Heinrich von Treitschke über Kolonien

  Wenn man behauptet, die Auswanderung der Deutschen nach Amerika sei für uns ein Vortheil, so ist das eine Thorheit. Was hat Deutschland davon gehabt, daß Tausende seiner besten Söhne, die in der Heimat ihren Unterhalt nicht finden konnten, dem Vaterland den Rücken gekehrt haben? Sie sind ihm für immer verloren gegangen ... Fast ein Drittel der nordamerikanischen Bevölkerung ist deutschen Ursprungs. Wie viele der köstlichsten Kräfte haben wir durch die Auswanderung eingebüßt und büßen wir noch täglich ein, ohne dafür auch nur den geringsten Ersatz zu bekommen. Arbeitskraft wie Capital der Auswanderer ist für uns verloren. Welche unermeßlichen finanziellen Vortheile würden diese Leute uns als Kolonialisten bieten. 

So ist jene Kolonisation, welche das einheitliche Volksthum erhält, für die Zukunft der Welt ein Factor von ungeheurer Bedeutung geworden. Von ihr wird abhängen, in welchem Maße jedes Volk an der Beherrschung der Welt durch die weiße Rasse theilnehmen wird; es ist sehr gut denkbar, daß einmal ein Land, das keine Kolonien hat, gar nicht mehr zu den europäischen Großmächten zählen wird, so mächtig es sonst sein mag. Darum dürfen wir nicht in jenen Zustand der Erstarrung kommen, der die Folge einer rein festländischen Politik ist, und das Ergebniß unseres nächsten glücklichen Krieges muß womöglich die Erwerbung irgend einer Kolonie sein. 

Aber nicht nur Ackerbaukolonien, auch andere sind für das Mutterland von großer Bedeutung. So die Pflanzungskolonien, in denen dauernder Aufenthalt europäischer Völker nicht möglich ist, wo aber Eingeborene im Dienst des Mutterlandes arbeiten und die kostbaren Pflanzungsproducte liefern. Wer von Cleve über die holländische Grenze geht und nach Nimwegen kommt, der kann sich sinnlich vergegenwärtigen, welche wirthschaftlichen Wunder in den Tropen möglich sind. Cleve ist ein ganz wohlhäbiges Mittelstädtchen, von Armuth kann dort keine Rede sein; kommt man dann aber nach Nimwegen, so ist man mit einem mal in einer anderen Welt: überall prächtige Villen mit Säulen und Freitreppen! Das ist der Reichthum Indiens, Javas und Sumatras; überall ein Luxus, von dem man in deutschen Mittelstädten gar keinen Begriff hat.

aus: Treitschke, H.v., Politik, Vorlesungen, Bd. 1. Leipzig 1897, S. 123ff.