Schreiben Jérôme Bonapartes an Napoleon vom 5.12.1811

  Da ich eine Stellung einnehme, die mich zu einer vorgerückten Schildwache Frankreichs gemacht hat, und sowohl aus Neigung als auch aus Pflicht alles überwache, was die Interessen Eurer Majestät betrifft, so halte ich es für schicklich und notwendig, dass ich Eure Majestät freimütig über alles unterrichte, was ich um mich herum beobachte. Ich beurteile die Ereignisse mit Ruhe und betrachte die Gefahren, ohne sie zu fürchten, jedoch muss ich Eurer Majestät die Wahrheit sagen und wünsche, dass sie genügend Vertrauen zu mir haben, um sich auf den Standpunkt zu stellen, wie ich die Dinge ansehe.

Ich weiß nicht, Sire, unter welchem Gesichtspunkt Ihre Generale und Agenten die öffentliche Meinung in Deutschland betrachten. Wenn sie von Unterwerfung, Ruhe und Schwäche sprechen, so täuschen sie sich und Eure Majestät. Die Gärung ist auf dem höchsten Grad angelangt. Man gibt sich den verrücktesten Hoffnungen hin und ist überaus begeistert. Man nimmt Spanien zum Beispiel, und falls der Krieg [mit Russland] ausbrechen sollte, werden alle zwischen Rhein und Oder gelegenen Gegenden der Schauplatz einer ausgedehnten und lebhaften Erhebung werden.

Der Hauptgrund dieser gefährlichen Bewegungen ist nicht nur der Hass gegen die Franzosen und die Ungeduld, das fremde Joch abzuschütteln; es ist vielmehr im Unglück der Zeiten begründet, in dem völligen Ruin aller Klassen, in der Vermehrung der Steuern und Kriegsbeiträge, dem Unterhalt der Truppen, dem Durchmarsch der Soldaten und der ständigen Wiederkehr von einer Unzahl von Plackereien aller Art. Die Verzweiflung der Völker, die nichts mehr zu verlieren haben, da ihnen alles genommen wurde, ist zu fürchten. Aber nicht nur in Westfalen und in den Frankreich einverleibten Ländern wird diese Feuersbrunst ausbrechen, sondern bei allen Herrschern des Rheinbundes. [...]

Eure Majestät möge nicht glauben, dass ich übertreibe, wenn ich von den Widerwärtigkeiten der Völker spreche. Ich muss Ihr sagen, dass in Hannover, Magdeburg und den hauptsächlichsten Städten meines Königreichs die Besitzer ihre Häuser verlassen und vergeblich versuchen, sie zu einem ganz niedrigen Preis zu verkaufen. Überall ist Elend in die Familien eingedrungen, die Kapitalien sind erschöpft. Der Adelige, der Bürger und der Landmann, mit Schulden und Verpflichtungen überhäuft, scheinen keine andere Hilfe zu erwarten als die Wiedervergeltung, die sie mit allen Fasern ihres Herzens ersehnen und auf die alle ihre Gedanken gerichtet sind.

Diese Schilderung ist in allen Stücken wahrheitsgetreu. Keiner der tausend Berichte, die mir täglich zugehen, widerspricht dem. Ich wiederhole es Eurer Majestät und ersehne es heiß, dass Sie die Augen vor diesem Zustand öffne und dass sie darüber mit der ganzen Überlegenheit ihres Geistes urteile, um Maßnahmen und Vorsichtsmaßregeln dagegen zu treffen, die Sie für geeignet hält.