutionierend gewirkt. Und dieses Aufmerksamwerden auf ein soziales Problem hat sich nicht zuerst bei den Betroffenen, sondern bei den Betrachtenden gerührt. Wo immer in Handwerker- und Gesellenvereinen, in Turnvereinen und Lesezirkeln während der vierziger Jahre ein politisch-radikaler Einschlag zu spüren ist, da sind es bürgerliche Intellektuelle, Journalisten und Advokaten, abgesprungene Theologen und Buchhändler, die das Feuer entzünden. Die Demokratie ist nicht eine Forderung des Arbeiterstandes gewesen, sondern die soziale Frage war ein Bestandteil der bürgerlichen Demokratie. Die Zahl der Gesellen und Handwerksmeister oder gar der Arbeiter in der Fabrik und Landwirtschaft, welche eine aktive Kritik an den herrschenden Zuständen entwickelten, ist sehr beschränkt gewesen. Wir kennen sie beinahe alle mit Namen oder finden doch ihre Spur in den Listen der vormärzlichen Polizei, welche sich sogar die Bestellerlisten der anrüchigen Zeitungen von kleinen Postämtern melden ließ und daraus über die verborgensten Zellen der Opposition Bescheid wußte. Wenn man im Zeitraum von 1815 und 1848 nach anonymen Massen Ausschau hält, die das Geschehen unterirdisch bestimmt haben, so muß man sie weniger in gewerblichen Kreisen als vielmehr im Bauernstand suchen. Dort ist in der Tat ein sozialer Gärungsstoff angehäuft, der in spezifisch deutschen Verhältnissen seinen Ursprung hat und auf verjährte Mißstände zurückgeht, mit denen auch der aufgeklärte bürgerliche Obrigkeitsstaat ... nicht fertig geworden ist.
 

Aus: Stadelmann, R., Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 1962, S. 3