|
Auszug aus einer Aktennotiz
Vizeadmirals von Capelle, eines Mitarbeiters von Tirpitz, vom Oktober
1911
Ein Wettrüsten hält England weniger aus als wir,
weil es sich auf den two keels standard festgelegt hat [es folgt die
Aufzählung der Finanzgründe, die dem entgegenstehen]. Aber auch aus
politischen Gründen kann England das Wettrüsten, das eine Massierung
seiner Streitkräfte in der Nordsee bedingt, auf die Dauer nicht durchführen.
Ist Krieg und Wettrüsten für England ausgeschlossen, bleibt ihm nur
Verständigung übrig. Nicht wir sind dazu gezwungen, sondern England.
Nicht England hat die Trümpfe in der Hand, sondern wir. Wir brauchen
nur geduldig zu warten, bis unser jetziges Flottengesetz durchgeführt
ist. Bis dahin wird man auch in England die Situation sehr viel klarer
übersehen als heute. England muß und wird im Laufe der nächsten Jahre
für Deutschland und gegen Frankreich optieren, weil dies im
ausgesprochenen englischen Interesse liegt. [Dieser Satz ist von Capelle
am Rande zweimal angestrichen. Nachdem die Nachteile eines Bündnisses
mit Frankreich für England erläutert worden sind, fährt die Notiz
fort]. Ganz anders ein Bündnis mit Deutschland! Ein solches gibt
England mit einem Schlage seine Weltmachtstellung zurück [sic!] und
vollkommene Sicherheit gegen jeden Angriff zu Wasser und zu Lande. Unser
Verhalten: kalte Schulter zeigen und England nicht nachlaufen! England
muß und wird uns kommen. Auf welcher Basis kann eine Verständigung
zustande kommen: Zunächst politisch: offener, aller Welt bekannter Bündnisantrag.
Die Öffentlichkeit soll für beide Nationen eine gewisse Garantie
bieten. Militärisch zunächst auf der Basis unseres jetzigen
Flottengesetzes. Keine weiteren Erhöhungen desselben! Einer späteren
Zukunft muß es überlassen bleiben, ob unser Verhältnis zur übrigen
Welt uns gestattet, unser jetziges Flottengesetz pari passu mit England
zu verringern ... Die ‿Flottenpolitik ist die Großtat Seiner
Majestät Regierung. Wird sie gekrönt durch ein Bündnis mit England,
das uns volle politische und militärische Gleichberechtigung sichert,
ist ein erster großer Erfolg errungen. Kommt dagegen nur eine societas
leonina zustande, so hat die Flottenpolitik Fiasko gemacht und die
Geschichte wird ihr historisches Verdikt über dieselbe sprechen.
Zit. nach W. Hubatsch: Die Ära Tirpitz, Göttingen
1955, S. 92
|